Das Traum-Indonesien mal anders

Während die Touristen sich an den Traumstränden sonnen, werden Indonesierinnen für „Vergehen“ öffentlich ausgepeitscht. - Fotos: Imago/Westend/Zuma Press; Fachrul Reaz/Imago/Zuma Press
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Im Sommer wurde eine 15-jährige Indonesierin aus Sumatra zu sechs Monaten Gefängnis und anschließendem Arbeitsdienst verurteilt. Ihr „Verbrechen“: Sie war von ihrem älteren Bruder wiederholt unter Schlägen vergewaltigt worden und hatte die daraus resultierende Schwangerschaft abbrechen lassen. Abtreibungen sind in Indonesien verboten, außer in streng geregelten Ausnahmefällen. Die Staatsanwaltschaft erwägt, in Berufung zu gehen. Sie findet ein halbes Jahr Gefängnis für die 15-Jährige zu milde.

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Einer Statistik der „Nationalen Kommission für Frauenrechte“ zufolge, wird mindestens alle 40 Minuten eine Indonesierin Opfer sexueller Gewalt. Die Fälle, die öffentlich werden, sind nur die Spitze des Eisbergs. Das indone­sische „Institut für Strafjustizreform“ (ICJR) geht davon aus, dass 96 Prozent aller Fälle von sexueller Gewalt in Indonesien nicht bekannt werden, da die Opfer sie nicht anzeigen. Zu groß sei die Angst vor Stigmatisierung.

In einem bekannt gewordenen Fall brachte sich ein Vergewaltigungsopfer in Medan um, nachdem die Polizei die Frau bedrängt hatte, „Frieden“ mit ihrem Vergewaltiger zu schließen. Vor zwei Jahren wurde ein 14-jähriges indonesisches Mädchen von einer Gruppe Jugendlicher und erwachsener Männer solange vergewaltigt, bis sie tot war. Ausgerechnet der Ministerin für die „Ermächtigung (pemberdayaan/em­po­wer­ment) von Frauen und Kinderschutz“ (sic!) fiel nichts Besseres ein, als die Eltern des Opfers zu beschuldigen: Wenn sie sich um ihre Kinder gekümmert hätten, statt beide arbeiten zu gehen, wäre das nicht passiert.

Man könnte einen Text über Frauen in dem 255-Millionen-Einwohner-Staat auf 17.508 Inseln allerdings auch ganz anders beginnen. Man könnte etwa schreiben, dass Indonesien Vorreiter für die Rechte von Frauen in der gesamten muslimischen Welt ist. Das wäre nicht vollkommen falsch. Bei einer Tagung im Sommer in der Hauptstadt Jakarta wurde genau diese These vertreten. Das Thema war die Reform des Familienrechts in muslimischen Ländern.

Eine prominente Vertreterin des muslimischen Feminismus, Lies Marcoes, befand, dass andere muslimische Länder von Indonesien lernen können. Erstens, weil im indonesischen Familienrecht die Frau „als Subjekt und Objekt“ aufgefasst werde. Und, zweitens, weil das Nachdenken über das Verhältnis von Geschlecht und Religion in Indonesien am fortschrittlichsten sei.

Das ignoriert jedoch, wie sich die Situation von Frauen in Indonesien in den letzten Jahren verschlechtert hat; nicht zuletzt unter dem Einfluss Saudi-­Arabiens, das seine steinzeitliche Interpretation des Islams nach wie vor in der ganzen muslimischen Welt finanzkräftig verbreitet.

Als 1998 der Diktator Suharto nach über dreißig Jahren an der Macht zurücktreten musste und eine Ära der Demokratisierung begann (Reformasi), hatten nicht zuletzt viele Indonesierinnen große Hoffnungen. Unter der Diktatur waren Frauen ideologisch auf eine Art „Staatsmuttertum“, die Rolle der Mutter im Dienste des Aufbaus der Nation festgelegt worden. Nach Suhartos Fall brach in der Tat eine neue Freiheit an. Schriftstellerinnen wie Ayu Utami und Dee Lestari thematisierten offen die Sexualität von Frauen. Dutzende von Regisseurinnen traten auf den Plan.

Von 2001 bis 2004 wurde Indonesien sogar von der ersten und bisher einzigen Präsidentin regiert, Megawati Sukarnoputri, eine Tochter des Staatsgründers. Noch 2004 gelang es einer breiten Koalition von Frauengruppen, ein Gesetz gegen häusliche Gewalt durchzusetzen.

Aber wie so häufig in der muslimischen Welt, entpuppten sich die Feinde der Demokratie, allen voran islamistische Gruppierungen, als weitaus besser auf die neuen Freiheiten vorbereitet als Demokraten und Feministinnen. Seither sind engagierte indonesische Frauen zusammen mit dem Rest der liberalen Kräfte des ­Landes in die Defensive geraten.

Das ist das indonesische Paradox: Suharto hatte zwar eine reaktionäre Frauenpolitik verfolgt, aber gleichzeitig auch die Islamisten in Schach gehalten. Sein Regime hatte zumindest bis in die 1980er-Jahre streng darauf geachtet, dass Religion privat blieb. Politische Interpretationen des Islams wurden untersagt. So schaffte ausgerechnet der Autokrat einen Raum für eine moderate, tolerante Interpretation des Islams. Spielraum gab es auch in der Genderfrage. Die so genannten „muslimischen Feministinnen“ wie Lies Marcoes sind Töchter dieser Zeit.

Von der Vielfalt der Diskussion um den Islam, die in Indonesien bis in die frühen 1990er-Jahre geherrscht habe, sei nichts mehr übrig geblieben, klagt Ommy Madjid, eine engagierte Verteidigerin der moderaten Tradition des indonesischen Islams, im Gespräch mit EMMA. „Jetzt höre ich nur noch: ‚Das ist verboten (haram)! Das ist verboten! Das ist verboten!“.

88 Prozent der IndonesierInnen sind MuslimInnen. Der Protestantismus, eine Minderheit von etwa 7 Prozent, ist vollständig von Evangelikalen, den christlichen Fundamentalisten, gekapert worden. Schon 2003 versuchten die Islamisten, die islamische Rechtsordnung, die Scharia, auf nationaler Ebene durchzusetzen. Das misslang, doch schnellte die Zahl von so genannten „Scharia-inspirierten“ Lokalgesetzgebungen in Indonesien seither explosionsartig in die Höhe.

Diese so genannten Perda-Syariah-­Gesetze schränken vor allem das Leben von Frauen ein. Das reicht vom Kopftuchzwang in öffentlichen Gebäuden, Schulen und Universitäten (zum Teil auch für Nicht-Musliminnen), bis hin zum abendlichen Ausgehverbot für Frauen ohne männliche Begleitung. Westliche Experten gehen von knapp 450 Fällen solcher Scharia-inspirierten Lokalgesetze in Indonesien aus, konservativ geschätzt.

In diesem Jahr stehen noch nationale Gesetzesänderungen an, die dramatische Folgen für indonesische Frauen haben werden. So soll künftig jeglicher vorehelicher und außerehe­licher Sex bestraft werden. Lesbische und bisexuelle Frauen würden damit automatisch kriminalisiert, schwule Männer auch. Lokale NGOs gehen davon aus, dass Vergewaltigungsopfer künftig noch drastischer zu Täterinnen gemacht würden. Wenn Frauen ihre Vergewaltigung nicht „beweisen“ können, würde man ihnen nach dem geplanten neuen Gesetz die Straftat „außerehelicher Sex“ vorwerfen.

Typisch für die vorherrschende Stimmung ist ein aktueller Werbefilm. Darin hat ein junger Indonesier auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch gleich doppelt „Pech“. Erst springt sein Motorrad nicht an, dann entpuppt sich der Fahrer des Online-Taxis, das er bestellt, auch noch als junge Frau. „Natürlich“ hat die keine Ahnung vom Autofahren, und er kommt viel zu spät zu seinem Termin. Hätte er nur Geld in das neue Motorrad-Öl investiert!

Indonesische Feministinnen haben reichlich zu tun. Etwa den Kampf gegen Kinderheirat und (Sexual)Gewalt, die beiden Hauptanliegen, wie Riri Khariroh von der „Nationalen Kommission für Frauenrechte“ (Komnas Perempuan) jüngst erklärte. Doch ­während sich in weiten Teilen der west­lichen Welt Frauen von „MeToo“ ermutigt fühlen, diskriminierende Erfahrungen öffentlich zu machen, bleibt das Thema in Indonesien bis heute Tabu.

„Oh, wir hätten alle Geschichten zu erzählen über sexuelle Belästigung oder Gewalt“, sagt Devi Asmarani, eine der Gründerinnen der feministischen Webseite magdalene.co. Nur: Ein Problem, darüber zu reden, sei der automatisierte Reflex der Gesellschaft, die Frauen dafür verantwortlich zu machen. Das zweite Problem seien die indonesischen Gesetze gegen „Beleidigung in digitalen Medien“, sobald Namen genannt oder auch nur angedeutet werden.

Und die Islamisten sind beileibe nicht das einzige Problem. So klagt die Schriftstellerin Feby Indriani: „Ich habe jahrelang für einen Fernsehsender gearbeitet, der nicht-muslimischen Besitzern gehört. Und meine Erfahrung ist, dass die besonders vorsichtig sind, um nicht den Zorn ultra-konservativer Muslime auf sich zu ziehen.“ Diese ­Vorsicht ist nachvollziehbar vor dem Hintergrund, dass die Zahl von Verurteilungen wegen „Blasphemie“ seit der Demokratisierung des Landes steil in die Höhe gegangen ist.

Der bekannteste christliche Politiker Indonesiens, der chinesisch-stämmige Ex-Gouverneur der Hauptstadt Jakarta, sitzt seit 2017 wegen „Beleidigung des Korans“ im Gefängnis. Sein Vergehen? Er hatte auf einer Wahlkampfveranstaltung gesagt, die Wähler sollten nicht auf seine Gegner hören, die Verse einer Koransure, Al-Ma‘idah 5:51, gegen ihn ins Feld geführt hatten. In ihrer konservativen Interpretation verbietet diese Sure Muslimen die Wahl von Nicht-Muslimen.

2015 scheiterte der Versuch indonesischer Frauenrechtlerinnen vor dem Verfassungsgericht, das Mindestalter für die Ehe für beide Geschlechter auf 18 anzugleichen. Seit 1974 liegt es bei 16 Jahren für Mädchen und 19 Jahren für Jungen. Wenn die Eltern zustimmen, können Mädchen auch schon mit deutlich unter 16 Jahren verheiratet werden. Jede vierte Indonesierin (23 %) heiratet bzw. wird verheiratet, bevor sie 18 Jahre alt ist. In manchen Gegenden der Hauptinsel Java gelten 17-jährige Mädchen bereits als „alte Jungfern“.

Im April ging ein Fall durch die lokalen Medien, in dem ein 30-jähriger Mann eine Fünftklässlerin heiraten wollte – mit Einwilligung der Eltern des 12-jährigen Mädchens. Von den Mädchen, die so jung heiraten, kann nur jede zehnte ihre Schulausbildung fortsetzen. Nur jede dritte hat Zugang zu Verhütungsmitteln. Die Rate der Müttersterblichkeit liegt bei über 200 Todesfällen pro 100.000 Geburten.

Islamistische Kampagnen drohen unverheirateten Jugendlichen, die Sex haben, und ihren Eltern ein Nachleben in der Hölle an. Nicht nur auf der Ferieninsel Lombok, direkt neben Bali, sind die Fälle der Entführungen von Mädchen, um sie zur Heirat zu zwingen, in den letzten Jahren steil in die Höhe gegangen. Selbst gebildete Eltern stimmen inzwischen der Heirat von minderjährigen Töchtern zu, weil die sozialen Sanktionen für uneheliche Schwangerschaften so extrem sind.

Vergleichbare Tendenzen gibt es auch in christlichen Gegenden Indonesiens, denn die sind so gut wie vollständig von fundamentalistischen Evangelikalen übernommen worden. Was im Übrigen zeigt, wie realitätsfern der Ratschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist: Wer Angst vor dem Islam habe, solle doch lieber selbst häufiger in die Kirche gehen. In Indonesien jedenfalls führt das Zusammentreffen zweier steinzeitlicher Glaubensbekenntnisse nur zur wechselseitigen Radikalisierung.

Da wird es nicht überraschen, dass die Frauen in der Politik stark unterrepräsentiert sind. Im nationalen indonesischen Parlament DPR liegt der Anteil weiblicher Abgeordneter bei 17 Prozent. Und das, obwohl es offiziell eine Quote von 30 Prozent für weibliche Kandidaten gibt, immerhin. Stark unterpräsentiert sind Frauen auch in Führungspositionen in Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft.

Polizei und Militär führen auch im Jahr 2018 weiterhin „Jungfräulichkeitstests“ („Zwei-Finger-Tests“) bei Bewerberinnen durch. Die Frage, warum Jungfrauen zum Beispiel bessere Polizistinnen abgeben sollten, bleibt unbeantwortet.

Doch das Schockierendste ist die weit verbreitete Genitalverstümmelung. So geht UNICEF in einer Studie von 2016 davon aus, dass weltweit mindestens 200 Millionen Frauen verstümmelt wurden, die Hälfte der Betroffenen lebt in drei Ländern: An der Spitze Indonesien, gefolgt von Ägypten und Äthiopien. Jede zweite Indonesierin ist vor ihrem 15. Lebensjahr „beschnitten“ worden. Anders als in Afrika werden indonesische Mädchen inzwischen mehrheitlich von medizinisch ausgebildetem Personal genital verstümmelt. Viele Kliniken bieten sogar einen Paketpreis an, der die Geburt und die Beschneidung weiblicher Säuglinge beinhaltet.

Doch trotz dieser düsteren Entwicklung ist auch die Tradition des moderaten und synkretistischen Islams in Indonesien tief verwurzelt. Der islamistische Coup gegen Frauenrechte und Demokratie hat sich über Jahre und Jahrzehnte vollzogen, aber noch nicht vollständig gesiegt. So gibt es in der Hauptstadt Jakarta wie in der Studenten-Stadt Yogyakarta eine ganze Reihe feministischer Frauenkollektive, die einander unterstützen. Sobald sie freilich an die Öffentlichkeit treten wollen, müssen sie damit rechnen, dass Islamisten ihre Veranstaltungen gewalttätig verhindern, häufig mit Unterstützung der Polizei.

Trotzdem ist der indonesischen Frauenbewegung gerade ein kleiner, Mut machender Erfolg gelungen: Das Urteil wegen illegaler Abtreibung gegen das vergewaltigte 15-jährige Mädchen, mit dem dieser Artikel begann, wurde aufgehoben: Zu verdanken ist das der Solidaritätskampagne in Indonesien und der Aufmerksamkeit einiger westlicher, vor allem englischsprachiger Medien.

Ob Frauen und liberale Kräfte in Indonesien den Kampf gegen ihre fundamentalistischen Gegner noch einmal grundsätzlich wenden können, hängt nicht nur von den Entwicklungen im Land selbst ab. Es wird auch davon abhängen, ob sich westliche Feministinnen und Demokraten als ihre Verbündete verstehen – oder ob sie meinen, über Frauenrechte in mehrheitlich muslimischen Ländern solle man lieber schweigen.

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