Ankunft in einem fremden Land

Gislinde Schwarz: "Zuerst nach Gomera. Dann mit dem Rucksack durch die Wüste."
Gislinde Schwarz: "Zuerst nach Gomera. Dann mit dem Rucksack durch die Wüste."
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"Ent-Täuschung tut weh. Aber sie ist eine Chance. Wenn wir nicht ­verdrängen – nicht unsere Irrtümer, nicht unsere Träume, nicht unsere Schuld und vor allem: Nicht unseren Mut. ­Lang­sames Erheben, keine Halbwahrheiten mehr. Mich wehren. Für mein Leben bin ich verantwortlich. Jetzt werde ich den BRD-Alltag kennen lernen – mit dem ­großen Vorteil, vergleichen zu können. Ich bin neugierig …"

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Diese Zeilen habe ich im September 1990 geschrieben. Wenige Tage nachdem ich sie abgeschickt hatte, fand in der ­Redaktion der ostdeutschen Frauenzeitschrift, bei der ich seit zehn Jahren angestellt war, eine Sitzung statt. In der ­Wendezeit hatten wir – eine Handvoll Redakteurinnen – die alte Chefredaktion gestürzt, hatten versucht, aus der Für Dich eine feministische Ost-Stern-Spiegel-EMMA zu machen. Nun war der Verlag an einen Medienkonzern verkauft worden. Die vom neuen Besitzer eingesetzte stellvertretende Chefredakteurin stellte ihr neues Konzept vor. Kurz und knapp im Tina-Verschnitt: Frisuren, Mode, Kochen, Kosmetik, "bewegende Schicksale" – alles auf dem West-Markt bewährt und ­erprobt.

Nun war der Verlag an einen Medienkonzern verkauft worden

Noch glaubten wir, darüber diskutieren zu können. Die Antwort aber kam unmissverständlich: Ab sofort wird nach diesem Konzept gearbeitet. Wer das nicht will, kann ja gehen.

Ich war 37 Jahre alt, Diplom-Journalistin und stellvertretende Ressortleiterin. Eine Nacht und einen Tag habe ich überlegt und gegrübelt. – Dann teilte ich der Chefredaktion mit, dass ich eine nochmalige Wendung der Für Dich nicht mittrage.

Keine leichte Entscheidung: Ich war ­alleinerziehende Mutter, meine Söhne waren 14 und elf Jahre alt. Der ostdeutsche Zeitungsmarkt um mich herum brach ­gerade zusammen. Redaktionen schlossen, Journalisten wurden massenweise entlassen. Sollte ich mich irgendwo bewerben? Die Chancen standen gleich Null. Eine Umschulung? Ich entschied mich für das, was ich gelernt hatte und konnte – ich wurde freiberufliche Journalistin.

Noch gut erinnere ich mich an das erste Treffen mit Westberliner Kolleginnen. Ende 1989 saßen wir uns beim Stammtisch des Journalistinnenbundes gegenüber und beäugten uns. Der Abend begann mit einer Vorstellungsrunde. Wo waren sie nicht überall gewesen, diese Frauen, was hatten sie alles probiert und getan! Fast alle arbeiteten frei. Wie langweilig dagegen ­unsere Biografien: Alle fest angestellt, kaum ein Wechsel. "Erzählt doch auch mal von euren Familien und den Kindern!" Auf diese Frage erntete ich Schweigen. Von ­unseren Gastgeberinnen hatte nur eine einzige ein Kind. Auf unserer Seite war keine einzige kinderlos, eine hatte sogar vier.

Und doch: Gerade diese Kolleginnen waren es, die mir Mut machten. Mut, loszulaufen und neue Gebiete zu betreten, aber auch mit ganz praktischen Tipps: den Umgang mit Steuern und Versicherungen, die Handhabung von Rundfunktechnik und vor allem Anlaufstellen und Kontakte.

Anfang 1992, genau zu meinem 39. ­Geburtstag, kam ein Brief. Ihm sei zu Ohren gekommen, dass ich eine ABM-Stelle habe und nebenbei freiberuflich Geld verdiene, schrieb mein Geschie­dener. Vom Gesetzgeber sei dies keinesfalls so vorgesehen. Außerdem hätte er den Eindruck, ich würde die Kinder zu oft allein lassen, sie durch mein beruf­li­ches Engagement vernachlässigen. Ihm sei geraten worden, das Jugendamt einzuschalten. Vorsorglich kürzte er erst einmal die Unterhaltszahlungen.

Der Grund für seine Wut: Ich hatte ihn um eine Gehaltsbescheinigung gebeten, wollte Klarheit, wie viel Unterhalt den Jungs zusteht. Zu DDR-Zeiten hatte so etwas kaum eine Rolle gespielt. Wie die ­allermeisten Frauen verdiente ich eigenes Geld und der Alltag mit Kindern war hoch subventioniert und damit bezahlbar.

Verzweiflung und Zuversicht wechselten sich ab

Nun aber war ich voller Panik. Von einer ABM-Stelle konnte keine Rede sein und meine Honorareinnahmen waren ­gering. Frieder und Johannes – nun zwölf und 15 Jahre alt – vernachlässigte ich in dieser Zeit wirklich. Nicht weil ich zu oft unterwegs war, sondern weil ich bis spät nachts an meinem Schreibtisch saß. Du schaffst es, schwor ich mir immer wieder. Mal verzweifelt, mal ungläubig, mal verbissen. Irgendwie durchkommen, irgendwann ankommen.

Ein paar Tage nach jenem Brief ging ich zu einer Anwältin und beauftragte sie, die Alimente für die Kinder einzuklagen.

Der zweite Weg führte zur Wohngeldstelle. Die Sachbearbeiterin schaute auf meinen Antrag und die Honorarabrechnungen: "Mit dem geringen Einkommen müssen Sie Sozialhilfe beantragen!" Sozialhilfe? Das war für mich das Letzte! Ich ­arbeitete doch. Sie reichte mir ein Formular: "Dann benötige ich einen Nachweis, dass Sie davon leben können." Ich sollte genau ausfüllen, wie viel wir zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendbrot verbrauchen. Was wir für Kleidung, Kultur, Schule und öffentliche Verkehrmittel ausgeben. Fassungslos schaute ich auf die Blätter. Dann legte ich sie zurück und ging.

Kurz danach fragte mich eine Kollegin, ehemalige Redakteurin der taz, ob ich Lust hätte, mit ihr an einem Forschungsprojekt zu arbeiten. Feministinnen aus Ost- und Westdeutschland sollten nach ihrem Leben, Lebenszielen, den Erfahrungen in der Wendezeit und ihren Gedanken zur Bundesrepublik befragt werden. Der Berliner Senat würde das Projekt ­finanzieren: 1.600 DM im Monat für die West-Frau, 1.200 DM für die Ost-Frau. Geld dass ich dringend benötigte.

Aber durfte ich mir solch einen Unterschied ­gefallen lassen? Viel später begriff ich, wie sehr ich mit meinen Zweifeln Westber­liner Freundinnen verletzt hatte. Solch ein Stipendium nur für Frauen war das ­Ergebnis langer, harter Kämpfe – und ich wollte das einfach so beiseite schieben. Als es uns dann tatsächlich zugestanden wurde, teilte Ulrike Helwerth, die West-Kollegin ihren Überschuss mit mir. Ganz selbstverständlich und ohne Zögern.

Überhaupt – das Arbeiten zu zweit war wie ein Rettungsring in jenen Jahren ohne Überblick, dafür mit immer neuen Fragen. Als ich wie alle anderen als Anfän­ngerin durch die "freie Marktwirtschaft" taumelte.

Kontakte durch den Frauenverband

Über den Unabhängigen Frauenverband hatte ich Rosemarie Mieder kennen­gelernt, Ost-Journalistin wie ich. Erst zeigten wir uns nur mal unsere Beiträge, dann dachten wir zusammen über ­Themen nach, schließlich nahmen wir ­gemeinsam große Projekte in Angriff. Das in Jena zum Beispiel. Wir befragten jene, die arbeitslos geworden waren. Im Osten eine völlig neue Erfahrung.

Karin B. gehörte dazu. Anfang 30, ­alleinerziehende Mutter von drei kleinen Kindern, Diplom-Volkswirtin. In ihrem Betrieb war sie die erste, die gefeuert wurde. Du musst das Allerletzte sein, wenn sie dich als erste kündigen, ging es ihr immer wieder durch den Kopf. Vor Scham und Verzweiflung kam sie nicht mal auf die Idee, sich gegen die Entlassung zu wehren. Auf dem Arbeitsamt dann der nächste Schlag: Sie solle doch froh sein, dass sie endlich Zeit für ihre Kinder habe, erklärte ihr ein ­"West­import" aus Bayern. Es war die Wut, die die junge Frau aus der Lethargie riss. Karin B. ließ sich nicht abspeisen und ­forderte vehement eine Umschulung.

Wenn ich an diese Zeit zurück denke, fällt mir wieder ein Begriff ein: Die "unnatürliche Erwerbsneigung", die uns ­ost­deutschen Frauen bescheinigt wurde. Ein ­Begriff, den heute niemand mehr wagen würde.

"Du bist Ossi und du bleibst Ossi", hatte eine Freundin meinem 16-jährigen Sohn ­erklärt. Eine Chance habe er nur, wenn er es lernen würde, sich in der Welt zu bewegen. Sprachkenntnisse gehörten dazu und natürlich ein Schuljahr in den USA!

Irgendwann stand Johannes mitten in der Nacht neben meinem Bett: "Mutti, ich kann nicht schlafen. Ich muss immer an die Schule denken!" Er war ehrgeizig geworden, wollte unbedingt ins Bundestags-Austauschprogramm. Eine Chance, die mehr als gering war. Alle anderen Möglichkeiten aber schienen für uns ­unvorstellbar teuer. In jener Nacht nahm ich meinen Sohn in den Arm und versprach ihm: Egal was passiert, du fährst.

Weihnachtsgrüße über den Atlantik

So flog Johannes im August 1993 nach Savannah, Tennessee. Zu Weihnachten schickte ich eine Kassette, besprochen mit Grüßen für die Gastfamilie: "Ich wusste gar nicht, dass du so einen starken ­Akzent hast", kritisierte mein Sohn am Telefon. Akzent? Ich sprach einfach ­unglaublich schlecht Englisch. Wozu hätte ich es auch lernen sollen? Mit 17, im Alter meines Sohnes, bin ich in den Ferien durch Polen getrampt. Hab auf ­Bahn­höfen übernachtet, im Stroh. Jedoch ein Jahr in ein anderes Land fahren? Bei einer Familie leben? Vielleicht in das "Bruderland" Sowjet­union, dessen Sprache ich in der Schule lernte? So etwas war in der DDR nicht möglich. Keine Chance!

Erst mit dem Fall der Mauer habe ich mich auf den Weg gemacht. Zuerst war es die Ferienwohnung einer Freundin auf Gomera, dann Griechenland. Eine Reisereportage entdeckte ich zufällig in der Zeitung: Mit dem Rucksack durch die Wüste! Ägypten war schon immer mein Traum gewesen – die Pyramiden, eine Nacht in der Sahara!

Wir drei rüsteten uns mit Landkarte, Reiseführer, Moskitonetzen, Flugtickets aus – und dann ging’s los. Per Sammel­taxe und Bus von einer Oase zur nächsten, auf einer Feluke den Nil hinab und zum Schluss Schnorcheln im Roten Meer. Diese neue Reisefreiheit kostete ich aus bis zur Neige. Mit dem Auto quer durch die USA, mit dem Rucksack durch ­Indien, Laos, Thailand, Vietnam, Guatemala, Honduras. Tauchen im Roten Meer, im Südchinesischen, in der Karibik.

Ich war angekommen in der Welt.

Daheim plante ich den Auszug. Fort aus Marzahn, meinem lang gewohnten Neubau-Zuhause. Zu oft war ich erschrocken oder mitleidig angeschaut worden, wenn ich gefragt wurde, wo ich wohne. "Wer hier wohnt und nicht verrückt wird, kann nicht ganz normal sein", hieß es im Fernsehen. Ein "Hort von Rechten", schrieb der Spiegel.

Auch mir fehlten inzwischen Cafés, Kneipen, Boutiquen. Aber ich hatte immerhin eine moderne große Wohnung, nette Nachbarn. Dableiben oder ­Weg­ziehen? Lange Zeit fragte ich mich das immer wieder. Irgendwann war es mir einfach zuviel, mich für diese Adresse immer wieder rechtfertigen zu müssen.

Überhaupt – wir Ossis tauchten in den Medien nur als Problemfall auf: Stasi, ­Arbeitslosigkeit, Rechte. Deutsche Kultur, Geschichte und Lebensweise zwischen 1945 und 1989 schien nur westlich der Elbe stattgefunden zu haben. Wir Ostdeutschen kamen nicht vor. Als ob es uns nie gegeben hätte.

Nach der Wende reagierten ostdeutsche Frauen auf ihre Art – nie wurden in einem Jahr so wenige Kinder geboren! Zuallererst war das einer riesengroßen Unsicherheit geschuldet. Aber auch einer beginnenden Anpassung an die neue ­Gesellschaft. Die verlangte Flexibilität und Einsatzbereitschaft. Westdeutsche Frauen bekamen weniger Kinder – und vor allem später.

Der Beruf war für Ostfrauen selbstverständlich

Wie vieles andere hat sich das inzwischen angeglichen. Was geblieben ist: Für Ostfrauen war es nach wie vor selbstverständlich, Kinder und Beruf zu verbinden. Auch bei meinen Schwiegertöchtern ist das so. Leicht gemacht wird es ihnen nicht. "Wenn Ihr Kind so oft krank ist, müssen Sie eben noch zu Hause bleiben", bekam eine zu hören. Die Tochter einer Freundin traf es härter. Am ersten Krankheitstag des Kindes brachte ein Bote die Kündigung. Sie wehrte sich nicht – die Situation in dem kleinen Unternehmen war unerträglich geworden. Als sie nach dem Mütterjahr zurückkam, schnitten die Kollegen sie. Auf Anweisung des Chefs, wie sich später herausstellte.

Ist also zusammengewachsen, was zusammengehört? In der Zeitung lese ich, dass Jena als der wohlhabendste Ort ganz Ostdeutschlands gilt. Gelegen in Thüringen, mit einer renommierten Uni und tradi­tionsreichen, innovativen Unternehmen: Zeiss, Abbe, Schott, dazu Neue wie Intershop. Doch im gesamtdeutschen Ranking gehört die reichste ostdeutsche Stadt zu den ärmsten: Sie landet auf Platz 249 – von ­gesamt 400 Kreisen in ganz Deutschland.

"Ost-West-Frauenkongress. Symbolisch organisiert in beiden Teilen der Stadt. Ich sitze im Vorraum des Westberliner TU-Hörsaales, verschanzt hinter Zeitungen. Bin geflüchtet, weil ich den Streit drinnen nicht mehr ertragen kann. So gehen Frauen miteinander um? So bösartig, so wenig bereit, einander zu begreifen? Frauen, die wissen, Frauen, die füreinander kämpfen wollen. Sieht so die Bewegung aus, von der wir ­soviel erhofft hatten?"

Kampfesmüde und euphorisch dem Aufbruch entgegen 

Diese Zeilen habe ich im April 1990 geschrieben. Damals kamen zwei Schwestern zusammen, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Die eine müde von unendlichen Kämpfen, die andere voller Aufbruchs­euphorie. Wir haben uns begeistert in die Arme geschlossen ohne groß zu fragen. Da war die Ent-Täuschung vorprogrammiert. Voller Wut und Trauer wendeten wir uns erst einmal ­voneinander ab.

Heute, mit dem Abstand von fast 20 Jahren, weiß ich: Wir haben uns gut getan. Sind jede jeweils in die Fußstapfen der anderen getreten, obwohl die gar nicht zu passen schienen. Haben voneinan­der gelernt und uns gegenseitig ­gestützt. Und es so geschafft, dass nicht alle Frauenrechte mit der deutsch-deutschen Vereinigung beiseite geschoben werden konnten.

Bei unseren Interviews mit Ost- und West-Feministinnen hatten Ulrike und ich damals jede Einzelne gefragt, was sich für sie durch die Wende verändert habe. "Nichts, gar nichts", beteuerten die allermeisten Frauen aus dem Westen. "Alles", erklärten die aus den neuen Bundesländern. Das war 1993.

Wir im Osten erhielten Begrüßungsgeld und hatten uns ab dann umzustellen. Ein klarer Schnitt, über den ich im Nachhinein froh bin. Im westlichen Teil verlief die Änderung schleichender. Dafür war der Schmerz nicht weniger bohrend. Auch die "alte Bundesrepublik" gibt es nicht mehr.

In meinem Freundeskreis unterscheide ich heute nicht mehr, wer kommt von hüben, wer von drüben. Meist ist es mir nicht einmal bewusst. Manches aus dem Osten ist inzwischen ja auch im Westen angekommen: Das Recht auf Krippen- und Kitaplatz, Ganztagschulen, das System der Polikliniken, der Gemeindeschwestern. Und seit vier Jahren wird das Land von einer Frau regiert, einer Frau aus dem Osten. Gewählt habe ich sie nicht. Aber ich schaue mir an, was sie macht, und begreife: Sie macht das nicht schlecht. Pragmatisch, praktisch – und irgendwie ostig.

Sehnsucht nach der DDR? Nein. Es ist nicht vergessen, jenes diffuse Gefühl der Angst. Das über mir wie ein Beil hängt. Aber dann sehe ich plötzlich einen Trabi, rieche einen bestimmten Bohnerwachs oder gehe an einem Kohleofenschornstein vorbei – und werde plötzlich traurig. Riecht es nach DDR? Vor allem riecht es nach Kindheit. Nach zu Hause. Nach dem Land in dem ich groß geworden bin. Und das mich geprägt hat: Im Schlechten wie im Guten.

 

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