Eine Frauenstimme aus Ägypten

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Ich nahm die alten, von antiken Gebäuden gesäumten Straßen nicht wahr und ich bemerkte den Geruch nicht, der von tausenden Jahren der Geschichte und der Veränderung zeugte. Ich versuchte lediglich, nervös den Blicken auszuweichen, die über meinen Körper fuhren und zog mich in mich selbst zurück. Ich ging so schnell ich konnte, um den starrenden Augen zu entfliehen. Das war vor dem Januar 2011, als ich lediglich ein ungebetener Gast auf den Straßen meines eigenen Landes war; als Frau, die sich weigerte, sich hinter weiten Gewändern und schwarzem Stoff zu verstecken.

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Schließlich brachen die Aufstände des 25. Januar 2011 los. Wir besetzten den Tahrir-Platz, zu meiner Überraschung zusammen mit Männern, die mir in die Augen blickten und nicht meinen Körper begafften und die mich ohne weiteres akzeptierten. Auf dem Tahrir-Platz waren wir alle nur Ägypter, keine Frauen oder Männer. Eine Frau musste nicht um sich schauen, bevor sie sich schlafen legte oder auf der Hut vor grapschenden Händen sein.

Auf meinem Weg zum Tahrir-Platz entdeckte ich die Architektur Kairos in all ihrer Pracht neu und bewunderte die Andenken und Hinterlassenschaften einer Geschichte, die davon zeugte, dass das Herz Kairos seit ewigen Zeiten für die Freiheit schlug, für eine Nation als Heimat aller hier lebenden Menschen. In den ersten 18 Tagen des Aufstandes erkundete ich die Straßen und nahm die Geschehnisse in mir auf. Einige entfielen mir wieder, doch andere sind mir lebhaft in Erinnerung: In einer Straße lernte ich Mayy kennen, die junge Frau, die einen Altersgenossen aus der Gefahr zog und ihn vor dem sicheren Tod rettete. In der Talaat-Harb-Straße traf ich „Mama Khadija“, eine Dame in ihren Sechzigern, die zur kollektiven Mutter wurde, in dem sie ihr Herz und ihr Heim für alle weit öffnete, Bedürftigen half, sich den Sicherheitskräften bei Verhaftungen in den Weg stellte und Flüchtige versteckte. In der Muhammad-Mahmud-Straße erinnere ich mich an frische Blutspuren und die langen Locken einer Jugendlichen, die brutal von den Sicherheitskräften zusammengeschlagen wurde.

Schließlich trat Mubarak zurück und wir verließen den Tahrir und die umliegenden Straßen, doch ich blieb ein anderer Mensch: Ich fürchtete die Straßen Ägyptens nicht mehr, hastete nicht mehr auf meinem Weg entlang, wich den Menschen nicht mehr aus. Ich erhob mein Haupt und blickte die Männer direkt an und reagierte scharf auf jeden, der mir einen unverschämten Blick oder ein dummes Wort entgegenwarf. Ich war mir meiner Rechte bewusst.

Doch nachdem sich der Militärrat an die Macht geputscht hatte und der Gestank nach einer von außen und innen geplanten Verschwörung immer stärker wurde, begannen die Menschen ihrer eigenen Revolution zu misstrauen. Die Angst ging um, ein neues und noch brutaleres Regime etabliert zu haben. Auch die Straßen kehrten langsam aber stetig wieder zu ihrem alten Zustand zurück: Schamlose, durchdringende Blicke auf jeden weiblichen Körper und begleitende Kommentare, die zwischen purer Idiotie und verbaler Bedrohung schwankten. Auch die armen Jugendlichen kehrten auf die Straße zurück und fanden in den Frauen wieder ein einfaches Ventil für ihren Frust und ihre Verzweiflung.

In der Regel sind es Jugendliche ohne jegliche Chance auf Bildung und Charakterentwicklung, Jugendliche aus den Abgründen unfassbarer Armut und sicherer Arbeitslosigkeit. Es sind Jugendliche, denen die Medien den Kopf verdrehten und denen irgendein Scheich erklärte, der Körper der Frau sei Sünde und Versuchung. Eine Studie der amerikanischen Organisation „USAID Egypt“ in Zusammenarbeit mit dem ägyptischen Nationalrat der Frauen (NCW Egypt) schockierte schon im Jahre 2009 die ägyptische Öffentlichkeit: 72 Prozent der verheirateten Frauen und 94 Prozent der unverheirateten Frauen gaben an, Opfer verbaler sexueller Belästigung gewesen zu sein. Und fast zwei Drittel der unverheirateten jungen Männer in Kairo und Alexandria gaben zu, bereits selbst Frauen verbal belästigt zu haben. Ein Gesetz gegen Gewalt gegen Frauen sollte verabschiedet werden. Es blieb jedoch bei der Planung. Nach der Machtergreifung durch die Muslimbrüder scheint die Verabschiedung eines solchen Gesetzes ein schöner, aber unrealistischer Traum zu sein.

Noch gehen die Frauen in Ägypten selbstverständlich zur Arbeit, und noch immer füllen die Studentinnen die Hörsäle der Universitäten. Nichts hat sich geändert, außer der Furcht am Horizont: Die Furcht vor Gesetzen, die die Frauen in Fesseln legen. Die Furcht, dass das gesetzliche Mindestalter zur Heirat gesenkt und die Genitalverstümmelung von Frauen wieder legalisiert wird; dass die Frauen der Muslimbrüder und ihre Ehemänner im Parlament verkünden, Frauen trügen selbst Schuld an den Belästigungen, da sie mit ihrer freizügigen Kleidung die Männer verführten; die Furcht vor einer drohenden Revision aller Gesetze, für die die Frauenbewegung so lange gekämpft hat.

Doch die größte Furcht kam auf, als Vergewaltigung zur Waffe wurde und der Missbrauch des weiblichen Körpers ein Mittel zur Abschreckung von Demonstranten. Im Schatten des alten Systems wurden politische Aktivistinnen regelmäßig von Sicherheitskräften misshandelt und gedemütigt und waren permanent der Gefahr der Vergewaltigung ausgesetzt. Doch im Schatten des Muslimbruder-Systems bleibt es nicht bei der Bedrohung. Vergewaltigungen sind eine allgegenwärtige, organisierte Realität geworden, begangen von zwielichtigen Gruppen unter Anleitung des Sicherheitsapparats der Muslimbrüder. Diese stramm organisierten Gruppen dringen in Demonstrationen ein, mit immer ähnlicher Vorgehensweise: Eine Frau wird von ihrer Begleitung abgetrennt, dann umstellt und mit Messern bedroht und schließlich sexuell attackiert.

Was war passiert? Die Muslimbrüder hatten sich Unterstützung von außen gesichert, während sie im Inneren des Landes mit „Säuberungsaktionen“ begannen. Da das ägyptische Volk, wie alle Völker der Erde, aus verschiedensten gesellschaftlichen Schichten und Strömungen besteht, beschloss die Bruderschaft die Einsetzung der altbewährten Waffe, die alle Strömungen und Schichten umfasst: die Waffe der Angst.

Angst hat eine lange Geschichte in der Region, aus der die drei großen Religionen entstammen, die besonderen Wert auf Gehorsam legen. Die Furcht vor Gott und dem weltlichen Herrscher ist tief verwurzelt, und es lässt sich leicht darauf aufbauen. Mubarak war einer der Meister dieses Faches und es gelang ihm, einen Unterdrückungsapparat aufzubauen, der alle verfügbaren Formen der Gewalt nutzte, um Furcht aufzubauen und zu konsolidieren. Der durchschnittliche Ägypter und die durchschnittliche Ägypterin wissen sehr genau, dass Frauen in Gefängnissen regelmäßig vergewaltigt werden und Frauen in so gut wie jeder Polizeiermittlung sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren und sind. Sie wissen auch, dass die Drohung mit Vergewaltigung von weiblichen Familienmitgliedern ein offen zugegebenes Mittel ist, um einen Mann zum Geständnis welcher Straftat auch immer zu bringen.

Der organisierte Missbrauch weiblicher Aktivisten jedoch begann erst nach der Januar-Revolution und stieg an bis zum Juni 2011. Als sich die Frauen jedoch auch davon nicht von der Beteiligung an Demonstrationen abhalten ließen, wurde die Belästigung immer stärker und brutaler, bis die Grenze der organisierten Vergewaltigung überschritten wurde und vergangenen Januar, am zweiten Jubiläum der Revolution, ihren traurigen Höhepunkt fand: An nur einem Tag wurden allein auf dem Tahrir-Platz 19 Frauen Opfer von Vergewaltigungen.

Die Botschaft war deutlich, allgemeine Furcht griff um sich. Aber es erwachte auch der Widerstand. Die Demonstrationen hörten nicht auf und sie werden nicht aufhören. Die Frauen verschwanden nicht im Schutz der eigenen vier Wände und werden sich nicht verstecken. Die Akzeptanz für Frauen innerhalb der Demonstrationen ist signifikant gestiegen und Frauen spielen heute eine gleichwertige Rolle neben den männlichen Demonstranten. Zum ersten Mal in Ägypten überhaupt wurden Selbstverteidigungskurse für Frauen organisiert, alle Wartelisten sind völlig überfüllt. Im Juni 2012 gewann das Projekt der „HarassMap“ den  „Best oft the Blogs“ (BoBs) – Award der Deutschen Welle für ‘Best Use Of Technology For Social Good 2012’. Das Projekt berichtet vertraulich über sexuelle Übergriffe und bietet Rechtshilfe für die Opfer. Eine Karte Ägyptens zeigt besonders gefährliche Gegenden, um vermehrtes Vorkommen von Übergriffen sichtbar zu machen.

Und der Widerstand der Frauen endet nicht beim Kampf gegen Missbrauch und sexuelle Gewalt. Er umfasst verstärkte Einbindung in die Parteien der Opposition, in künstlerische Bewegungen sowie in studentische und zivilgesellschaftliche Organisationen. Die Wut hat sich zur Triebkraft gewandelt, die die Straßen Ägyptens mit den Stimmen und dem Gesang der Frauen füllt: „Die sexuelle Gewalt gegenüber Frauen, besonders auf dem Tahrir-Platz, ist eine klare politische Botschaft mit dem Ziel uns einzuschüchtern“, sagt Sally Dihni, Aktivistin zum Schutz von Frauen vor sexueller Gewalt, und selber Opfer von Vergewaltigung. „Doch dieser Versuch, uns einzuschüchtern, wird nicht funktionieren. Jetzt sind wir erst recht wütend und werden umso beharrlicher weitermachen! Wir werden nicht verstummen!“

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