EU-Studie: Jede dritte wird Opfer!

© Isaac Julien
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Die Zahlen sind nicht neu. Und auch nicht die Schlussfolgerung, die Morten Kjaerum von der „Agentur der europäischen Union für Grundrechte“ aus ihnen zieht: „Frauen sind nicht sicher - auf den Straßen, am Arbeitsplatz und schlussendlich auch nicht zu Hause.“ Dennoch ist die Studie, deren Ergebnis die EU jetzt veröffentlichte, ein Meilenstein: Zum ersten Mal wurden Frauen aus allen 28 EU-Mitgliedsstaaten – insgesamt 42.000 - über ihre Gewalterfahrungen befragt. Es dürfte sich also um die größte Gewaltstudie der Welt handeln – wohlgemerkt: die größte Dunkelfeldstudie.

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Mindestens jede dritte Frau hat seit ihrem 15. Lebensjahr schon einmal Gewalt erfahen.

Denn die Untersuchung mit dem Titel „Gewalt gegen Frauen“ beschränkte sich nicht darauf, Anzeigen und Gerichtsurteile auszuwerten – das sogenannte „Hellfeld“. Stattdessen befragten sie die Frauen in Einzelinterviews. Mit erschreckenden Ergebnissen: Mindestens jede dritte Frau hat seit ihrem 15. Lebensjahr schon einmal körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren, mindestens jede fünfte hat diese Gewalt in ihrer Beziehung oder durch den Ex-Mann erlebt.

Jede achte Befragte gab an, schon als Kind oder Jugendliche Opfer von Missbrauch oder sexueller Belästigung geworden zu sein. Jede fünfte Befragte wurde schon einmal gestalkt. Und jede dritte wurde an ihrem Arbeitsplatz sexuell belästigt.

Die Interviewerinnen, die in jedem Land rund 1.500 Frauen zwischen 18 und 74 Jahren befragten, stellten sehr konkrete Fragen nach der erlebten Gewalt: „Hat Sie schon einmal jemand geohrfeigt?“ – „Wurden Sie getreten oder gewürgt?“ – "Hat jemand Sie mit einem Messer verletzt?“ Die Studie liefert also relativ genaue Auskünfte zu Ausmaß und Intensität verschiedener Gewaltformen.

Auch nach psychischer Gewalt wurde gefragt. Hier steht Deutschland, das bei allen anderen Gewaltformen im Mittelfeld liegt, weit vorne: Die Hälfte der Befragten berichteten von (öffentlichen) Demütigungen und Herabsetzungen durch Mann oder Freund, oder von massiven Drohungen: „Ich bringe dich um, wenn…“ oder „Ich bringe die Kinder um, wenn…“

Auffallend ist, dass die skandinavischen Länder in allen Bereichen die meisten Fälle von Gewalt gegen Frauen melden. Die osteuropäischen EU-Staaten hingegen liegen durchweg auf den hinteren Plätzen. „Frauen erleben in diesen Ländern nicht weniger Gewalt. Sie behalten ihr Leid aber eher für sich“, sagt die Gießener Gewaltforscherin Monika Schröttle, die 2004 im Auftrag des Frauenministeriums die letzte große deutsche Dunkelfeld-Studie zum Thema Gewalt gegen Frauen veröffentlichte. So sei zum Beispiel die Zahl der ermordeten Frauen in osteuropäischen Ländern höher als in Westeuropa. Das Bewusstsein, dass die - vor allem in der Ehe - erlittene Gewalt Unrecht ist, hat sich im Westen durch die Frauenbewegung geschärft. „Vor zwanzig Jahren hätten sicher auch hier noch nicht so viele Frauen zugegeben, Gewalt erlebt zu haben.“ Wir müssen also davon ausgehen, dass die Zahl der Gewaltopfer noch höher liegt als ermittelt. Anzunehmen, dass im Schnitt etwa jede zweite Frau in den EU-Ländern schon Gewalt erleiden musste.

9000 Frauen, die Schutz suchten, mussten abgewiesen werden

Nun liegen also auch für Deutschland – zehn Jahre nach der letzten Dunkelfeldstudie, für die 10.000 Frauen befragt worden waren – die Zahlen nochmals auf dem Tisch. Wir dürfen gespannt sein, ob das Frauenministerium von Manuela Schwesig sie als Aufforderung zum Handeln begreift.

Stichwort Frauenhäuser: Noch immer gibt es keine gesicherte Finanzierung der Schutzhäuser. Folge: rund 9.000 Frauen mussten im Jahr 2012 abgewiesen werden, weil keine Plätze vorhanden waren, ergab eine Studie des Bundesfrauenministeriums. „Wir müssen täglich zwei bis drei Frauen ablehnen“, klagt Margarete Kramer vom Bonner Frauenhaus. Das kann tödlich sein. „Machen wir uns nichts vor: Jede Frau, die zu diesem Moment keinen Platz findet, kann am nächsten Tag tot sein“, weiß Brigitte Altenkirch vom Berliner Frauenhaus. Dabei haben sich beide Parteien der Großen Koalition die „institutionelle Frauenhausfinanzierung“ ins Wahlprogramm geschrieben.

Stichwort Stalking: Nur ein winziger Bruchteil der gestalkten Frauen erreicht per Gerichtsverfahren, dass der Täter an weiteren Belästigungen und Bedrohungen gehindert wird. Denn: Das geht nur im Privatklageverfahren, bei dem das Opfer das volle finanzielle Risiko trägt. Zur Straftat wird Stalking erst, wenn die Taten das Opfer „in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigen“. In der Praxis heißt das, erklärt Erika Schindecker von der Deutschen Stalking-Opferhilfe (DSHO), dass "das Opfer Wohnung oder Arbeitsstelle wechseln muss, bevor überhaupt ein Verfahren eröffnet wird". Seit Jahren fordert die DSOH eine Verschärfung des § 238 StGB. 

Nur jede zehnte Vergewaltigung, die angezeigt wird, endet mit Verurteilung.

Stichwort Vergewaltigung: Nur jede zehnte Anzeige eines Opfers endet mit einer Verurteilung, erklärt das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen. Ein Grund dafür ist zweifellos der täterfreundliche § 177 StGB, der Vergewaltigung und sexuelle Nötigung unter Strafe stellt. Das Problem: Das Opfer muss dem Täter massiven Widerstand entgegensetzen.

Immer wieder entscheiden Gerichte, darunter auch der Bundesgerichtshof, dass es nicht ausreicht, wenn das Opfer weint oder Nein sagt. Dies verstößt klar gegen das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“. Diese sogenannte Istanbuler Konvention fordert, dass „nicht einverständliche sexuell bestimmte Handlungen“ unter Strafe gestellt werden müssen. Deutschland hat die Konvention unterschrieben - aber noch nicht ratifiziert. „Sobald das der Fall ist, muss die deutsche Regierung den § 177 ändern!“ sagt Katja Grieger vom „Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe“ (bff).

Immerhin: Vor genau einem Jahr ging das „Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“ an den Start (T 08000/116016, www.hilfetelefon.de). Unter der Notrufnummer können sich betroffenen Mädchen und Frauen rund um die Uhr beraten und an ein Hilfsangebot vermitteln lassen.

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9.000 Frauen abgewiesen

Demo fürs Frauenhaus und für eine verlässliche Finanzierung.
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Die Frauenhäuser schlagen seit Jahren Alarm. Immer wieder müssen sie Frauen und ihre Kinder, die Schutz vor Gewalt suchen,  wegschicken, weil sie aus allen Nähten platzen. 9.000 Frauen fanden 2012 keinen Platz, ergab eine Untersuchung des Bundesfrauenministeriums. Um Weihnachten und Silvester herum dürften wieder besonders viele an die Türen der Frauenhäuser klopfen, denn in diesen Tagen sehen gewalttätige Männer besonders häufig rot. Und wenn die Frau dann – manchmal nach jahrelangem Martyrium - flüchtet, wird es besonders gefährlich.

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„Letztendlich zeigt die Erfahrung, dass genau in diesem Trennungsmoment eine unheimliche Gefährdungssituation für die Frau liegt. Das heißt, dort ist der Schutz am wichtigsten. Und machen wir uns nichts vor: Jede Frau, die zu diesem Moment keinen Platz findet, kann am nächsten Tag tot sein“, erklärt Brigitte Altenkirch vom Berliner Frauenhaus dem Team von Report Mainz, das gerade über die skandalöse Lage berichtete. „Wir müssen täglich zwei bis drei Frauen ablehnen“, bedauert auch Margarete Kramer vom Frauenhaus Bonn.

Das Problem: Die Finanzierung der Schutzhäuser ist völlig ungeklärt. Frauenhäuser sind Länder- oder Städtesache, weshalb der Bund seine Hände in Unschuld wäscht. Deshalb fordern die Frauenhäuser seit Jahren, dass 1. der Schutz von Frauen und Kindern vor Häuslicher Gewalt zur gesetzlichen Pflichtaufgabe wird und 2. es eine bundesweit einheitliche und verlässliche Finanzierung gibt.

Genau das hatten CDU und SPD in ihren Wahlprogrammen konkret versprochen. Im Koalitionsvertrag steht nun nur noch eine windelweiche Formulierung: „Wir werden Gewalt an Frauen und Kinder konsequent bekämpfen und Schutz und Hilfe für alle Betroffenen gewährleisten.“

Na dann: Frohes Fest.        

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Report Mainz

 

 

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