Die Künstlerin & Forscherin

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Zugegeben, es ist etwas kitschig. Aber die ersten Spuren meiner Geschichte mit Maria Sibylla Merian führen zurück in meine Kindheit. Im Wohnzimmer meiner Tante hingen vier Bilder in schönen Rahmen, die mich bei jedem Besuch faszinierten. Sie zeigten die Welt der Raupen und Schmetterlinge. Jedes Härchen der Raupen, jeder ihrer vielen Füße war aufs Feinste gezeichnet, und der Schmetterling mit den kunstvollen Mustern auf seinen Flügeln schien kurz vor der Landung auf einer der bunten Blume mitten im Flug inne zu halten.

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Was haften blieb: das Wunder der Verwandlung von der Raupe in den Schmetterling und der Name der Malerin – Maria Sibylla Merian. Doch als es Jahrzehnte später darum ging, welche selbstbewusste Frau ich durch eine Biografie aus der Vergessenheit oder den falschen Mythen zurück ins Leben holen wollte, standen andere im Vordergrund. Bis meine Lektorin anfragte, ob nicht der 300. Todestag der Merian am 17. Januar 2017 ein Anstoß für mich sei, eine Biografie über sie zu schreiben. Manchmal gibt es auch für Autorinnen den Wink des Schicksals.

Das Mädchen aus gutbürgerlichem Frankfurter Haus war dreizehn Jahre alt, als es erstmals eine Raupe in der Hand hatte. Maria Sibylla Merian setzte sie in eine Schachtel, fütterte sie, beobachtete das Tier tagelang und erlebte, wie es sich in eine Art leblosen „Dattelkern“ zurückzog, der sich eines Tages in einen prächtigen Schmetterling verwandelte.

So begann 1660 eine Leidenschaft, die die Merian bis an ihr Lebensende nicht mehr los ließ. Von nun an machte sie sich in jeder freien Minute auf Raupensuche: an Landstraßen, in Stadt­gräben und Gärten in Frankfurt oder Nürnberg, in einer radikalen christlichen Kommune im holländischen Friesland oder in der Metropole Amsterdam wie im subtropischen Urwald von Surinam.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts glaubten viele noch an die These des Aristoteles, dass diese dämonischen Tiere sich in Schlamm und Moder fortpflanzten. Maria Sibylla Merian gelang es, durch ­exakte Beobachtung hunderter Raupen in ihren Spanschachteln erstmals die Gesetzmäßigkeiten im Lebenszyklus von Raupen und Schmetterlingen nachzuweisen; dass jede Raupe ihre eigene „Wirtspflanze“ hatte und die Fortpflanzung durch Eier gesichert wurde. Mit dieser Pionierleistung im Europa des 17. Jahrhunderts hat sie Anteil am Aufbruch der Naturwissenschaften in eine neue Zeit.

Was ihre Arbeit einzigartig und bis heute so lebendig macht, ist das unübertroffene Zusammenspiel von Forschung und Kunst. Denn Maria Sibylla Merian, die Tochter des berühmten Kupferstechers und Frankfurter Verlegers Matthäus ­Merian, war auch eine großartige Malerin. Sie hat jedes ihrer Spanschachtel-Experimente gezeichnet, in Kupfer gestochen und daraus bahnbrechende Bücher gemacht.

Das junge Mädchen ist in einer Patchworkfamilie aufgewachsen. Der moderne Begriff ist für viele Jahrhunderte zutreffend, wenn ein früher Tod die heile Familienwelt zerstörte. Vater Matthä­us Merian starb 1650, als Maria Sibylla drei Jahre alt war. Die Mutter ­heiratete 1651 einen verwitweten Maler, der nicht nur drei Kinder in die Ehe brachte, sondern das Talent seiner Stieftochter erkannte und sie gründlich in der Mal- und Zeichenkunst ausbildete. Aber wie konnte ein Mädchen im 17. Jahrhundert eine solide Berufsausbildung erhalten?

Maria Sibylla Merian führte zweifellos ein besonderes Leben, das aber dennoch nicht aus dem Rahmen dessen fällt, was Frauen im Hohen Mittelalter und bis ins 17. Jahrhundert an beruflichem Ansehen erreichen konnten: Als Frau Mitglied in einer Handwerkszunft zu sein, den Ehemann zu vertreten, wenn der auf Geschäftsreise war.

Berühmte Historiker reproduzierten im 19. Jahrhundert das patriarchalische Frauenbild in Gesellschaft und Politik. Der Bonner Geschichtsprofessor Heinrich Sybel verkündete 1870 in einem Pamphlet „Über die Emanzipation der Frau“: „… Das Gebiet der Frau ist das scheinbar Enge und Einförmige des inneren, häuslichen Lebens; die Domäne des Mannes ist die weite Welt da draußen …“ Diese Realität des 19. Jahrhunderts, in der Bürgertöchter keinen Beruf erlernen konnten – ihnen Gymnasien, Universitäten, Kunstakademien verboten waren – und nur auf einen Ehemann warteten, hat bis weit ins 20. Jahrhundert den Blick auf aktive Frauenleben in den Jahrhunderten zuvor verstellt.

Doch Maria Sibylla Merians Persönlichkeit entwickelt sich früher, nämlich in einem Jahrhundert selbstbewusster Frauen, die Karriere machen, ohne Anstoß zu erregen. Sie hat Vorbilder wie Europas erste Studentin und anerkannte Gelehrte Anna Maria van Schurman, mit der Männer vieler Länder eine wissenschaftliche Korrespondenz führten und die ihrerseits ein umfassendes weibliches Netzwerk aufbaute. Und in späteren Jahren wird die Merian in Amsterdam Rachel Ruysch begegnen, die zu den berühmtesten Blumenmalern ihrer Zeit gehört.

Eine wichtige Facette ihres Selbstverständnisses als Forscherin und Künstlerin ist geprägt durch den calvinistischen Glauben. Die Merians – wie auch der Stiefvater – gehörten in Frankfurt zur Minderheit der reformierten Gläubigen. Ihre Konfession war geduldet, nicht zuletzt wegen der guten Geschäfte der reformierten Unternehmer, ein eigenes Kirchengebäude aber war ihnen nicht erlaubt. In der lutherischen Mehrheit nicht unterzugehen, sondern sich auf die eigene Individualität und Tatkraft zu besinnen, diese Maxime hat Maria Sibylla in der Familie mit auf den Lebensweg bekommen.

Zugleich sah Johannes Calvin, Begründer dieser Konfession, keinen Widerspruch zwischen dem Glauben an einen Schöpfergott und der menschlichen Wissbegierde. Es nimmt der Größe der Schöpfung nichts, sie zu erforschen. Lutheranern wie Katholiken war ein solcher Ansatz höchst suspekt. Und diesen revolutionären Schritt hat Maria Sibylla ­Merian getan.

Verheiratet, zwei kleine Kinder im Haushalt, bringt sie 1679 und 1683 zwei Bücher heraus: „Der Raupen wunderbare Verwandlung“. Die Zeichnungen stellen penibel den Weg der Raupe bis zur Verwandlung in einen Schmetterling dar. Der Text beschreibt ihre Experimente, ohne sich auf theologische Überlegung zu berufen; Glaube und Wissenschaft sind in Merians Büchern strikt getrennt. Die Raupenbücher begründeten Ansehen und Ruhm der jungen Frau in der internationalen Gelehrtenwelt.

Was die Merian auszeichnet, ist ihr Mut zu Veränderung und Aufbruch, nüchtern geplant. Typisch dafür sind ihre fünf Jahre in der Labadisten-Kommune Wieuwerd im holländischen Friesland. Diese radikale christliche Sekte macht es möglich, dass Maria Sibylla Merian sich 1686 ohne Aufsehen von ihrem Mann trennt und sich mehr denn je mit ihrer Raupenforschung beschäftigt.

1691 verlässt sie Wieuwerd, zieht nach Amsterdam und gründet in der weltoffenen Metropole als alleinstehende Frau mit zwei Töchtern, die sie zu Malerinnen ausbildet, ein erfolgreiches Unternehmen.

Bis zu ihrem Tod wird sie in Amsterdam in der Kerkstraat zuhause sein. Hier entstehen aquarellierte Zeichnungen mit Insekten und Pflanzen, Blüten und Früchten, begehrt von Naturforschern und Kunstliebhabern in London, St. Petersburg, Braunschweig, Paris und Wien. Sie ist eine begehrte Gesprächspartnerin bei Gelehrten und Sammlern an der Amstel. Und hat wieder eine Vision.

Ende Juni 1699 reist die Zweiundfünfzigjährige mit ihrer Tochter Dorothea in die niederländische Kolonie Surinam im nordöstlichen Südamerika, auf eigene Kosten und Initiative. Im April hatte sie ihr Testament gemacht. Denn ihr war bewusst, dass die wochenlange Fahrt über den unberechenbaren Atlantik und der Aufenthalt in den Tropen – 36 Grad waren tagsüber die Regel – eine Reise ohne Wiederkehr sein könnte.

Ende August kommen Mutter und Tochter glücklich im Hafen von Paramaribo, der Hauptstadt der Kolonie, an. Nur der Küstenstreifen des Landes ist fruchtbar und wird von niederländischen Pflanzern für den Anbau von Zuckerrohr genutzt. Zu braunem Rohrzucker gebrannt, ist er ein Exportschlager für Europa, wo er in holländischen Zucker-Raffinerien zu „weißem Gold“, zu Rum, verarbeitet wird. Die Arbeit in der Kolonie wird von einheimischen Indianern und vor allem von schwarzen Sklaven verrichtet, die von Westafrika nach Suri­nam verschleppt werden.

Maria Sibylla Merian macht von ihrem Haus in Paramaribo aus mit Tochter Dorothea Jagd auf Raupen, Schmetterlinge und andere Insekten. Einmal in Schachteln festgesetzt, beobachtet sie auch in Südamerika minutiös die Verwandlung und Fortpflanzung der tropischen Insekten, legt Notizzettel an und präzise Zeichnungen.

Doch auch die Menschen in Surinam interessieren die Forscherin. Ob Plantagenbesitzer, Indianer oder Sklavinnen, Maria Sibylla Merian begegnet allen mit dem gleichen Respekt. Ihre Neugier kennt keine sozialen Schranken. Sie befragt ihre Sklavinnen über Tiere und Früchte. Die Frauen fühlen sich ernst genommen und revanchieren sich. In einem von Merians Texten heißt es: „Der Wurm, der auf dem Stiel kriecht, ist orangefarben. Er wurde mir von einer schwarzen Sklavin gebracht, die mir ­berichtete, dass da schöne Grashüpfer ­herauskämen.“

Die Sklaverei an sich wurde von Maria Sibylla nicht in Frage gestellt. Warum sollte sie etwas kritisieren, das von allen christlichen Kirchen als göttliche Ordnung abgesegnet wurde? Aber dass sie Sklavinnen und Indianern als gleichwertigen Menschen und geachteten Informanten begegnet, ist um die Wende zum 18. Jahrhunderte für europäische Forscher keineswegs selbstverständlich.

Obwohl inzwischen 53 Jahre alt, bricht Maria Sibylla Merian auch zu Expedi­tionen in den Urwald auf. Ihre Sklaven ­hacken mit Beilen eine Öffnung in die Disteln und Dornen, „um einigermaßen hindurchzukommen, was doch ziemlich beschwerlich war“. Drei Jahre lang wollte sie den tropischen Faltern in Surinam auf der Spur bleiben. Doch im Frühjahr 1701 lassen ihre Kräfte merklich nach. Die Merian macht die Tropenhitze verantwortlich, dass sie immer schwächer wird, „und ich sah mich deshalb gezwungen, früher nach Hause zurückzukehren, als ich gedacht hatte“. Wahrscheinlich wurde sie von einer Stechmücke mit Malaria infiziert.

Am 18. Juni 1701 gehen Maria Sibylla Merian und ihre Tochter in Paramaribo an Bord eines Überseeschiffes. Am 23. September betreten sie wieder holländischen Boden. 1705 erscheint in Amsterdam Merians Buch über die „Verwandlung der Surinamesischen Insekten“, die Krönung ihres Schaffens: sechzig prächtige Kupfertafeln mit ausführlichen Texten.

Am 13. Januar 1717 stirbt Maria Sibylla Merian in Amsterdam und wird am 17. Januar auf dem damaligen Leidse Kerkhof mitten in der Stadt begraben. Der Mythos vom Armengrab ist dennoch hartnäckig, die Eintragung im Begräbnisbuch jedoch eindeutig: Vier Gulden hat Maria Sibylla Merian vor ihrem Tod investiert, damit sie von 14 Sargträgern zur letzten Ruhe geleitet wurde.

Zwei Monate später erscheint das dritte Raupenbuch „Der Rupsen Begin, Voedsel en Wonderbaare Verandering“, herausgegeben von Maria Sibylla Merians jüngster Tochter Dorothea Mair Henricie. Das Buch war noch von der Mutter vollendet worden, nur der Titel, ein Blumenkranz, ist von der Tochter. Im Oktober 1717 reist diese mit ihrem Mann nach Sankt Petersburg, wo sie über ein Vierteljahrhundert unterrichten und forschen wird. Die Spuren von Maria Sibylla Merians ältester Tochter Johanna Helena, die als die talentierteste galt, verlieren sich sechs Jahre nach dem Tod der Mutter in ­Surinam.

Barbara Beuys

Weiterlesen
Jüngst erschien von der Autorin: Maria Sibylla Merian – Künstlerin, Forscherin, Geschäftsfrau (Insel TB, 18.95 €);
Carin Grabowski: Maria Sibylla Merian zwischen Malerei und Naturforschung (Reimer, 79 €);
Marieke van Delft/Hans Mulder: Maria Sibylla Merian – Metamorphosis insectorum Surinamensium: Die Verwandlung der surinamischen Insekten 1705 (Lambert Schneider, 149 €).

Termine
Blumenbilder von Merian sind vom 11.10. bis 14.1.2018 ins Frankfurter Städel Museum zu sehen.

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