Nicolette Krebitz: Angekommen

Krebitz präsentiert auf der Berlinale ihren Film "A E I O U - das schnelle Alphabet der Liebe". Foto: Vianney Le Caer/Invision/AP/dpa
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Wie sie so durch den langen Gang eines Cafés in Berlin-Mitte geht, zwei Tragetaschen mit dem Label eines exquisiten Ladens in der Hand, sieht sie aus wie eine wohlhabende Touristin auf Shopping-Tour. Am Tisch angekommen, fällt alles Mondäne von ihr ab. Ein offenes, blankes Gesicht, der Blick aus dunkelbraunen Augen freundlich und direkt. Sie bestellt Eier im Glas. Ohne Schnittlauch bitte.

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Nicolette Krebitz ist Regisseurin und Schauspielerin, letzteres immer seltener, sie hat ihre Gründe. Vor 22 Jahren, als sie noch nicht Regisseurin war, sind wir uns schon einmal begegnet. Das Resultat von damals liegt wie ein Beweisstück auf dem Tisch. Mit einem Foto von ihr, in einer Art Schulmädchen-Uniform, karierter Rock, dazu sehr nackte Beine und ein halb geöffneter Mund. Ein Szenenbild aus dem Film „Long Hello and Short Goodbye“. „Meine Figur in diesem Film war schon angefeuert von einer sexuellen Fantasie eines Autors, eines Regisseurs und des Kinos. Ich habe mich darin bewegt und zugleich widersetzt. Denn eigentlich“, sagt sie, „habe ich schon damals Regie geführt. Und das hatte zur Folge, dass es von mir als Schauspielerin hieß, ich wäre anstrengend.“

Sophie Rois und Milan Herms im neuen Krebitz-Film "A-E-I-O-U - das schnelle Alphabet der Liebe". Foto: Reinhold Vorschneider
Sophie Rois und Milan Herms im neuen Krebitz-Film "A-E-I-O-U - das schnelle Alphabet der Liebe". Foto: Reinhold Vorschneider

Zeitenwechsel. In zwanzig Jahren ist viel passiert. Nicolette Krebitz hat sich freigeschwommen, trat aus all den Zuschreibungen und Beschränkungen heraus. Sie war so vieles: Kinderstar, Tanz- und Schauspielschülerin, Hoffnung des deutschen Autorenkinos oder was davon in den 1990er Jahren übrig war. Songkomponistin und Poster-Girl des kommerziell höchst erfolgreichen Musikfilms „Bandits“, in dem sie eine Bassgitarristin namens „Angel“ spielte. Und tatsächlich lechzte ein Filmjournalist auch Jahre später noch nach dem „Engelhaften, das die Krebitz so bezaubernd macht“. Aufgewachsen im bürgerlichen Westberliner Bezirk Wilmersdorf, galt sie zu Beginn der 2000er Jahre als coolste Socke der Mitte-Community. Die Bands Fettes Brot und Tocotronic widmeten ihr ein Lied.

Dann wurde es eine Weile ruhiger um „Coco“, wie ihre FreundInnen sie nennen. Ihr Sohn wurde geboren, ein paar Jahre lang zog sie ihn alleine groß. Wie hat sie diese Zeit erlebt? „Ich war überrascht, wie hart ich darum kämpfen musste, Zeit für meinen Beruf zu haben. Man denkt vorher, das kriegt man schon irgendwie hin. Ich habe es nur hingekriegt, weil mir viele Frauen halfen. Frauen aus der Familie und Frauen, die ich bezahlt habe.“

Noch vor der Geburt ihres Sohnes hatte sie ihren ersten Film als Regisseurin realisiert: „Jeans“, einen flirrenden Reigen über einen Berliner Sommer, finanziert von ihr selbst.

Längst hat sich Nicolette Krebitz als Regisseurin durchgesetzt, hat drei weitere abendfüllende Filme und einen Kurzfilm gedreht. Ihr jüngstes Werk mit dem etwas sperrigen Titel „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ lief im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale und läuft gerade in den Kinos.

So unterschiedlich ihre Filme sind: Alle kreisen um Frauen. Um  solche, die aus sich selbst heraus agieren, manchmal traumwandlerisch, manchmal mit obsessiver Konsequenz. Es sind komplexe Charaktere, undurchdringlich und rätselhaft. Frauen, wie die moderne Medea in „Das Herz ist ein dunkler Wald“ (2007), gespielt von Nina Hoss. Frauen wie die junge IT-Spezialistin in „Wild“ (2016), gespielt von Lilith Stangenberg, die mitten in einer Plattenbausiedlung in Halle-Neustadt eine Beziehung mit einem Wolf eingeht und die Zivilisation verlässt. Dafür wurde die Regisseurin gefeiert und geradezu inflationär mit dem Etikett „radikal“ versehen.

Das scheint nun anders. Jedenfalls auf den ersten Blick. Im Mittelpunkt steht Anna, eine Schauspielerin, gespielt von Sophie Rois. Ein junger Dieb, gespielt von Milan Herms, klaut ihr die Handtasche und stolpert später als Schüler in ihre spartanische Wohnung. Aus der Resozialisierung per Sprechunterricht wird eine Liebesgeschichte, angesiedelt zwischen einem altmodischen Westberlin und einer ebenso unwirklichen Côte d’Azur. „Die schönste halbe Stunde der Berlinale jauchzte ein Kritiker über die Frankreich-Szenen des Films. Und es stimmt ja. Es sieht alles so leicht aus, so hell, so verspielt. Wie dieses Paar im Café an der Promenade sitzt und sich die Zeitung teilt, mit Blick auf das Meer. Am liebsten nähme man den nächsten Zug nach Nizza, so verführerisch ist dieses Bild.

Als Jugendliche hat Nicolette Krebitz viele französische Filme gesehen, in einer Art Doppelbeobachtung. Spät abends sah sich ihre Mutter diese Filme im Fernsehen an. „Und dann hat sie sich immer so verändert, hat geraucht und sich ganz anders bewegt. Ich fand das wahnsinnig interessant.“

Dass ihr Film schön ist, hat die Regisseurin oft gehört. Vielleicht ein wenig zu oft. „Ich finde den Film auch schön“, sagt Nicolette Krebitz, „aber ich denke, dass unter der Schönheit auch ein paar wichtige Provokationen versteckt sind.“ Abgesehen davon, dass Provokationen oft mehr über den Zustand des Provozierten aussagen als über den Provokateur: Ein Tabubruch liegt ganz offen da: Anna ist 60, ihr Liebhaber noch keine 20 Jahre alt. Aber statt nun permanent den Altersunterschied zwischen den beiden zu thematisieren, gibt Nicolette Krebitz ihnen einen Raum, in dem das keine Bedeutung hat. „Du bist perfekt“, sagt er in ihrer ersten Liebesnacht zu ihr. Und Annas Erzählerstimme kommentiert aus dem Off: „Es gab keine Geschichten, in denen sie sich wiederfanden.“

Und was ist mit „Harold & Maude“ aus dem Jahr 1971, der melancholischen Komödie, in der ein 18-jähriger Mann eine 79-jährige Frau liebt? „Vielleicht würde es unseren Film ohne diesen Film nicht geben. Aber er hat mich beim Schreiben oder in der Vorbereitung nicht speziell begleitet.“ Krebitz nennt eine Reihe von Filmen, die ihr wichtig sind, es sind so unterschiedliche wie „Die blonde Sünderin“ von Jacques Demy, „Jeanne Dielman“ von Chantal Akerman und „Teorema“ von Pier Paolo Pasolini. Und dann gibt es diese Schauspielerinnen, die sie anregten. „Jeanne Moreau, Romy Schneider, Silvana Mangano – als sich im Film bewegende, denkende und sprechende Frauen.“

Geht es Krebitz darum, ganz nebenbei die Utopie einer Gesellschaft zu entwerfen, in der Frauen, egal welchen Alters, ganz selbstverständlich anwesend sind, auch mit ihrem Begehren? Ja, aber ihr Programm sei es nicht. „Für mich ist Film schon eine Art Traumfabrik“, hat sie einmal gesagt. Doch Nicolette Krebitz ist eine sehr wache Träumerin. Mit leicht konsumierbarer Wirklichkeitsflucht haben ihre Filme nichts zu tun. „Ich wollte, dass man wie in einem Taumel plötzlich ein anderes Weltbild bejaht.“

Die Eleganz dieses Films ist in gewisser Weise ein Köder. „Ich wollte die Dinge so zeigen, wie ich sie gern sehen würde. Dass diese Frau sich erlaubt, von einem vierzig Jahre jüngeren Mann geliebt zu werden, wird im Laufe des Films immer natürlicher. Und ja, es soll leicht und schön sein und auch Spaß machen, ihnen dabei zu zuschauen. In der Welt, in der wir leben, sind wir aber noch nicht so weit. In meinem Film wollte ich eine Welt zeigen, wie ich sie mir wünsche.“

Einmal zum Beispiel gucken die beiden sehr gelangweilt ein Fernsehinterview, das Anna gegeben hat. Da hacken zwei längst nicht mehr junge Moderatoren permanent auf Annas Alter herum. Beleidigen sie mit Phrasen, die sie Komplimente nennen. Anna entlarvt die Infamie der beiden mit einem treffenden Satz: „Ich werde hier binnen Sekunden von der Schauspielerin zur Animierdame.“

Zielsicher sticht Nicolette Krebitz in die Ungeheuerlichkeiten einer nur vordergründig egalitären Medienwelt hinein. Die Szene erzählt auch, warum die Regisseurin ihrer Anna keinen gleichaltrigen Mann als Gegenüber gab. „Was einem von Männern dieser Generation oft entgegenkommt, wie sie geprägt sind von ihren Helden und Erfahrungen, ihrem Stand in der Gesellschaft – all das ist für jüngere Männer und uns Frauen heute nicht mehr relevant. Wir sind da schon ganz woanders angekommen. Und wir haben auch keine Lust mehr auf immer wieder dasselbe.“ Und noch etwas: „Oh ja, es gibt Ageism“, sagt Nicolette Krebitz, Altersdiskriminierung. „Besonders im Kino, im Fernsehen, in der Werbung, und auch im Theater. Frauen ab etwa fünfzig kommen als liebende oder sexuelle Wesen nicht mehr vor, dabei sind wir und Ältere die HauptkonsumentInnen dieser Erzählungen. Und wir sollten uns unsere Geschichten nicht einfach aus der Hand nehmen lassen.“

„Das Begehren einer Frau über fünfzig scheint als irgendwie unangenehm empfunden zu werden. Die Leute wollen das angeblich nicht sehen. Aber wer sind diese ‚Leute‘. Ich glaube, es sind vor allem ältere Männer. Sie würden das natürlich niemals sagen oder schreiben, weil sie ja wissen, dass das nicht geht, aber tief innen hegen sie Abneigung und Aggression gegen das weibliche Verlangen jenseits der Fruchtbarkeit.“ Ruhig sagt Krebitz das, mit ihrer tiefen, voluminösen Stimme.

„Diese Ablehnung wird in unserem Film nicht thematisiert, zeigt sich aber zum Beispiel in der Abwehr, den Film zu finanzieren“, sagt sie. „Wo Männer an der Spitze einer Filmförderung saßen, haben wir keine Förderung bekommen. Wo Frauen in verantwortlichen Positionen waren, haben wir eine Förderung bekommen.“

Nicolette Krebitz gehörte zu den Erstunterzeichnerinnen der Initiative „Pro Quote Film“, die seit 2014 für Geschlechtergerechtigkeit in der Film- und Fernsehbranche kämpft. Ebenso wie die Regisseurin und Produzentin Maren Ade („Toni Erdmann“), die zusammen mit Janine Jackowsi und Jonas Dornbach „A E I O U“ mit der gemeinsamen Firma „Komplizen Film“ produzierte. Mit großem Respekt für die Arbeit der Regisseurin. „Uns war wichtig, dass sie den Film machen kann, den sie machen wollte. Die künstlerische Hoheit lag allein bei ihr.“

Die ProduzentInnen beobachten Krebitz’ Entwicklung schon lange, sie schätzen ihre „spezielle Art zu schreiben und ihre ganz eigene Filmsprache“. Jonas Dornbach sagt: „Man kennt so viele Geschichten, wo es andersherum ist, junge Frau und älterer Mann. Und ich kann mir vorstellen, dass gerade ältere Männer auf diesen Film komisch reagieren.“ Janine Jackowski ergänzt: „Es ist krass, wie viele Schauspielerinnen von der Leinwand verschwinden, wenn sie über 50 sind. Wir müssen daran arbeiten, dass sich das ändert.“

Nicolette Krebitz hat nie eine Filmhochschule besucht. Vielleicht entwirft sie ihre Welten gerade deshalb so frei. Aber eine Einzelgängerin ist sie deshalb noch lange nicht. Sie hat Verbündete, viele von ihnen sind Frauen. Die Regisseurin Valeska Grisebach, bei „A E I O U“ auch dramaturgische Beraterin. Die Regisseurin und Schauspielerin Maria Schrader, die Schauspielerin und Musikerin Jasmin Tabatabai, enge Freundin über Jahrzehnte. Und natürlich Maren Ade, nicht nur als Produzentin, sondern auch als Kollegin. „Sie war an den entscheidenden Prozessen dabei, hat Feedback gegeben, war unterstützend.“ Sie alle sind Inspiration und Regulativ aber auch Rückendeckung.

In früheren Jahren hat Nicolette beobachtet, wie das bei Männern funktioniert: „Wenn ein Regisseur Vater wird, sagen die Männer in den Sendern und Redaktionen: Komm, der ist gerade Vater geworden, der braucht den Job. Wenn eine Regisseurin ein Kind bekommt, sagen sie und leider auch Frauen: Oh die kann gerade nicht, die ist gerade Mutter geworden. Wir achten nicht aufeinander. Dabei wäre es gerade dann wichtig zu sagen: Komm, gib ihr den Job, es ist wichtig, dass sie am Ball bleibt, sonst ist sie weg und macht keine Filme mehr.“

Wenn Frauen weiterhin ihre Geschichten erzählen wollen, müssen sie einander helfen, davon ist Nicolette Krebitz überzeugt. „Frauen fallen schnell durchs Raster, wenn sie ein bisschen unbequem sind. Deshalb ist es so wichtig, dass wir zusammenhalten.“

CHRISTINA BYLOW

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