Die zweischneidige Verfassung
Millionen IrakerInnen haben am 15. Oktober 2005 für die neue Verfassung gestimmt. Doch die macht alles möglich: wirkliche Gleichberechtigung oder totale Entrechtung der Frauen.
Der Mann hält eine Kopie der neuen irakischen Verfassung in der Hand und belehrt die Frau, die ihn aus dem schmalen Augenschlitz ihres Tschadors wütend anfunkelt. „Du musst eben umdenken!” sagt er. „Sieh es nicht als Schleier. Betrachte es als deine eigene ganz persönliche Wahlkabine, die du ab nun immer bei dir trägst.“ Soweit der Karikaturist der Washington Post. Ist sein Sarkasmus gerechtfertigt?
In den letzten Monaten war viel über die irakische Verfassung zu lesen. War das Dokument – was die Rechte und künftigen Chancen der irakischen Frauen anbelangt – gut, schlecht, oder eben einfach nur das kleinste erreichbare Übel?
Eine Verfassung sollte eigentlich ein Dokument sein, das über die kleinlichen Streitereien des Tagesgeschehens erhaben ist. Vielmehr sollen darin die gemeinsamen Grundregeln und Grundwerte eines Landes zu Papier gebracht werden. Die Verfassung stellt im Idealfall ein Fundament dar, und zwar theoretisch „für die Ewigkeit“. In den letzten Jahren aber haben Verfassungen eine andere Funktion erhalten. Verfassungen werden nun eingesetzt als ein Instrument, mit dessen Hilfe ein wackeliger neuer Frieden zementiert und ein Staat auf den Trümmern eines Krieges oder Bürgerkrieges neu eingerichtet wird.
Die klassische Verfassung bemüht sich um größtmögliche Klarheit und Deutlichkeit. Diese neue Art von Verfassung hingegen entsteht in einer Situation, in der noch kein Konsens herrscht, in der die Streitparteien nur zähneknirschend zusammenkommen und sehr unterschiedliche Werte vertreten, wie jetzt in Afghanistan und Irak. Um von den Beteiligten unterschrieben zu werden, muss diese ‚Konfliktverfassung‘ daher in den umstrittenen kritischen Punkten verschwommen und unklar bleiben. Denn nur wenn alle unterschiedlichen Parteien darauf hoffen, sich später noch durchsetzen und diese Punkte im eigenen Sinne auslegen zu können, sind sie zur Unterschrift bereit.
In Afghanistan lag das Haupthindernis darin, dass die Stammestraditionen und die vormoderne Gerichtsbarkeit noch stark verankert sind. Viele Elemente eines modernen Rechtsstaates fehlen noch: von demokratisch geschulten Polizisten über ausgebildete Anwälte und Richter bis hin zu Gefängnissen. Im Irak hingegen ist die moderne Infrastruktur gut entwickelt und der generelle Bildungsstand hoch. Dafür existieren hier tiefe weltanschauliche Spaltungen. Afghanische Frauen, die sich für ihre Rechte einsetzen, haben nur die ‚Warlords‘ gegen sich. Im Irak aber fallen ihnen rhetorisch begabte, fundamentalistische Geschlechtsgenossinnen in den Rücken.
In Afghanistan gehörte viel Mut dazu, bei der ‚Loya Jirga‘ für die Gleichheit der Frauen einzutreten, aber zumindest waren die Fronten klar. Weit und breit gab es dort keine Frauen, die – wie jetzt so manche Irakerin – ihre eigene Unterdrückung als „Willen Gottes“ darstellten oder die Ungleichheit der Frau als islamische Variante der Befreiung propagierten. Irakerinnen wie Etha Moussa, Herausgeberin einer fundamentalistischen schiitischen Frauenzeitschrift, setzen sich dezidiert für „Gerechtigkeit, aber nicht für Gleichberechtigung“ ein – nur das sei mit dem Islam vereinbar.
Bei den Verfassungen islamischer Länder gilt es, die Gradwanderung zu schaffen zwischen den Menschenrechten und dem modernen Zeitalter auf der einen Seite und dem Islam und der Scharia auf der anderen. Das geschieht in erster Linie durch Wortklaubereien. Islam und Scharia müssen genannt werden, sonst steigt die Islam-Lobby aus; aber gleichzeitig darf die Scharia nicht zum umfassenden Landesgesetz werden, da gesteinigte Ehebrecherinnen und abgehackte Diebeshände weder die Zustimmung der Weltpresse noch die der internationalen Gemeinschaft erhalten würden. Der Kompromiss in der irakischen Verfassung: Scharia und Islam werden als „eine“ Quelle, aber nicht als „die“ Quelle der Gesetzgebung genannt.
Weniger glücklich sind internationale ExpertInnen mit dem Beisatz in der irakischen Verfassung, kein Gesetz „dürfe den Werten des Islam widersprechen“. Denn dieser Satz erlaubt die Negierung von so ziemlich allem, was der fortschrittlichen Lobby in den anderen Paragraphen gelungen sein mag. Der irakische Verfassungsentwurf sieht eben in vieler Hinsicht so aus, wie das Land selber: Dinge, die nicht zusammenpassen, sind darin ebenso zu einer unfreiwilligen Einheit zusammengefügt wie die Sunniten, Schiiten und Kurden.
So nennt Artikel 2 die drei Grundsätze, denen die Gesetzgebung entsprechen muss: erstens darf sie den Bestimmungen des Islam nicht widersprechen; zweitens darf sie den Grundsätzen der Demokratie nicht widersprechen; und drittens darf sie nicht im Gegensatz stehen zu den Grundrechten und Freiheiten, die in der Verfassung garantiert sind. Den Säkularisten gefiel der erste Grundsatz nicht. Die Islamisten murrten, man habe dem Land mit diesem Artikel neben dem Islam noch zwei andere Religionen aufgezwungen: die Demokratie und die Menschenrechte. Besorgnis erregend ist auch, dass eine sonst an dieser Stelle in Verfassungen übliche Zusicherung fehlt: nämlich dass das Land sich an alle unterzeichneten internationalen Vereinbarungen zu halten hat.
Bemerkenswert ist hingegen Artikel 5. Darin wird festgehalten, das Volk sei die Quelle der Gesetzgebung, und die Gesetzgebung sei souverän. In einem fundamentalistischen Staat wäre ein solcher Satz undenkbar; nur der Koran und Gott sind dort souverän, und die Vertreter des Volkes dürfen maximal verwalten und Koran und Schariat zur Anwendung bringen, nicht aber Gesetze beschließen.
Irakische Frauengruppen freuen sich besonders über Artikel 16. Der garantiert „Chancengleichheit für alle Irakis“ und macht es zur Aufgabe des Staates, „die notwendigen Schritte zu ergreifen, um Chancengleichheit zu gewährleisten“. Bislang, sagen sie, war offene Diskriminierung zum Beispiel in der Berufswelt gang und gäbe. Postenausschreibungen trugen oft den Beisatz, „Männer erwünscht“ oder „männliche Bewerber bevorzugt“.
Artikel 18 freut die weltlichen Frauengruppen ebenfalls, und war bis zuletzt hart umstritten. Dort steht, dass die irakische Staatsbürgerschaft sich in gleichem Maß durch die Mutter wie durch den Vater überträgt. In vielen islamischen Ländern kann nur der Vater seine Staatsbürgerschaft an den Nachwuchs verleihen. Konservative Kräfte versuchten bis zuletzt, diesen Artikel zu streichen. Es gelang ihnen nicht, aber sie erreichten den Zusatz: „gemäß den Bestimmungen des Gesetzes“.
Artikel 20 macht deutlich, dass Frauen politisch gleichgestellt sind, indem er explizit festhält, dass „alle Bürger, Männer und Frauen, das Recht haben, sich an politischen Angelegenheiten zu beteiligen und politische Rechte genießen, darunter das Recht zu wählen und gewählt zu werden.“ Eine gute Grundlage für weiterreichende Arbeit bietet auch Artikel 29, in dem steht, dass „alle Formen von Gewaltausübung und Misshandlung in der Familie, der Schule und der Gesellschaft zu unterbinden sind.“
Der von außenstehenden BeobachterInnen häufig lobend zitierte Artikel 14 hingegen hat bei engagierten irakischen Frauen mehr Besorgnis als Begeisterung erregt. Auf den ersten Blick scheint er positiv: alle Irakis, heißt es darin, seien vor dem Gesetz gleichgestellt, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Ethnie, Herkunft, Farbe, Religion, Sekte, Glaube, Meinung oder wirtschaftlichem und sozialem Status.
Irakische Aktivistinnen fürchten jedoch, dass die Formulierung „vor dem Gesetz“ ihnen zum Verhängnis werden kann, und hatten erfolglos verlangt, es möge lauten: „in und vor dem Gesetz“. Denn die Scharia enthält in wichtigen Punkten unterschiedliche Bestimmungen für Männer und für Frauen, Söhne und Töchter, Ehegatten und Ehegattinnen. Töchter erben weniger als Söhne, die Zeugenaussage einer Frau gilt gar nicht oder nur halb so viel, Männer können polygam sein und sich leicht scheiden lassen, aber Frauen nicht etc. Bei der Formulierung „vor dem Gesetz“ könnte entweder das weltliche Gesetz oder aber die Scharia angewandt werden. Bei der Formulierung „in und vor dem Gesetz“ hingegen nur das weltliche Gesetz.
Der Irak, in dem vor dem Krieg mehr Frauen studierten als Männer, hat also jetzt eine Verfassung, die alles möglich macht: eine wirkliche Gleichberechtigung der Frauen – oder aber ihre Entrechtung durch die Scharia. Zusätzlich beunruhigend ist, dass noch nach der Verabschiedung weiter an dem Entwurf gebastelt wurde, hinter verschlossenen Türen; und dass die rückschrittlichen Schiiten die Mehrheit im Parlament haben.
Weiterhin wird das Wohl und Wehe der Frauen im Irak also nicht zuletzt von der internationalen Wachsamkeit abhängen.
Cheryl Benard
Die Autorin, 52, ist Politikwissenschaftlerin. Sie lebt mit Mann und zwei Kindern zwischen Wien, Washington und Nahost. Zuletzt erschien von ihr: "Civil Democratic Islam: Partners, Resources, and Strategies" (Rand Corporation),