Homo-Fußballerinnen treten an!
Wenn es in dem kleinen Gemeindezentrum am Stadtrand von Moskau an der Tür klingelt, schreckt Sorina hoch. Sie geht zur Freisprechanlage, blickt auf den Bildschirm – und ist erleichtert. Es sind keine wütenden Nachbarn, keine Beamten, keine Neonazis, es ist ein bekanntes Gesicht. Sie öffnet ihrem Kollegen die schwere Eisentür, als wäre sie die Sicherheitskraft einer Bank. Dann setzt sie sich für das Interview zurück zu mir an den Tisch.
Es geht um starke Frauen im Fußball, um Homosexualität, um das Engagement in der schwindenden Zivilgesellschaft. Um Themen also, für die in Russland eine gewisse Vorsicht nicht falsch ist.
Sorina, 33, ist in Tomsk aufgewachsen, im westlichen Teil Sibiriens. Sie spricht leise, blickt aus müden Augen. Ihren Nachnamen möchte sie nicht in einem Magazin lesen, auch nicht im fernen Deutschland. Als sie 14 war, blätterte ihre Mutter in ihrem Tagebuch. Und fand heraus, dass sie lesbisch ist. Seitdem ist das Verhältnis angespannt. Sorina studierte Architektur und baute mit Kommilitoninnen ein Fußballteam auf. Sie nannten es „1604“, nach dem Gründungsjahr ihrer Stadt.
Der Sport war neu für die Frauen, sie genossen die Bewegung, das Gerangel vor dem Tor, das gab ihnen Selbstvertrauen. Und stärkte ihr Gefühl auszubrechen, zumindest für ein paar Stunden. Im Team fand ein Austausch statt, der über den Sport hinausging. Sie halfen sich bei der Jobsuche und beim Studium.
Sorina zog nach Moskau und stieß auf die „LGBT Russian Sport Federation“, den schwullesbischen Sportverband mit landesweit 1.700 Mitgliedern. Wieder formierte sie ein Team, suchte nach Plätzen und Sponsoren. Sie wollte andere motivieren, das macht ihr Spaß, das brachte aber auch Gefahren mit sich.
In Europa gilt die Zivilgesellschaft als Partnerin des Rechtsstaates, in Russland wird sie als Gegenbewegung betrachtet. Im Kreml besteht seit Jahren die Sorge vor einem Machtverlust, bestärkt durch Erschütterungen in Georgien, der Ukraine, den muslimischen Staaten im einstigen Sowjetreich.
Konsequenz: eine verstärkte Repression. Seit der vorletzten Wiederwahl Wladimir Putins 2012 zum Präsidenten zählten MenschenrechtlerInnen mehr als 30 Gesetze und Gesetzesänderungen, die Bürgerrechte einschränken. In den Jahren 2014, 2015 und 2016 wurden jeweils um die 1.000 Menschen wegen „staatsfeindlicher Aktionen“ festgesetzt – 2017 waren es rund 4.000 Menschen.
Sorina hält sich also mit politischen Kommentaren zurück. Doch trotz der geringen Akzeptanz der Homosexualität in Russland agiert die „LGBT Russian Sport Federation“ vergleichsweise offen. Gegenüber Vermietern präsentiert Sorina ihr Team allerdings als einen Kreis alter Schulfreundinnen. Die Freundinnen verlassen die Hallen in kleinen Gruppen und kommunizieren in geschlossenen Internetforen. „Und im Sommer warten wir einfach, bis ein Platz frei wird“, erzählt Sorina.
Doch um Fußball allein geht es nicht. Der LGBT-Verband organisiert Partys, Lesungen und Festivals. So auch in Moskau eine Vorführung des Films „Wonderkid“ über einen schwulen Jugendkicker in England. Sorina und ihre FreundInnen haben sich über Wochen auf diesen Tag vorbereitet. Nun befestigen sie Regenbogenfahnen an der Bühne. Am Eingang liegen Broschüren und Infozettel aus, auf dem Männer Händchen halten. Der Saal ist gut gefüllt, einige Gäste haben eine lange Anreise hinter sich.
Sorina wirkt zufrieden, aber rundum glücklich ist sie nicht. Die Veranstaltung muss an einem Sonntagnachmittag im deutschen Goethe-Institut stattfinden, wenn garantiert keine minderjährigen Sprachschüler vor Ort sind. Der Verband hatte jedem Publikumsgast die Anfahrtsbeschreibung persönlich geschickt. Keine Plakate, keine Flyer, keine Online-Werbung. Die AktivistInnen treten für einen Sport ohne Ausgrenzung ein – aber sie dürfen dabei nicht allzu sehr auffallen.
Sorina und ihr Team gehören zu der Generation, die sich an ein Leben ohne Putin kaum erinnern können. Aber sie weiß aus Büchern und Erzählungen, dass es um die Lage der Frauen am Anfang nicht schlecht bestellt war: Im März 1917 hatten demonstrierende Frauen den Sturz des Zaren ausgelöst.
Russland führte 1917 als erstes Land das Wahlrecht für Frauen ein und das Recht auf Abtreibung. Danach ging es für die Frauen rauf und runter, berichtet Ekaterina Kochergina vom Lewada-Zentrum, dem einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstitut in Russland. Frauen kämpften im Zweiten Weltkrieg mit an vorderster Front und in den 1970er-Jahren galten sie als „Heldinnen der Arbeit“. Die Sowjetunion schränkte viele Bürgerrechte ein, Frauen aber wurden nicht benachteiligt. Doch, klagt Ekaterina Kochergina: „Heute sind die historischen Wurzeln des Fortschritts kaum noch wahrnehmbar.“
Auf einem Konferenztisch hat die Forscherin Ordner mit Tabellen und Diagrammen ausgebreitet. „Frauen gehören in die Familie, denken heute viele“, sagt sie. „Und dieses Frauenbild ist politisch verordnet.“ „Männliches“ Weltmachtstreben und der Nationalismus sind unter Putin seit der Annexion der Krim 2014 enorm gewachsen.
Die Ablehnung vieler RussInnen ist groß: gegen Europäer, Amerikaner und vor allem: gegen Minderheiten aus dem Kaukasus und Zentralasien. „Auch gegenüber Frauen wächst der gesellschaftliche Druck. Sie sollen mehr Kinder zur Welt bringen“, sagt Ekaterina Kochergina. „Die Geburtenrate ist bei uns aber nicht wesentlich geringer als in anderen Industrienationen.“
Das Riesenland Russland mit seinen rund hundert ethnischen Volksgruppen sucht noch immer nach einer übergreifenden Identität, zumal der Sieg im Zweiten Weltkrieg verblasst. Bis 2050 könnte die Einwohnerzahl von 143 Millionen um zwanzig Millionen sinken. So vermischen sich Frust, Ressentiments und Verschwörungstheorien. Die Folge: Sexismus und Homophobie gehen oft Hand in Hand.
Wie schwer es ist, in diesem gesellschaftlichen Klima zu bestehen, merkte der LGBT-Sportverband im Winter 2014 bei den „Open Games“. Mehr als 300 Sportler aus Russland, Europa und Nordamerika nahmen an diesem Festival in Moskau teil, wollten ein Zeichen der Solidarität setzen. Der Verband verschickte Briefe, sprach bei Stiftungen und Botschaften vor, lud bekannte Gesichter ein. Und hatte Erfolg. Zumindest am Anfang.
Ein prominenter Gast der „Open Games“ kam aus den USA: Greg Louganis, Olympiasieger im Turmspringen und Ikone der LGBT-Bewegung. Ein anderer war die niederländische Sportministerin Edith Schippers. Beide waren beeindruckt von dem Mut der russischen AktivistInnen, doch sie verließen das Festival aus Termingründen vorzeitig. Kurz darauf ließ die Polizei die Sporthalle räumen, angeblich wegen Terrorgefahr.
Andere Sportstätten und Hotels zogen ihre Unterstützung plötzlich zurück – und begründeten das mit Überbuchungen, Stromausfällen, Klempnerproblemen. „Viele Leute wurden massiv eingeschüchtert“, sagt Sorina. „Die Behörden machen uns das Leben schwer.“ In einer Halle zündeten Vermummte eine Rauchbombe. Die Gäste waren geschockt.
Die Behörden passen sich auch dem wachsenden Einfluss der orthodoxen Kirche an. Wodurch über Jahrzehnte erkämpfte Frauenrechte zurückgedrängt wurden: Vor kurzem wurde ein Gesetz erlassen, das häusliche Gewalt weniger bestraft als früher. Abtreibungen werden erschwert, das Kindergeld wurde reduziert.
Das Staatsfernsehen machte sich über die Opfer von Harvey Weinstein lustig, einige Frauen demonstrierten sogar vor der US-amerikanischen Botschaft für den der vielfachen Vergewaltigung beschuldigten Filmproduzenten. Dabei hat laut Umfragen jede zweite Frau in Russland Sexismus oder Belästigung erlebt.
Eine Initiative zur Gleichberechtigung hängt seit Jahren im Parlament fest. Und den einstigen „Heldinnen der Arbeit“ sind heute 450 Berufe ganz verwehrt. Werbespots und Anzeigen stellen sie als entblößte Objekte dar. Die Linie Aeroflot beurteilte die Kompetenz ihrer Flugbegleiterinnen nach Kleidergröße. Waldimir Putin forderte eine erfolgreiche Unternehmerin vor laufenden Kameras auf, sie „möge ihren demografischen Pflichten nachkommen“. Die Staatsmedien zeigen Putin gerne mit freiem Oberkörper, beim Jagen, Reiten oder Angeln. Und die Intellektuellen? Sie schweigen.
Welche Auswirkungen das für den Alltag von Frauen hat, beschreibt Elena Erkina. Es ist ein kühler Nachmittag im Moskauer Gorki-Park, der Lärm der Metropole ist weit weg.
Auf einem kleinen Bolzplatz treffen sich Fußballfans aus Russland, Portugal und Neuseeland zu einem Freundschaftsturnier. Am Spielfeldrand gibt Elena Erkina dem französischen Fernsehen ein Interview. Danach schaut sie auf ihr Handy und beantwortet weitere Fragen, sie ist gut vernetzt mit Aktivisten in ganz Europa. Die Soziologin aus Sankt Petersburg erforscht die „Fanszenen“ in Russland. Nun möchte sie zur Weltmeisterschaft Angebote machen: Fanturniere, Begegnungsfeste, Konzerte und Workshops. Das soll dazu beitragen, die Eskalation von Gewalt zu vermeiden.
Erkina, 34, erzählt mit kräftiger Stimme von der Europameisterschaft 2016 in Frankreich, als russische Hooligans in Marseille brutal auf englische Fans einschlugen. Sie war vor Ort und wollte die bedrohliche Stimmung in sachliche Bahnen lenken. Sie sprach mit friedlichen Fans, informierte Journalisten, vermittelte zwischen russischen Funktionären und französischen Polizisten. Sie hatte kaum Schlaf, aber als die Aufregung verschwand, wurde sie von allen Seiten gelobt.
Erkina wurde ins Sicherheitskomitee des Russischen Fußballverbandes berufen, als erste und einzige Frau unter rund zwanzig Männern. „Manchmal schauen sie mich schief von der Seite an“, sagt sie und lacht. „Viele denken, Frauen haben im Fußball nichts verloren. Und wenn, dann höchstens als Übersetzerinnen oder Sekretärinnen. Es gehen heute zwar mehr Frauen in die russischen Stadien, aber meistens begleiten sie ihre Männer.“
Elena Erkina weiß, wie sie wann und wo welche Argumente vortragen muss. Gegenüber westeuropäischen Journalisten kann sie kritischer sein als in einem Hintergrundgespräch mit russischen Polizeivertretern, zum Beispiel. Sie ist Fußballdiplomatin und denkt schon jetzt mit Bauchschmerzen an den August 2018, wenn die Weltmeisterschaft vorbei ist und die globale Aufmerksamkeit weiterzieht.
Auch im europäischen Spitzenfußball sind nur 3,7 Prozent der Führungspositionen von Frauen besetzt. Im russischen Fußball ist die Quote noch geringer, glaubt Elena Erkina. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Nur sechs Prozent der russischen Männer wünschen sich Frauen in der Politik, laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums. Und bei den Frauen selbst liegt die Zustimmung zu dieser Frage gerade mal bei 30 Prozent. Elena Erkina: „Wir brauchen sichtbare Vorbilder, die zeigen, dass es auch anders geht.“
Die Fußball-WM in Deutschland 2006 strahlte auf alle Bereiche des Fußballs ab, auch auf die Frauenligen. Wie wird es im Sommer bei der WM sein? Die erste russische Fußball-Liga der Frauen zählt gerade mal acht Teams. Das Nationalteam nahm an zwei Welt- und fünf Europameisterschaften teil. Insgesamt gibt es in Russland nur rund dreißig größere Frauenvereine. Es sind also Verhältnisse wie in Deutschland vor zwanzig Jahren, als die Weltmeisterinnen zum Dank noch ein Kaffeeservice geschenkt bekamen.
In Russland aber hatten sich schon 1911 drei Teams zusammengefunden. Nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches war Sport für Frauen regelrecht propagiert worden. Doch schon unter Stalin fiel man auf ein traditionelles Frauenbild zurück. Es dauerte bis in die späten sechziger Jahre, ehe Frauen im Fußball wieder eine wahrnehmbare Rolle spielten. Erstmals beim Walentina-Tereschkowa-Pokal 1972 in Dnepropetrowsk, benannt nach der ersten Frau im Weltall, einer ehemaligen Näherin und „Heldin der UdSSR“. Doch erst Anfang der Neunziger ging es aufwärts. Langsam.
Elena Erkina von der russischen „Fanbotschaft“ und Sorina von der „LGBT Sport Federation“ freuen sich auf möglichst viele Gäste bei der Weltmeisterschaft. Das internationale Interesse könnte die Aktivistinnen vor Ort stärken.
„Denn bisher erreichen wir die Menschen, die wir sensibilisieren wollen, kaum. Wir bewegen uns in einem geschlossenen System“, klagt Sorina. Sie deutet auf die schwere Eisentür und lächelt. „Es wird Zeit, dass wir aus diesem System ausbrechen.“
Vom Autor erschien das Buch:
Gesellschaftsspielchen – Fußball zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei
(Die Werkstatt, 16.90 €)