Das Tabu: Happy Abortions

Amelia Bonow bekannte in der Kampagne „Shout your Abortion“: Es war eine glückliche Erfahrung.
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"Vor ungefähr einem Jahr hatte ich eine Abtreibung bei Planned Parenthood auf der Madison Avenue. An diese Erfahrung erinnere ich mich mit einem Ausmaß an Dankbarkeit, das ich fast nicht in Worte fassen kann. Viele Menschen glauben noch immer, dass Abtreibung für eine ‚gute‘ Frau von Gefühlen wie Trauer, Scham oder Reue begleitet sein sollte. Aber wissen Sie was? Die Abtreibung hat mich auf eine gewisse Weise glücklich gemacht. Warum sollte ich mich auch nicht darüber freuen, dass ich nicht gezwungen wurde, Mutter zu werden?“

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Dieses Statement von Amelia Bonow war im Jahr 2015 der Startschuss für eine aufsehenerregende Twitter-Kampagne: #ShoutYourAbortion. Schrei deine Abtreibung heraus! Am Tag zuvor hatte das US-Repräsentantenhaus der Organisation Planned Parenthood, eine Art amerikanische Pro Familia, die Gelder gekürzt.

Amelia und zwei Dutzend Mitstreiterinnen stellten daraufhin per Video ihre Abtreibungs-­Geschichten ins Netz. „Ich habe meine Abtreibung nie bereut“, erzählte Oana. „Ich war nicht unglücklich, nicht wütend und habe mich auch nicht verletzt gefühlt“, beschrieb Samie. Dann war kein Halten mehr.

Binnen 24 Stunden wurde #ShoutYourAbortion 100.000 Mal geklickt, bald darauf waren es 250.000 Klicks. Noch heute, vier Jahre nach Kampagnenstart, berichten Frauen unter dem Hashtag über ihre Erfahrungen mit ihrem Schwangerschaftsabbruch – und begehen damit einen ungeheuerlichen Tabubruch. Denn sie alle verstoßen gegen ein wirkmächtiges Gebot. Es lautet: Du sollst dich für deine Abtreibung schämen und sie soll eine der schlimmsten Erfahrungen deines Lebens gewesen sein.

Auch wenn in fast allen Ländern der westlichen Welt Schwangerschaftsabbrüche seit Jahrzehnten legal sind, so gilt dennoch – oder gerade deshalb – ein ungeschriebenes Gesetz: Über ihre Abtreibung spricht frau nicht. Und wenn doch, dann soll es eine Erzählung von Schuld, Scham und Schmerzen sein.

Kein Wunder also, dass Erica Millar ihr Buch mit dem Zitat von Amelia Bonow beginnt. Denn nach Frauen wie Amelia, die ihre Abtreibung frank und frei als eine „glückliche“ Erfahrung beschreiben, hat die australische Gender-Wissenschaftlerin ihr Buch benannt: „Happy Abortions“. Ein provokativer Titel? Sicher. Aber nur solange, bis man von Erica Millar die Fakten erfährt.

Erstens: Jede dritte Frau entscheidet sich im Laufe ihres Lebens für (mindestens) eine Abtreibung. Zweitens: Für den größten Teil dieser Frauen ist, das zeigen zahlreiche Studien, der Schwangerschaftsabbruch nicht mit negativen Gefühlen verbunden, sondern mit positiven. Drittens: Dennoch darf es die „glückliche Abtreibung“ nicht geben. Wissenschaftliche Untersuchungen über die öffentliche Darstellung von Abtreibung kommen zu dem Ergebnis: Abtreibung wird „in der überwältigenden Mehrheit der Fälle mit negativen Begriffen verknüpft, die von unangenehm bis entsetzlich reichen“.

Millar stellt fest: „Gefühle, die Abtreibung als eine für Frauen positive und gute Erfahrung darstellen – etwa Erleichterung, Glück, Hoffnung und Dankbarkeit – werden in öffentlichen Diskussionen über Abtreibung normalerweise ignoriert, unterdrückt oder abgestritten.“ Stattdessen betonten „die gesellschaftlich akzeptierten Formen des Sprechens über Abtreibung Gefühle wie Trauer, Reue, Schuld, Scham und Not und stellen Abtreibung als ein Unglück oder gar eine für Frauen schädliche Erfahrung dar“.

Und das ist natürlich kein Zufall. Sondern, so Reproduktions-Forscherin Millar, die Fortsetzung der alten restriktiven Abtreibungspolitik mit anderen, subtileren Mitteln. Zwar ist ein offenes Abtreibungsverbot nach den (weitgehend) erfolgreichen Kämpfen der Frauenbewegung in Westeuropa und den angloamerikanischen Ländern heutzutage nicht mehr denk- und durchsetzbar. Zwar riskiert eine Frau bei einer Abtreibung nicht mehr wie früher in den Hinterzimmern der „Engelmacherinnen“ ihr Leben. Aber es gibt auch in Zeiten liberaler Abtreibungsgesetze immer noch ausreichend Drohpotenzial: Die Strafe für eine Abtreibung besteht, so wird suggeriert, grundsätzlich und unvermeidlich in Unglück, Depression und lebenslanger Trauer.

An vorderster Front bei der Verbreitung dieser Falschmeldung stehen natürlich die christlichen Fundamentalisten. Die so genannten Abtreibungsgegner wechselten – nachdem ihre Frontalangriffe auf das Recht auf Abtreibung nicht mehr funktionierten, weil sich Frauenbewegung sei Dank das gesellschaftliche Klima gewandelt hatte – in den 1980er-Jahren die Strategie. Statt die sündigen Frauen zu verteufeln, täuschten sie nun Sorge um ihr Wohlergehen vor. Ausgehend von ihrem Stammland USA, gründeten sie Organisa­tionen wie „Women Hurt by Abortion“ oder ­„Victims of Abortion“. Sie lancierten das „Post-­Abtreibungs-Syndrom“ (PAS), ein „chronisches Trauer-Syndrom“, unter dem angeblich jede Frau nach einer Abtreibung leidet, und das „zu Depressionen, Aggressionen und Persönlichkeitsveränderungen führen kann“. Leidet eine Frau nicht unter solchen Symptomen, sei das ein sicheres Zeichen für Verleugnung und Verdrängung des Abtreibungs-Traumas und damit wiederum ein Schlüsselsymptom für PAS.

Begründet werden solche Erkenntnisse mit fragwürdigen Studien wie der der australischen Anti-Abtreibungs-Aktivistin Melinda Tankard Reist. Titel: „Giving Sorrow Words“ (Dem Kummer Worte geben). Reist ist Mitbegründerin des 2006 gegründeten „Women’s Forum Australia“ (WFA). Das WFA kommt auf den ersten Blick als ganz normale Frauenorganisation daher, deren „Vision“ eine „Gesellschaft ist, die die Würde aller Frauen respektiert und fördert“. Die WFA kämpft allerdings auch „für die Würde jedes menschlichen Lebens und erkennt an, dass Frauen eine einzigartige Rolle dabei spielen, Leben zu nähren und zu erhalten“. Ein Weg, die „Werte“ der WFA zu vermitteln: „evidenzbasierte Forschung“.

Die Forschungsergebnisse von Melinda Tankard Reist, die nach eigener Aussage 250 Frauen über die Folgen ihrer Abtreibung befragt hatte, ergaben ein desaströses Bild: Depressionen, Selbstverletzungen, Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Suizidversuche. Reist, die ihre „Studie“ als neutral und objektiv präsentierte, behauptete, „intensiv“ nach Studienteilnehmerinnen gesucht zu haben. Es stellte sich allerdings heraus, dass die „Forscherin“ ihre Suchanzeigen nur in christlich-konservativen Publikationen geschaltet und dort explizit nach Frauen gesucht hatte, die „nach ihren Abtreibungen Schmerz, Verlust und Reue empfanden“. Das hinderte Reist jedoch nicht daran, ihre Studie PolitikerInnen vorzustellen und auch in den Medien fand „Giving Sorrow Words“ breiten Anklang.

Die Strategie der AbtreibungsgegnerInnen geht auf. Längst haben PolitikerInnen die Anti-Abtreibungsrhetorik übernommen, die sich als Sorge um die psychische und physische Gesundheit der ungewollt schwangeren Frau tarnt – die im Duktus der AbtreibungsgegnerInnen bereits als „Mutter“ bezeichnet wird, ebenso wie der Embryo als „Kind“. So erklärte zum Beispiel der liberale australische Gesundheits- und spätere Premierminister Tony Abbott, jede Abtreibung sei „eine Tragödie“.

Also verwundert es nicht, dass Frauen ihre Abtreibung zwar selten als so traumatisierend empfinden wie die selbst ernannten „Lebensschützer“ und so mancheR PolitikerIn das gerne hätten. Dennoch macht ihnen, so zeigen Untersuchungen, etwas heftig zu schaffen: Die Sorge darum, „nicht grausam, herzlos, kalt, egoistisch oder distanziert zu erscheinen“.

Denn all das muss eine Frau wohl sein, wenn sie sich dagegen entscheidet, Mutter zu werden – und mit dieser Entscheidung in Frieden ist. ­Mutterschaft, so Gender-Forscherin Millar, gelte schließlich immer noch als „das wahre Glücksversprechen“, auf das das Leben einer Frau ­aus­gerichtet sein sollte. Eine Frau, die abtreibt, kann sich folglich „nur wieder mit der Norm in ­Einklang bringen, indem sie die Abtreibung als schwierig, unangenehm und verletzend beschreibt“.

Mit der Realität hat das allerdings nicht viel zu tun. „Bemerkenswerterweise hat das vorherrschende emotionale Narrativ kaum Korrelationen zu Studien über weibliches Erleben von Abtreibungen. Wie bereits erwähnt, ergibt sich aus diesen Studien, dass Abtreibung überwiegend als positive und gewinnbringende Erfahrung wahrgenommen wird.“ Also: Shout your abortion!

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