Ab jetzt im Kino: Nirgendland

Tina R,: "Der Film Nirgendland ist für mich das Vermächtnis meiner Tochter."
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Die Kamera fährt langsam durch eine Straße mit Reihenhäusern und macht schließlich vor einem der weißen Kästen Halt. Hier, in dieser spießigen Idylle eines Münchner Vororts, war jahrzehntelang das Grauen zu Hause.  

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„Liebe Mama, wusste heute Morgen beim Aufstehen nicht, dass heute mein letzter Tag sein würde. Ich wollte dir nie wehtun.“ Am 19. Juli 2007 nimmt sich Sabine R., genannt „Floh“, mit einer Überdosis Insulin das Leben. Sie ist 30 Jahre alt. Regisseurin Helen Simon hat die Geschichte dieses Selbstmords rekonstruiert. Es ist die Geschichte eines Missbrauchs über drei Frauengenerationen; eine Geschichte über das kollektive Schweigegebot, das die Täter verhängen und die Opfer befolgen. Und es ist eine Geschichte darüber, was passierte, als das jüngste Opfer schließlich das Tabu brach und redete – um den Missbrauch des nächsten Opfers zu verhindern. 

Liebe Mama, wusste nicht, dass heute mein letzter Tag ist

„Es begann damit, dass ich oben ohne rumlaufen sollte. Sein Hobby war Fotografie. Dann wurde ich nachts davon wach, dass er in meinem Zimmer stand und mich fotografiert hat. Mein Nachthemd war hochgezogen.“ So steht es in den Gerichtsprotokollen, die im Film verlesen werden. Es ist Sabines Mutter Tina, die diese Sätze zu Protokoll gegeben hat. Denn sie war das erste Opfer. Als sie 13 war, musste sie ihrem Vater beim Masturbieren zuschauen, dann zwang er sie zum Oralverkehr. „Als ich geweint habe, sagte er: ‚Es ist doch gar nichts passiert.‘“ 

Ihre Mutter, die Ehefrau des Täters, schweigt. Schweigen heißt überleben. Das hat die Mutter gelernt, als sie mit 15 von russischen Soldaten nach Sibirien verschleppt wurde. „Die, die geschrieen haben, haben nicht überlebt“, erzählt sie der Tochter. Und sie versichert ihr: „Wenn du erwachsen bist, wirst du dich an nichts erinnern.“ Sie wird Recht behalten. Zunächst.

„Meine Kindheitserinnerungen gingen bis neun oder zehn“, erzählt Tina R. im Film. „Dann fehlten ganze Jahre.“ Die junge Erwachsene glaubt tatsächlich, was der Vater behauptet: Dass gar nichts passiert ist.

Die Verdrängung sitzt so tief, dass Tina, als sie selbst Mutter wird, nicht begreift – oder nicht begreifen will –, dass der Vater sich nun das nächste Opfer sucht: ihre Tochter. 

Tina ist nach kurzer Ehe wieder geschieden. Sie muss arbeiten und gibt Floh oft zu ihren Eltern, auch über Nacht. Über das, was nun passiert, geben wieder die Gerichtsprotokolle Auskunft. Sabine erklärte: „Der Missbrauch begann, als ich fünf Jahre alt war. Ich weiß das so genau, weil ich in die Schule kam. Bei den Hausaufgaben saß ich auf seinem Schoß und er begann, sich an mir zu reiben.“

Die Großmutter, die es besser wissen müsste, schickt das Mädchen oft nach oben, um den Großvater zu wecken. Der wartet schon und die Enkelin muss sich zu ihm ins Bett legen. Einmal, so berichtet Floh den Richtern, ruft der Großvater sie ins Bad. Er sitzt auf der Toilette und onaniert. Dann zieht er das Mädchen zu sich herunter und zwingt sie zum Oralverkehr. „Als er kam, hielt er meinen Kopf fest und zwang mich zu schlucken.“   

Genau um diese Zeit wird Mutter Tina nachts immer wieder schweißgebadet wach. Sie hat Erstickungsanfälle. Die sind ebenso heftig wie schulmedizinisch unerklärlich, so dass der Arzt Tina zu einer Psychoanalyse rät. Aber immer noch hält der Panzer, den die Mutter um ihre eigene Verletzung gebaut hatte.

Wenn du erwachsen bist, wirst du dich an nichts erinnern

Ein anderes Mal, der Vater ist mit seiner Enkelin in der Dunkelkammer, überfällt Tina Panik. Sie hämmert an die abgeschlossene Tür. Als der Vater schließlich öffnet, sagt er, was er immer sagt: „Es ist gar nichts passiert.“ Tina geht wieder – und betrinkt sich. „Weil ja nichts passiert ist“, sagt sie bitter. Sie spürt es, aber sie handelt nicht. „Mit dieser Schuld muss ich jetzt leben: Dass ich nicht hingeschaut hab.“

Aber auch Tochter Floh ist Teil der Omertà. Sie wird ihrer Mutter später versichern, dass „ich alles getan habe, damit du es nicht merkst“. Bevor sie schließlich doch irgendwann spricht, stürzt sie ab. Mit 14 wird Floh heroinabhängig und prostituiert sich auf dem Straßenstrich. Dort wird sie mehrere Male vergewaltigt. Sie zerschneidet sich den Körper. Mutter Tina bringt sie schließlich in eine Klinik. Auch dort quält die Tochter die Sorge, die schon ihre Mutter davon abhielt, über den Missbrauch zu sprechen: „Es hätte die Familie zerstört.“

Schließlich offenbart sich die Tochter doch mit Hilfe ihrer Therapeutin. Es ist einer der verzweifeltsten Momente des Films, als Tina R. von ihrem Begreifen erzählt: Dass sie den Missbrauch der Tochter nicht hat sehen können, weil sie ihren eigenen nicht hat sehen wollen. „Wie grausam, dass ich mein Kind gebraucht habe, um mir selbst zu glauben!“

Aber es gibt noch mehr Familienmitglieder, die die Augen verschließen: Tinas Bruder, Flohs Onkel, gibt seine dreijährige Tochter zu den Großeltern, auch über Nacht – obwohl Tina und Floh ihn eindringlich gewarnt haben. Das ist der Moment, in dem Floh beschließt, dem Treiben des Großvaters ein Ende zu setzen: Sie zeigt ihn an. 

Das Urteil wird sie in den Tod treiben. Denn obwohl sowohl Enkelin als auch Tochter des Täters ausführlich aussagen und der Staatsanwalt fünf Jahre Haft fordert, lautet es: Freispruch.

Es sei dem Gericht „nicht nachvollziehbar“, dass die Zeugin keinen Widerstand geleistet habe. Daher sei „nicht bewiesen“, dass die sexuellen Handlungen nicht „einvernehmlich“ stattgefunden hätten. Zudem sei nicht klar, ob einige Schilderungen der Zeugin nicht eher „aus ihrer Erfahrung als Prostituierter herrührten“. Das Gericht erkennt an, dass es vor 1984 womöglich zu „sexuellem Missbrauch ohne Gewaltanwendung“ gekommen sei. Diese Taten seien aber ohnehin verjährt.    

Dieses Urteil, sagt Mutter Tina, war „das Todesurteil“ für ihre Tochter. Vier Jahre nach dem Prozess nimmt sich Sabine das Leben. Sie hat es nicht mehr ausgehalten im „Nirgendland“, jenem trostlosen Ort, den Mascha Kaléko in ihrem Gedicht „Kein Kinderlied“ beschreibt – und der dem Film seinen Titel gegeben hat.  

„Ich weiß, dass mein Film Opfer nicht ­unbedingt ermutigt, Anzeige gegen die Täter zu erstatten“, sagt Helen Simon im Gespräch mit EMMA. „Aber er soll eine Diskussion auslösen!“ Eine Diskussion über die mangelnden Kenntnisse von RichterInnen in Traumaforschung, über Verjährungsfristen – und natürlich: das epidemische Schweigen.

Es war im Jahr 2010, als die Studentin der Münchner Filmhochschule beschloss, ihren Abschlussfilm zum Thema „Sexueller Missbrauch“ zu machen. Gerade waren die Skandale von Canisius-Kolleg bis Odenwaldschule aufgebrochen, in Berlin tagte der Runde Tisch. „Aber mich störte, dass es immer nur um Fälle in Schulen und Vereinen ging – dabei finden 70 Prozent des sexuellen Missbrauchs in der Familie oder im nahen sozialen Umfeld statt.“

Helen Simon weiß, wovon sie spricht. Es war der Bruder des Nachbarn. „Und niemand hat hingeschaut. Dabei sind die Symptomatiken erkennbar!“ Natürlich haben viele der Filmemacherin davon abgeraten, über ihren eigenen Missbrauch zu sprechen. Wie man ihr überhaupt vom ganzen Thema abgeraten hatte. Es gebe dafür „kein Publikum“. „Aber ich möchte nicht auch noch Teil dieses allgemeinen Verschweigens sein“, sagt die 39-Jährige.

Ich habe alles getan, damit du es nicht merkst

Auch Tina R. schweigt nicht mehr – und will andere zum Reden ermutigen. Sie war dabei, als „Nirgendland“ auf Filmfestivals gezeigt (und mit mehreren Preisen ausgezeichnet) wurde. „Es steht hinterher immer jemand auf und sagt: ‚Ich hab es noch nie jemandem erzählt, aber ich bin auch eine Betroffene.‘ Dieser Schritt aus der Scham ist so wichtig.“ 

„Nirgendland“, sagt Tina, sei für sie das Vermächtnis ihrer Tochter. „Es darf kein Tabu mehr sein! Dann sind die Täter nicht mehr in Sicherheit.“  

Am Ende des Films löst sich die Kamera wieder von dem einen Haus und fährt zurück über die anderen weißen Reihenhäuser. Und wir wissen: Diese Geschichte hätte in jedem dieser Häuser stattfinden können. 

"Nirgendland", ab jetzt im Kino – www.nirgendland.de

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Marquardt: Der doppelte Missbrauch

© Martin U. K. Lengemann
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Sie hätte das Buch eigentlich vor zehn Jahren schreiben sollen. Damals, nachdem sie 2002 als Stasimitarbeiterin enttarnt worden war. Zu der Zeit war Angela Marquardt noch der Jugendstar der PDS, der Polit-Punk (mit dem auch EMMA mal getitelt hat, Foto re). Die heute 44-Jährige war mit 15 von der Stasi angeworben worden. Bis zum Mauerfall, da war sie 18, war sie eine von mehreren tausend minderjährigen IMs.

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Und die Stasi hatte Großes vor mit Angela. Sie sollte Theologie studieren und sodann die oppositionelle Kirchenszene unterwandern. Dazu hätte es eines ziemlichen Talents in Sachen Doppelleben bedurft. Das hatte Angela schon vorher erworben, auf sehr traurige Weise. Denn hinter der Geschichte des Missbrauchs dieses Kindes durch die Stasi steht die Geschichte des Missbrauchs dieses Kindes durch den Stiefvater. Und eine Mutter, die das Kind nie geschützt hat, auch nicht vorher, vor dem sadistischen, biologischen Vater.

Es muss hart gewesen sein für sie, sich wirklich zu erinnern

Der saufende Stiefvater missbrauchte das Mädchen dann ab dem neunten Lebensjahr, bis zum 15. Bis Angela sich selber wehren konnte. Dann kam Führungsoffizier Jörg. Der hatte auf der Stasi-Hochschule in Potsdam gelernt, wie man „das Herz“ Minderjähriger gewinnt.

Die ganze Familie war Stasi-Zuträger, die Mutter hat sogar ein „Gutachten“ zur Tauglichkeit der Tochter abgeliefert. Kein Wunder also, dass Angela erst so spät alles sagt. Es muss hart gewesen sein, sich wirklich zu erinnern.

2003 trat der Politstar - sie hatte es in der PDS bis zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gebracht - aus der „Kümmererpartei“ aus, da war die gerade aus dem Bundestag geflogen. 2006 trat sie in die SPD ein. Da arbeitete die zunächst lange arbeitslose Politologin schon für Andrea Nahles. Die beiden Väter, der Sadist und der Vergewaltiger, sind inzwischen tot.

Angela muss mit den Erinnerungen leben – was ihr jetzt, nachdem sie es ausgesprochen hat, hoffentlich etwas leichter fällt.

Angela Marquardt mit Miriam Hollstein: Vater, Mutter, Stasi (Kiepenheuer & Witsch, 14.99 €)

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