Handwerkerinnen: Auf dem Vormarsch

Artikel teilen

Lilly Wiegel wurde der Hammer quasi in die Wiege gelegt. Ihr Vater ist Dachdecker, hat sie schon als Kind oft mit auf die Baustelle genommen. Nach der Dachdeckerlehre hat Lilly die Meisterschule besucht, „Das war praktisch, dann musste ich nicht doppelt für die Theorie lernen!“ Und heute ist sie mit 21 eine der jüngsten Dachdecker-Meisterinnen Deutschlands. „Ein Dach mit den eigenen Händen zu decken, ist ein tolles Gefühl“, sagt die Wittmarerin. Irgendwann wird sie die Dachdeckerei des Vaters übernehmen, bis dahin steigen die zwei noch gemeinsam aufs Dach.

Anzeige

Lilly Wiegel ist quasi der Prototyp der Generation „Frau im Handwerk“. Noch nie haben so viele Töchter den eigenen Familienbetrieb übernommen wie heute – und zwar in allen Gewerken: Metallbau, Zimmerer- und Holzbau, Anlagenmechanik, Elektrotechnik und eben Dachdeckerarbeiten. Sie hämmern, schweißen, schrauben, bohren, fliesen, hobeln, lackieren, tapezieren, filetieren … Und würde da nicht manchmal ein Zopf unter dem Helm hervorgucken, die Schulter nicht ganz so breit wirken und der Stahlkappenschuh ein wenig kleiner ausfallen, sähe man keinen Unterschied unter den Geschlechtern auf dem Bau oder in den Werkstätten.

„Die jungen Frauen, die ins Handwerk wollen, die wollen wirklich!“, sagt Christina Völkers. Sie ist die Leiterin der Koordinierungsstelle für Frauenförderung in der Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade, der flächenmäßig größten Handwerkskammer Deutschlands. Seit ihrem Berufsbeginn 1998 sind „Frauen im Handwerk“ ihr Thema. Völkers selbst stammt aus einer Landwirtsfamilie und hat dort früh erlebt, dass Frauen all das können, was angeblich reine Männersache ist.

Für Völkers hat nun die Zeit der Ernte begonnen. „Nach über 20 Jahren sehe ich, dass sich im Handwerk richtig was für Frauen bewegt. Die Folgen der Frauenbewegung, Projekte, Kampagnen, der gesamte gesellschaftliche Wandel, das alles ist jetzt auch im Handwerk sichtbar.“ Der „Zentralverband des deutschen Handwerks“ (ZDH) spricht gar von einer „Zeitenwende“. Etwa ein Drittel der insgesamt 5,62 Millionen Beschäftigten im Handwerk sind heute weiblich. Und zwar quer durch die ganze Hierarchie. Jeder fünfte Auszubildende ist weiblich, ähnlich ist es bei den frisch gebackenen MeisterInnen, den ChefInnen des Handwerkbetriebes, den GeschäftsführerInnen und GesellschafterInnen. Tendenz steigend.

Der Friseurberuf steht zwar noch immer unangefochten auf Platz 1 der Wahlberufe von Frauen, aber es steigt auch der Anteil junger Frauen, die Bäckerin, Malerin, Lackiererin oder Elektrikerin werden wollen, sprich: die in die klassischen Männerberufe streben. Parallel sinkt die Zahl der Frauen, die sich in den klassischen (und in der Regel schlecht bezahlten) Frauenberufen ausbilden lassen, wie Kosmetikerin oder Fachverkäuferin.

„Die Frauen wandern ins Männerhandwerk, weil das mehr Spaß macht und sie dort mehr verdienen und besser aufsteigen können“, sagt Carola Zarth, die Präsidentin der Handwerkskammer Berlin. Das zeigen auch die Bundesleistungswettbewerbe des Handwerks, in denen junge Frauen meist überdurchschnittlich gut abschneiden. Diese Wettbewerbe gehen zwar an der Öffentlichkeit vorbei, sind für die Branchen aber so etwas wie Olympia. Es sind die größten Berufswettkämpfe in Europa. 2021 gingen 3.000 Nachwuchskräfte aller Gewerke an den Start. 113 wurden für ihre besondere Leistung ausgezeichnet, darunter 39 Frauen.

Zum Beispiel die Drechslerin Vanessa Ecke, die Parkettlegerin Lisa Kujau, die Ofen- und Luftheizungsbauerin Luisa Peisl oder die technische Modellbauerin Damaris Kühn. Ihre Siege haben Signalwirkung in den jeweiligen Branchen. Die Frage, ob Frauen das können, stellt sich nicht mehr.

Neuerdings sind auch Frauen an den Handwerkskammern im Rahmen der überbetrieblichen Lehrlingsausbildung als Ausbildungsmeisterinnen tätig – und zwar auch in den klassischen Männerdomänen: Elektrotechnik, Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Immerhin betreut eine LehrmeisterIn rund 500 Lehrlinge im Jahr. Wer bei einer Frau „gelernt“ hat, wird eine Kollegin wohl kaum seltsam finden.

Seit 2010 macht das Handwerk immer wieder Kampagnen, um gerade junge Frauen auf den Geschmack zu bringen. 2021 gab es am Weltfrauentag eine „Ode an Handwerkerinnen“, 2020 wurde mit lästigen Klischees aufgeräumt. Zu Slogans wie „Wir lieben unsere Nägel“, zeigt eine Dachdeckerin im Video, wie schnell sie eine ganze Reihe davon versenkt; zu „Wir lieben alles, was funkelt“ verlöten Schweißerinnen Stahlrohre, und eine Schornsteinfegerin erklärt, „dass Fegen schon immer Frauensache war“.

Übrigens: Das Handwerk war immer schon auch Frauensache. Im Spätmittelalter um 1500 gab es in Handelsstädten wie Rostock, Brügge, Stralsund oder Nürnberg viele selbständige Handwerkerinnen. Die Männerzünfte ließen Frauen als Mitglieder durchaus zu. Die Hochburg: Köln. Mit seinen 40.000 EinwohnerInnen war die Stadt am Rhein zu jener Zeit eine der bedeutendsten Städte der Welt. So gut wie alles wurde über den Rhein transportiert, in Köln gestapelt und oft auch verarbeitet – und Frauen waren stark an Handel und Handwerk beteiligt. Sie hatten mehr Rechte und Freiheiten als in vielen anderen deutschen Städten. Es war durchaus üblich, dass Kölner Mädchen eine handwerkliche Tätigkeit erlernten. Sie gingen oft schon als Kinder in die Lehre bei einer Meisterin.

Es gab sogar Frauenzünfte, in denen ausschließlich Frauen arbeiteten: im Garn-, Gold- und Seidengewerbe zum Beispiel.

Fygen Lutzenkirchen (1450 – 1515) war die bekannteste Seidenunternehmerin in Köln, quasi die Mutter aller Handwerkerinnen. 1474 wurde sie als erste Frau als Meisterin zugelassen; bis 1497 bildete sie 25 Lehrmädchen aus. Ihre Töchter schickte sie in die Lehre bei Zunftgenossinnen. Sechsmal war Lutzenkirchen Amtsmeisterin ihrer Zunft. „Frauenzünfte“ wie in Köln, gab es sonst nur noch in Paris und Zürich.

Ab Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Frauen systematisch aus allen Zünften gedrängt. Im Zuge der Verschlechterung der Lebensverhältnisse wurde die Konkurrenz härter, die Zünfte wurden zu Trutzburgen. Frauen waren die ersten Opfer dieser Entwicklung. Erst im Zweiten Weltkrieg kehrten Frauen – wegen mangelnder Männer – ins Handwerk zurück. Doch sobald wieder genug Männer zur Verfügung standen, konnten sie gehen. 1952 wurde die Konkurrenz Frau auf dem Bau sogar offiziell verboten – bis 1994! Scheinheiliges Argument: Die Arbeit auf dem Bau sei „zu schwer“ für Frauen. Als sei die Hausarbeit leichter. In der DDR galt das übrigens nicht. Legendär die Fotos von den Mechanikerinnen und Kranführerinnen. In Ostdeutschland genießt das Handwerk generell bis heute ein höheres Ansehen als in Westdeutschland.

Noch Ende der 1990er fuhr Christina Völkers durch die Lande und versuchte Handwerkermeister davon zu überzeugen, auch mal eine Frau in Betracht zu ziehen, „die waren nur im Büro denkbar“. Das gängigste Argument damals: „Dann muss ich ja extra einen Damen-Waschraum einbauen.“

Völkers: „In der Werbung fürs Handwerk sieht man auch heute noch Frauen oft nur als Kundinnen. Aber Mädchen müssen begreifen: Ich kann selbst den Hammer in die Hand nehmen.“ Seit 20 Jahren reist sie nun zwischen Nordseeküste und Harz hin und her und macht in den Betrieben der Kammer, an Schulen und Bildungseinrichtungen oder auf Jobmessen Werbung für Frauen im Handwerk. Sie berät Handwerkerinnen in Sachen Familienzeit, stellt in Betrieben Wiedereingliederungs- und Weiterqualifizierungsmodelle vor und schiebt Kampagnen ihrer Kammer für Frauen an. Motto 2022: Liebe Männer, das Handwerk liegt nicht in den Genen, sondern im Blut!

Das Handwerk ist mit seinen 5,62 Millionen Beschäftigten in kleinen und mittleren Betrieben das Kernstück der deutschen Wirtschaft. Doch wenn es eine Zukunft haben will, kann es sich gar nicht leisten, auf die Hälfte der Talente und Arbeitskräfte zu verzichten. Denn der Fachkräftemangel schlägt seit zehn Jahren voll zu. Handwerksbetriebe suchen händeringend nach Nachwuchs.

Von jährlich rund 60.000 Familienunternehmen im Generationenwechsel bleibt nur knapp jedes zweite in Familienhand. Neben dem demografischen Wandel spielt auch hier der gesellschaftliche Wandel eine Rolle. Laut IHK hat ein großer Teil der möglichen FamiliennachfolgerInnen schlichtweg keine Lust, das Unternehmen weiterzuführen. Und viele Männer legten heute mehr Wert auf Familie und Freizeit. Sie haben auch keine Lust mehr, in den Abendstunden oder am Wochenende noch „schwarz“ zu malochen.

Gleichzeitig aber steigt in Deutschland entgegen dem internationalen Trend der Anteil junger Erwachsener ohne jeden Berufsabschluss. Über zwei Millionen der 20- bis 34-Jährigen haben gar keine Ausbildung. Die aktuelle Regierung will nun mit einer „Ausbildungsgarantie“ in der dualen Berufsausbildung nach österreichischem Vorbild gegensteuern. In Österreich gilt die Ausbildungsgarantie bis zum 25. Lebensjahr. Jeder und jede der/die sich bei der Arbeitsagentur meldet, erhält das Angebot, eine überbetriebliche Lehre anzufangen. Der Staat vermittelt und fördert die Ausbildungsträger. Gerade für junge Frauen ist das eine Chance: Haben sie sich erst einmal für einen handwerklichen Beruf entschieden, sind sie höchst erfolgreich darin. Sie legen bessere Noten und Gesellinnenprüfungen als die Jungen ab, sind oft fleißiger und verlässlicher. Chefs wissen das schnell zu schätzen, sie wollen gerade die Frauen im Unternehmen halten. Ein frauenfeindliches Arbeitsklima wird darum weniger toleriert als früher. Die Zeit, in der Schrankwände mit Playboy-Postern tapeziert waren, ist in den meisten Betrieben vorbei.

Auch ist die Sicherheit am Arbeitsplatz gestiegen, aktuell arbeitet die EU an einem Programm bis 2027 an schärferen Arbeitsschutz-Richtlinien, um Baustellen etc. sicherer zu machen. Und: Auszubildende haben MeToo verstanden. Die Fälle, in denen sexuelle Übergriffe und körperliche Gewalt gegen Lehrlinge auftauchen, werden weniger unter den Teppich gekehrt. Die Azubis von heute wenden sich schneller an ihre BetreuerInnen, die vor Ort in die Betriebe gehen. Und die greifen immer öfter knallhart durch, wenn etwas in dieser Richtung passiert. BerufsberaterInnen sprechen von einem „Gesinnungswandel“.

Der passiert auch in vielen Familien. Immer mehr Väter und auch Mütter sind stolz darauf, wenn ihre Tochter werkelt. Sie finden es gut, wenn die Mädchen praktisch was draufhaben und einen soliden Job ergreifen, statt „irgendwas mit Medien“ zu studieren.

2021 waren 221.930 AkademikerInnen arbeitslos, darunter 106.645 Frauen. In handwerklichen Berufen hingegen gibt es bundesweit keine Arbeitslosen. 2020 konnten sogar zwei von drei Stellen nicht besetzt werden! Die Wartezeiten für HandwerkerInnen liegen je nach Wohngebiet zwischen zwei Wochen und 14 Monaten.

Eine Studie der Universität Göttingen überraschte 2019 mit besonders hohen Zufriedenheitswerten von Frauen im Handwerk: 86 Prozent der 2.000 befragten Frauen äußerten „Handwerksstolz“.

Allerdings gibt es noch eine große Ausnahme, eine nahezu frauenfreie Zone: Kfz. Dort stehen aktuell 2.350 weibliche Auszubildenden 61.537 männlichen gegenüber, also 3,7 Prozent. Das hat natürlich mit der vorwiegend männlichen Leidenschaft fürs Gasgeben zu tun. Aber so etwas kann sich ja schnell ändern.
 

Artikel teilen

Anzeige

 
Zur Startseite