Alice Schwarzer schreibt

Westerwelle, der Papst & ich

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Guido Westerwelle liebt also einen Mann. Und er hat das auf dem Grunde des Sommerlochs auf maximal geschickte Weise der Nation mitgeteilt. Nicht etwa, indem er irgendetwas „erklärte“ oder „bekannte“. Warum sollte er auch. Es handelt sich bei der Homosexualität anno 2004 in Deutschland ja nicht mehr um ein Verbrechen, das zu „gestehen“ wäre. Sondern indem er das Objekt seiner Zuneigung einfach mitbrachte zu einer öffentlichen Familienfeier.

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Und da saß der potenzielle Außenminister dann in der ersten Reihe mit seinem Lebensgefährten, neben ihm die potenzielle Kanzlerin mit ihrem Ehemann. Rechtzeitig ein Jahr vor Beginn des Wahlkampfes, bei dem man ihn mit einem Outing hätte unter Druck setzen können, wählte Westerwelle ein freiwilliges Coming Out.

Eine Woche lang Schlagzeilen in Bild („Wie schwul ist Deutschland?“), gelassene bis schlüpfrige Kommentare allerorten und ein Spiegel-Interview, in dem der ehrgeizige FDP-Chef sich prompt mit einer ultra-liberalen Homopolitik positionierte, die die Grünen grau aussehen lässt. Niemand scheint sich über die News wirklich zu erregen – mal abgesehen von den homosexuellen Fundamentalisten (die wohl am liebsten wieder ein rosa Branding einführen würden) und den christlichen Fundamentalisten (auf deren Gewissen die eigenen Träume schwarz lasten).

Na und, hieß es, was ist schon dabei? In Zeiten der Homo-Ehe. Wusste in Berlin doch eh schon jeder.

Aber ist wirklich nichts mehr dabei? Noch Westerwelles Eltern haben schließlich den „Rosa Winkel“ erlebt, der Homosexuellen im KZ angeheftet wurde; sowie den § 175, nach dem homosexuellen Männern bis 1976 Gefängnis drohte. Und wir alle erleben gerade eine weltweite Offensive des christlichen Fundamentalismus, für den Homosexualität „widernatürlich“ und des Teufels ist – und des islamischen Fundamentalismus, in dessen Scharia für Homosexualität Steinigung geschrieben steht. (Mehrfachverheiratete müssen dort nicht fremdeln, aber wie eigentlich soll ein homosexueller Außenminister im Iran oder in Saudi-Arabien Visite machen?)

Gleichzeitig mit der zunehmenden „Toleranz“ – die immer nur der „eine“ dem „anderen“, der Stärkere dem Schwächeren gewähren kann – verstärkt sich die biologistische Festschreibung: „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ gelten wieder unhinterfragt als „natürlich“ und Homosexualität als „angeboren“. Mal soll’s an den Hormonen liegen, mal an den Genen, mal an den Gehirnzellen. Nichts genaues weiß man, aber viel schreibt man. Immer aber läuft es darauf hinaus, dass homosexuelle Männer und Frauen „anders“ sind, irgendwo und irgendwie. Gerne eine weibische „Bonner Blondine“ (die taz über W.) oder ein „Junggeselle aus Bonn“ (der CSU-Ministerpräsident über W.). Oder gar „ohne Familie“ (die neue Sprachregelung für Frauen, die im „Verdacht“ stehen).

Wobei es auffällt, dass inzwischen zwar einige hochrangige Politiker offen und unbeschadet homosexuell leben – aber keine einzige Politikerin. Liegt das daran, dass der heterosexuelle Druck auf Frauen größer ist – und damit auch ihre homosexuelle Ächtung? Vor allem in Männerbünden wie der Politik?

Das Beunruhigendste aber ist die Schwäche des kollektiven Gedächtnisses. Wissen wir doch spätestens seit Sigmund Freud, dass Sexualität nicht Natur ist, sondern Kultur; nicht angeboren, sondern erworben und oft Resultat früher Prägungen, aber auch lebenslanger Lernprozesse. Von Natur aus sind Menschen bisexuell bzw. multisexuell. Die vorherrschende Heterosexualität ist Resultat eines kulturellen Gebotes – und dessen Ablehnung, die Homosexualität, seine Negation.

Die Begriffe „Heterosexualität“ und „Homosexualität“ sind überhaupt erst im 19. Jahrhundert erfunden worden – doch immer schon nur Theorie gewesen. Das Leben sieht anders aus. Denn ab wann wäre ein Mensch als homosexuell zu bezeichnen? Ist es der Familienvater, der sich in der Mittagspause in den Schwulenpark schleicht? Ist es die Familienmutter, die im Traum einen Orgasmus mit der besten Freundin hat? Ist es die Frau/der Mann, die/der gleichgeschlechtlich lebt, aber keinen Sex hat – oder Sex hat, aber nicht gleichgeschlechtlich liebt? Stellen wir uns einmal eine Prioritätenskala von „100 % hetero“ bis „100 % homo“ vor – wo würden Sie sich dann einordnen? Ja, Sie!? – Wir sehen, die Frage der sexuellen Identität und der Präferenzen ist ein weites Feld …

Der fortschrittliche Zweig der im 20. Jahrhundert entstehenden Sexualwissenschaften hat die deterministische Sichtweise nie akzeptiert. So schrieb Alfred Kinsey schon 1949 in seinem berühmt gewordenen Report: „Man kann gar nicht häufig genug betonen, dass das Verhalten eines jeden Lebewesens von der Art des Reizes (…) und seinen frühen Erfahrungen abhängig ist. Die Klassifizierung des sexuellen Verhaltes als onanistisch, heterosexuell oder homosexuell ist nur deshalb von Wert, weil sie die Wurzel des sexuellen Reizes angibt. Sie sollte aber nicht zur Charakterisierung der Personen verwendet werden.“

Seine NachfolgerInnen gehen noch weiter. Unter dem Eindruck der Entwicklungen der letzten 30 Jahre entfernen sie sich von der Idee einer frühen sexuellen Determinierung und träumen von der Utopie einer wirklichen sexuellen Freiheit. So der Hamburger Sexualtherapeut Gunter Schmidt, wenn er sagt: „Einem hochentwickelten Lebewesen wie dem Menschen entspricht es eigentlich gar nicht, seine Partnerwahl in erster Linie nach dem Geschlecht zu richten. Es ist doch nur logisch, wenn dabei mehr und mehr Kriterien eine Rolle spielen, die uns viel angemessener sind: die Ausstrahlung, die Interessen und Charakterzüge eines Menschen, und zwar ganz unabhängig vom Geschlecht.“

Doch ist diese Stufe der wirklichen Gleichheit noch nicht erreicht. Heute empfinden sich in der westlichen Welt 90 Prozent der Menschen als hetero- und 10 Prozent homosexuell. 9 von 10 Männern setzen es in die Tat um, aber nur 4 von 10 Frauen. Auch daran ist abzulesen, dass der Druck auf die weibliche Homosexualität ungleich stärker ist. Kein Wunder, verstößt sie doch gegen das Gebot Nr. 1 der Männergesellschaft: Du sollst Männer lieben! Homosexuelle Männer verstoßen dagegen nicht, im Gegenteil: Sie erfüllen ein Übersoll.

Bei Frauen gibt es einen Zusammenhang zwischen hie Bewusstsein und Selbstbewusstsein sowie da gelebter Homosexualität. So ergab eine Befragung deutscher Studentinnen, dass sich jede 25. als homo-oder bisexuell einstuft (das entspricht den vier Prozent), aber jede vierte „Frauen manchmal sexuell attraktiv“ findet. Unter Feministinnen steigt der Anteil der homooder bisexuell lebenden Frauen nach Schätzung des Kinsey-Instituts auf 10–20 Prozent. Das bestätigen EMMA-Leserinnen-Analysen, in denen sich 21 Prozent der Leserinnen selbst als „homosexuell“ definieren (aber auch 79 Prozent als „heterosexuell“).

Liebe unter Frauen ist eben immer auch Ausdruck von Rollenbruch, bewusst oder unbewusst. Liebe unter Männern hingegen ist allgegenwärtig und angesagt: in der Kultur, auf Vorstandssitzungen, am Tresen und auf Fußballplätzen. Der ganze Sport: ein einziger Christopher-Street-Day!

Gar nicht zu reden vom homoerotischsten aller Männerbünde: der katholischen Kirche. Da nichts so zusammenschmiedet wie das Nichtgelebte, das Heimliche und Verbotene, ist die Homophobie der wirksamste Kitt der Weltkirche. Ihre Verherrlichung des Männlichen impliziert die Verachtung des Weiblichen (verhüllt in Verklärung). Dabei geht es um die unbedingte Aufrechterhaltung der Geschlechterordnung und der Kirchenhierarchie.

Noch stärker als die Homosexualität beunruhigen den Papst darum „gewisse Strömungen des Feminismus“. Nämlich die „Tendenz in der Frauenfrage“, die „stark den Zustand der Unterordnung der Frau (unterstreicht), um eine Haltung des Protestes hervorzurufen. So macht sich die Frau (…) zum Gegner des Mannes.“ Diese Tendenz will zum Leidwesen des Heiligen Vaters die Frau „von jedem biologischen Determinismus befreien“ und fördert das „neue Modell polymorpher Sexualität“ (eine Formulierung von Freud). Also versucht der Papst im Jahre 2004 mit aller ihm zu Gebote stehender Macht, die „Dualität der Geschlechter“ wieder festzuschreiben.

Er rennt damit offene Türen ein. Zwar finden die Medien, dass der alte Mann in Rom übertreibt, aber im Kern hat er doch recht. „Mann und Frau werden – gottlob – immer verschieden bleiben“, bekräftigt die FR. Und für die SZ ist die päpstliche Kritik an „dem Fehlschluss, der Geschlechterunterschied sei allein historischpolitisch bedingt“, treffend – gleichzeitig jedoch hält sie den „Platz im Leben von Frauen und Männern“ keineswegs für unveränderbar. Ja, was denn nun? Da ist der Papst logischer.

Für ihn sind „Mann und Frau von Anbeginn der Schöpfung an unterschieden und bleiben es in alle Ewigkeit“. Und nicht zufällig hat „der Sohn Gottes“ die „menschliche Natur als Mann angenommen“ (Hvh. Autorin). – So weit die Schriftgläubigen.

Im Gegensatz dazu unterscheidet die moderne (Sexual)Wissenschaft seit der Neuen Frauenbewegung zwischen „sex“ (dem biologischen Geschlecht) und „gender“ (der Geschlechterrolle), und spricht von „fluktuierenden“ sexuellen Präferenzen.

Fluktuierend auch nach Lebensalter. So beweisen Studien, dass Männer stärker in der Jugend zu homosexuellen Kontakten neigen – und Frauen stärker im Alter (Dreimal dürfen wir raten, warum). Will sagen: Ende offen für Guido Westerwelle (41) und Angela Merkel (50).

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