Geburtenrate: Das Ende der Mutti-Politik

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EMMA Januar 1991

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"Warum haben wir so viele Kinder und ihr so wenige?" Die Frage stellt sich uns und unserer Ostberliner Kollegin Gislinde Schwarz. Geraten DDR-Frauen mit ihren Kindern ins Abseits?
Erstes Treffen Ostberliner und Westdeutscher Journalistinnen nach der Grenzöffnung. Wir sind neugierig aufeinander, erzählen von unserer Arbeit, unseren Hoffnungen und Enttäuschungen, unserem Leben. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, stelle meine Frage direkt: Habt ihr denn keine Kinder? Eine einzige in der West-Runde hat. Wir dagegen haben alle, und die meisten sogar zwei oder noch mehr. Verblüffung auf beiden Seiten. Verblüffung und Unverständnis. Ja, warum haben wir so viele Kinder?
Ein Leben ohne Kinder zu planen, war bisher in der DDR fast undenkbar, nur eine(r) von hundert Frauen und Männern dachte so. Die meisten wünschten sich sogar zwei Kinder. Über 90 Prozent aller Frauen in der Ex-DDR wurden tatsächlich Mütter. Wer keine Kinder hatte, konnte in der Regel auch keine bekommen und war darüber tief verzweifelt. Da es Frauen in der Ex-DDR bisher frei stand, selbst über das Austragen einer Schwangerschaft zu entscheiden — Verhütungsmittel waren kostenlos — waren die meisten Kinder scheinbar „Wunschkinder". Kinder gehörten für Frauen einfach zum Leben. So wie der Beruf, und für die meisten ließ sich all dies auch irgendwie vereinbaren. Vor der Entscheidung „entweder — oder" standen wir nicht.
Auch mir selbst wurde der enorme Unterschied zu den meisten BRD-Frauen erst in Gesprächen mit ihnen bewußt: Wir haben uns so selbstverständlich Kinder gewünscht, daß wir oft nicht einmal überlegten, welche Veränderungen ihre Geburt für unser Leben tatsächlich bedeutet! Ein öffentliches Nachdenken gab es schon gar nicht.
Schließlich lag ja auch — mit Krippen, Kindergärten und Schulhorten — ihre Betreuung zu einem guten Teil in den Händen des Staates, und dies auch noch kostenlos. Das Schlagwort „kinderfreundliche Gesellschaft" mußte immer neu bewiesen werden  — und so gaukelten Massenmedien, Filme und Schulbücher immer von neuem vor, wie schön es sei, mit Kindern zu leben. Und vor allem, wie einfach: Überbelastung von Frauen, Kindesmißhandlung, Verzweiflung oder Gleichgültigkeit waren bei uns kein Thema, durften es nicht sein.
Und noch etwas fiel durchaus ins Gewicht: Bei aller Berufstätigkeit galt auch in der DDR die Frau erst dann wirklich als Frau, wenn sie auch Mutter war. Die Familie stand hoch im Kurs — mit ihr verband sich auch der Traum von Individualität, von Selbstverwirklichung: Rückzug aus der Kälte des Staates in die familiäre Wärme.
So wurden die Kinder schnell gewünscht und früh geboren. Frau sah und kannte kaum anderes und wollte dann möglichst schnell selbst diese Erfahrung erleben. Die meisten Kinder kamen vor dem 25. Lebensjahr der Mutter zur Welt. Schwangere über 30 waren — im Unterschied zu anderen westeuropäischen Staaten — in der DDR die riesengroße Ausnahme. Dies bescherte den Kindern sehr junge Eltern und den Frauen die Aussicht, relativ frühzeitig wieder „frei" zu sein.
Allerdings war der Preis dafür hoch, denn die unerfahrenen jungen Frauen waren arg überfordert. Welche Mühsal es — neben aller Freude — auch bedeutete, ein Kind aufzuziehen, wurde uns oft erst bewußt, wenn wir bereits eines hatten, mindestens eins. Immer neuen Versprechungen und Appelle an „unsere Muttis" machten dann trotz aller Schwierigkeiten mit dem ersten dann auch noch ein zweites schmackhaft: bezahltes Babyjahr (lange Jahre war dies erst beim zweiten Kind möglich), höheres Kindergeld, die auf 40 Stunden verkürzte Arbeitswochefür Mütter mit zwei Kindern (und nur für sie!). Treffend wurde das ganze die „Mutti-Politik" genannt...
Also wirklich Wunschkinder? Ja und Nein. Zu einer freien Entscheidung gehört auch das Wissen um deren Konsequenzen. Den Wunsch nach einem Leben ohne Kinder wagte sich kaum eine DDR-Frau einzugestehen, es gab dafür auch kaum Vorbilder. Und überhaupt — wäre sie dann noch eine Frau?
So war das in der (Ex-)DDR. Bis 1989. Heute sieht es anders aus. Was hat sich nur in einem Jahr verändert? Viele Frauen sagen heute offen, daß sie sich vorerst kein (weiteres) Kind wünschen, lieber abwarten. Allerdings ist auch dies bei den wenigsten eine freie Entscheidung — auch sie wurde durch die Umstände erzwungen.
Ein Kind in solch unsicheren Zeiten, bei drohender Arbeitslosigkeit, fehlenden Kindertagesstätten, wachsenden Kosten, unsicheren Vätern? Immer mehr Frauen lassen sich sterilisieren (früher war dies nur bei eindeutiger medizinischer Indikation möglich), die Kliniken sind überlastet. So wie von der steigenden Zahl der Schwangerschaftsabbrüche. Ab Januar 1991 werden auch in der Ex-DDR die Kosten für Pille und Spirale selbst getragen werden müssen.
Eine Umfrage des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung vom Frühjahr 1989 zeigt: Während jahrzehntelang 99 Prozent der Lehrlinge antworteten, daß sie sich auf jeden Fall Kinder wünschen, wollten jetzt 5% gar keine, 17% wußten es noch nicht, und 25% wollten höchstens eins.
In Sachen Kinderwunsch nähern sich die beiden Deutschlands rasant einander an.

Gislinde Schwarz, EMMA 1/1991

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