Alice Schwarzer schreibt

Kobane: Was für eine verdammte Verlogenheit!

Syrische Kurden auf der Flucht vor den Dschihadisten des IS. - © Elif Ozturk/Anadolu Agency/Getty Images
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Was für eine verdammte ­Ver­logenheit! Und was für eine ­bodenlose Dreistigkeit! Die Welt sieht zu, wie die kurdische Grenzstadt Kobane von den Söldnern des selbsternannten „Islamischer Staat“ erobert und die Menschen massakriert werden (Die Männer werden enthauptet, die Mädchen und Frauen als „Sex-Sklavinnen“ erbeutet). Von oben werfen die Amerikaner Bomben, die auch Zivilisten treffen, vorzugsweise auf die vom IS eroberten Öl-Raffinerien; und über die Grenze gucken die türkischen Soldaten in ihren Panzern zu.

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Obama erwartet nun von den Türken, dass sie einmarschieren, die eigenen Jungs möchte er in diese Hölle nicht schicken. Und Merkel wirft der Türkei „Untätigkeit gegen den IS“ vor. Was im besten Fall naiv ist. Die türkischen Soldaten sollen den islamistischen Killern in die Arme fallen? Warum sollten sie?

Erdogan war es, der die Gotteskrieger seit 2011 von der Türkei aus über die Grenze nach Syrien ziehen ließ. Am 6. Oktober entließ er laut Time im Austausch gegen gefangene ­tür­kische Soldaten 180 Dschihadisten aus türkischen Gefängnissen. Und am 13. Oktober ließ er Stellungen der kurdischen PKK im Südosten der Türkei bombardieren.

Damit flammt der bewaffnete Konflikt zwischen Türken und Kurden wieder auf, die im Südosten der Türkei einen autonomen Kurdenstaat fordern. Dieser Konflikt hatte in den vergangenen Jahren 30.000 Menschenleben gekostet, auf beiden Seiten.

Neben Assad sind Erdogans Hauptfeinde also die Kurden. Die Gotteskrieger des IS hingegen sind dem bekennenden Gottesstaatler eher nahe. Und auch Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Emirate haben sie in den vergangenen Jahren mit ihren Petro-Millionen und Waffen aufgebaut. Also genau jene Staaten, die jetzt im „Bündnis“ mit Amerika gegen den „Islamischen Staat“ vorgehen. Denn der scheint seinen bärtigen Brüdern, die in ihren Ländern ja ebenso die Frauen versklaven und die Köpfe rollen lassen wie der IS, jetzt über den Kopf zu wachsen. Sie fürchten offensichtlich nun selbst den Geist, den sie aus der Flasche ließen.

Zurzeit sollen es etwa 50.000 Dschihadisten sein, die im Norden Syriens kämpfen und die Menschen den Schrecken lehren. Was eigentlich keine Überraschung für die westlichen Geheimdienste sein dürfte. Führend sind erprobte Gotteskrieger aus Tschetschenien, Irak, Afghanistan und dem nordafrikanischen Maghreb. Die Drecksarbeit (Selbstmordattentate etc.) scheinen europäische Dschihadisten zu erledigen. Sie werden auf etwa 4.000 geschätzt, darunter zirka 400 aus Deutschland. Wenn die zurückkommen, haben sie das Vergewaltigen und Morden von Grund auf gelernt. Und sie fürchten sich vor nichts: Schließlich beschert der Heldentod im „Heiligen Krieg“ ihnen das Paradies und die ­bekannten 70 Jungfrauen.

Noch haben die IS-Söldner und die Erdogan-Regierung dieselben Gegner: die Kurden und das Assad-Regime. Die Kurden – und hier speziell die militante PKK, die als „Terrororganisation“ auch in Europa verboten ist – sind der Türkei mit ihrem Begehren nach einem autonomen Kurden-Staat schon lange ein Dorn im Auge. Und der Sturz von Baschar al-Assad wäre ein Fest für Erdogan. Der wäre dann nicht nur der starke Mann in seinem Land, sondern in der ganzen Region. Hofft er.

Der Nahe Osten aber und auch der Westen sollten sich darüber nicht freuen. Denn mit Assad würde nach Saddam Hussein (2003) und Muammar al-Gaddafi (2012) der dritte sozialistisch-westlich orientierte Herrscher in einem von Islamisten bedrohten Land fallen. Sicher, Assad ist kein Demokrat, er ist ein repressiver autokratischer Herrscher, wie alle Staatschefs in diesen Ländern, und Kritik ist angebracht. Doch bisher war er immerhin ein Bollwerk gegen die Islamisten. Und die werden nach seinem Sturz auch in Syrien die Macht ­ergreifen, vermutlich in trauter Einheit mit den so genannten „gemäßigten“ Islamisten. Syrien, der Staat mit den einst meisten Frauenrechten und der größten religiösen Toleranz in Nahost, ist Vergangenheit. Auch Assad könnte darum eines nicht zu fernen Tages im Rückblick selbst seinen Gegnern das kleinere Übel scheinen.

Doch nicht nur die religiös-politischen Sympathisanten der IS tragen Verantwortung für den Einbruch des Chaos und die atemberaubende Offensive der Terrortruppe. Auch und vielleicht vor allem der Westen ist verantwortlich. Denn er hat nicht nur zugesehen, sondern die Islamisten aufgerüstet, wenn es gerade in den politischen Kalkül passte; wie einst im Kampf gegen die ­Sowjetunion, die Taliban und heute gegen Assad, wo er die „gemäßigten“ Islamisten bewaffnet. Doch selbstverständlich sind die Grenzen zwischen diesen angeblich „Gemäßigten“ und den Radikalen fließend.

Als ich 2002 das Buch „Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz“ herausgab, analysierten Experten darin die „Talibanisierung des Nahen Ostens“, das „Einfallstor Balkan“, die „Islamisierung Tschetscheniens“ sowie das Drama Algeriens. Das war vor zwölf Jahren. Schon damals hätte man also wissen oder zumindest ahnen können, was kommt.

Assad könnte
im Rückblick
das kleinere
Übel sein.  

In Algerien hatten die aus dem Afghanistankrieg gegen die sowjetischen Besatzer zurückkehrenden islamistischen Söldner, die so genannten „Afghanen“, in den 90er Jahren einen Bürgerkrieg angezettelt mit exakt denselben Methoden wie heute der IS. Das kostete über 200.000 Menschen das Leben. Die traumatisierten Algerier nennen diese Zeit „die schwarzen Jahre“. Die Welt hat weggesehen.

In der russischen Teilrepublik Tschetschenien waren es nicht die Russen, sondern die Taliban und Al-Qaida, die 1999 den zweiten Tschetschenienkrieg anzettelten und tausende von Gotteskriegern in das Land schleusten. Auch sie gingen ebenso brutal vor wie der IS, köpften die Männer und versklavten die Frauen. 

Bereits 1993 (!) war in Tschetschenien die Scharia als Gesetz eingeführt worden. Die Welt hat das nicht interessiert. Sie beschäftigte sich lieber mit Putin und der Frage, ob die Attentate in Moskau in Wahrheit nicht doch ein Täuschungsmanöver des russischen Geheimdienstes seien (Wer diese Art von Behauptungen im Zusammenhang mit Amerika und 9/11 aufstellt, wird zu Recht als Verschwörungstheoretiker belächelt).

Der Sturz von Saddam Hussein schließlich im Jahr 2003 – unter dem durchsichtigen Vorwand, er horte Massenvernichtungswaffen – schaffte ein Machtvakuum in der Region, in das die Islamisten einfielen. Der einst ebenfalls autokratisch und repressiv, aber immerhin weltlich regierte Irak wurde zur Drehscheibe der Gottesstaatler in Nahost.

Irak, Afghanistan, Libyen – und jetzt Syrien. Auch in dieses Vakuum dringen die Dschihadisten ein. Und die Welt hat zugesehen. Aus all diesen Ländern strömen heute hunderttausende von Flüchtlingen nach Europa. Und es werden mehr werden. Viel mehr.

Man muss kein Prophet sein, sondern die Sache nur nüchtern betrachten, um vorauszusagen: Jetzt wird Assad sich nicht mehr lange halten können, der Siegeszug der Islamisten im Nahen Osten ist unaufhaltsam. Das Morgenland, vor hundert Jahren von den einstigen Kolonialherren recht willkürlich zugeschnitten, wird nun erneut neu aufgeteilt werden: dieses Mal unter Islamisten. Was die gesamte Weltordnung erschüttern wird und ausstrahlen auf bisher – relativ gesehen – gemäßigte ­islamische Staaten wie die Türkei. Was wiederum ausstrahlen wird auf die islamistischen Communitys im Westen. Mitten unter uns.

Aber was sind die Gründe für diesen pervertierten Männlichkeitswahn? Denn es ist ja unübersehbar, dass diese waffenrasselnde Aufrüstung auch und vielleicht vor allem eine Reaktion auf die Emanzipation der Frauen ist. Es geht um Rekonstruktion von Männlichkeit in Zeiten, in denen marodierende junge Männer in Kairo wie Berlin arbeitslos sind und verunsichert.

Diese Männer machen sich zum Herrn über Leben und Tod. Sie zwingen aufgeklärte Männer auf die Knie und Frauen unter den Schleier, bis zur Unsichtbarkeit. Und das in den islamistisch beherrschten Ländern ebenso wie in den von Islamisten unterwanderten muslimischen Communitys in Europa. 

Das Morgenland wird neu aufge-
teilt - unter Islamisten

Ich habe in den letzten 35 Jahren, seit meinem Besuch in Khomeinis Iran 1979, sehr viel darüber geschrieben. Darum möchte ich an dieser Stelle nur daran erinnern: Es geht hier nicht nur um den westlichen Feminismus, sondern auch um die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt unter dem Einfluss des Westens bzw. der Sowjetunion – mit Siebenmeilenstiefeln fortgeschrittenen Frauenrechte in Ländern wie Iran, Ägypten, Tunesien oder Syrien. Nicht zufällig wurde in all diesen Ländern die Emanzipation der Frauen brutal gestoppt.

Genau an diesem Punkt müsste gegengehalten werden. Viel effektiver als mit Bomben bekämpft man den IS und seine bärtigen Brüder mit der Bildung und Gleichberechtigung der Frauen! Darauf könnten auch westliche Länder mit ihrer Entwicklungs- und Außenpolitik einwirken. Wenn sie nur wollten.

Dieser Kommentar ist am 9.10. geschrieben und am 17.10. zuletzt aktualisiert worden.

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Alice Schwarzer (Hg.): "Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz" (2002) und "Die große Verschleierung - für Integration, gegen Islamismus" (2011), beide bei KiWi. Im EMMA-Shop bestellen

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MuslimInnen sind die ersten Opfer

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Es tut der Debatte gut, auf dem Boden der Tatsachen geführt zu werden. Und dank der ersten repräsentativen Studie, die vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegeben wurde und für die circa "6.000 Personen aus 49 muslimisch geprägten Herkunftsländern" befragt wurden, wissen wir seit Sommer 2009 Folgendes:

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In Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis, rund die Hälfte von ihnen hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Zwei Drittel dieser Menschen mit muslimischen Wurzeln sind türkischer Herkunft, der Rest kommt aus Südosteuropa, dem Nahen Osten oder Nordafrika.

Nur ein Drittel dieser vier Millionen Menschen bezeichnet sich selbst als "stark gläubig", der Rest als "eher gläubig" (50 Prozent) bzw. "eher nicht" oder "gar nicht" gläubig (14 Prozent). Es ist also falsch, Menschen muslimischer Herkunft zwangsläufig als "Muslime" zu definieren oder ihnen gar zu unterstellen, sie seien orthodox gläubig.

Nur ein Drittel der MuslimInnen in Deutsch-
land bezeichnet sich selbst als "stark gläubig"

Auffallend ist: Knapp jeder zweite muslimische Mann geht "manchmal" oder "häufig" in die Moschee – aber nur jede vierte Frau. Da überrascht nicht, dass sieben von zehn Frauen muslimischer Herkunft noch nie ein Kopftuch getragen haben. Und sehr interessant ist, dass selbst von den Musliminnen, die sich als "stark gläubig" bezeichnen, nur jede Zweite "manchmal" oder "immer" ein Kopftuch trägt. Was im Gegensatz steht zu der Behauptung islamischer Funktionäre, für die Muslimin sei Religiosität zwangsläufig mit dem Tragen eines Kopftuches verbunden. Übrigens: Die zweite Generation der Migrantinnen verbirgt etwas seltener ihr Haar als die erste.

So also sieht die Lebensrealität der Mädchen und Frauen muslimischer Herkunft aus, gläubig oder nicht gläubig. Gleichzeitig aber herrscht in der Öffentlichkeit der Eindruck: Wer muslimischer Herkunft ist, sei automatisch auch religiös; und wer religiös sei, müsse sich zwingend an gewisse "Gebote" des Korans halten, wie Fastenzeit oder Kopftuch. Dieser Eindruck ist falsch. Denn er basiert nicht auf der Realität der in Deutschland lebenden MigrantInnen und ihrer Kinder und Enkelkinder, sondern auf der Ideologie rühriger Islamverbände.

Diese Islamverbände – von der staatlichen türkischen Ditib bis zu der vom Verfassungsschutz schon lange beobachteten Milli Görüs – stehen jedoch nicht für die Mehrheit der MuslimInnen, sondern für eine Minderheit. Nur die Hälfte der in Deutschland lebenden MuslimInnen hat laut Studie überhaupt schon mal von einem oder auch zwei dieser Verbände gehört, nur knapp jeder Fünfte ist in einem organisiert.

Bedenkt man, dass diese Verbände bisher den "Dialog" mit Politik, Kirchen und Medien quasi allein bestimmt haben, wird klar, wie unzureichend, ja irreführend dieser vermeintliche Dialog sein muss. Bisher kaum wahrgenommen und schon gar nicht berücksichtigt wurden die Interessen der 80 Prozent, die in keinem dieser Verbände und häufig auch gar nicht oder nur moderat gläubig sind – und von denen selbst die Hälfte der "sehr glaubigen" Frauen kein Kopftuch trägt.

Die Islamverbände - von Ditib bis Milli Görüs - sprechen nur für eine Minderheit der MuslimInnen

Das wirft ein ganz neues Licht auf die Integrationsdebatte. Mehr noch: Es ist alarmierend, dass eine solche Minderheit in Bezug auf das "Muslimische Leben in Deutschland" (so der Titel der ministeriellen Studie) bisher den Ton angeben und behaupten konnte, für alle zu sprechen.

Diese Islamverbände, die von moderat bis fundamentalistisch gestimmt sind – und aus Mitgliederbeiträgen, von der Türkei oder gar von Saudi-Arabien finanziert werden –, erheben immer wieder den Vorwurf der "mangelnden Toleranz" der deutschen Mehrheitsgesellschaft und der Ignoranz "muslimischer Glaubensfragen" inklusive seiner "religiösen Gebote". Dass diese angeblichen "Gebote" in der Lebensrealität von Menschen mit muslimischem Hintergrund eine so unterschiedliche Rolle spielen können wie bei Menschen mit christlichem Hintergrund, wird dabei nicht gesagt.

Auch die Menschen aus dem christlichen Kulturkreis sind ja keineswegs alle gläubig und auch ihre Ansichten reichen von liberal bis fundamentalistisch. Auch sie würden es sich verbitten, von Menschen anderer Kulturkreise in erster Linie als "Christen" definiert zu werden. Allerdings fällt auf, dass die Politik in Deutschland auch hier bei Fragen, die den Kirchen wichtig sind, weniger mit den betroffenen Menschen spricht und eher mit den Kirchenvertretern.

Zum Beispiel beim Abtreibungsverbot, das die Kirchen in Deutschland gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung und gegen die Lebensrealität der Frauen immer wieder durchsetzten. So hatte die Politik die 2009 verabschiedete Verschärfung der Abtreibungen ab der 13. Woche zuvorderst mit den Bischöfen verhandelt und nicht mit Frauenberatungsstellen, ProFamilia oder ÄrztInnen.

Oft haben diese christlichen Vertreter durchaus ähnliche Interessen wie die islamischen Verbände: nämlich die Durchsetzung der Vorrangigkeit von Glaubensfragen vor Menschenrechtsfragen, nicht nur in Gottesstaaten, sondern auch in Demokratien. So wie bei den Vertretern Jesu die Abtreibung steht bei den Vertretern Mohammeds das Kopftuch im Fokus.

Das war nicht immer so. Erst seit dem Sieg des iranischen Gottesstaates im Jahr 1979 ist das Kopftuch das Symbol und die Flagge der Islamisten, des politisierten Islam, und hat in den 80er-Jahren seinen Kreuzzug bis in das Herz von Europa angetreten. Seither streiten die Islamisten – also die Schriftgläubigen, die sich wortwörtlich auf den Text des im Jahr 632 geschriebenen Korans berufen – in Deutschland für das "Recht" auf das Kopftuch auf allen Ebenen, bis hinein in die Schulen, ja sogar in die Kindergarten. Und nicht selten kommen die Eltern direkt aus dem harten Kern dieser Islamverbände.

Sieben von zehn Musliminnen in Deutschland haben noch nie Kopftuch getragen!

Zum Tragen des Kopftuches, das die Mädchen als die "Anderen" sozial ausgrenzt und körperlich einengt, gehört eine ganze Palette von Sonderbehandlungen, die diese Eltern für ihre Kinder in der Schule verlangen. Die Proteste und Prozesse von Eltern werden in der Regel von den Islamverbänden unterstützt, die auch die juristischen Argumente und Strategien für die Eltern ausarbeiten. Immer geht es dabei um die Trennung der Geschlechter oder, so diese in deutschen Schulen verweigert wird, um die Befreiung von der Teilnahme der Mädchen am Schwimmunterricht und Sportunterricht, an den Schulausflügen und am Sexualkundeunterricht.

Das alles sind Fächer, die wir heute für die geistige und körperliche Bildung sowie für die Entwicklung von Gemeinschaftssinn in unseren Schulen für unerlässlich halten. Ganz zu schweigen von dem zentralen Prinzip der Koedukation, das ein Grundstein der Gleichberechtigung ist. Im gemeinsamen Unterricht können Jungen und Mädchen das traditionell Trennende überwinden und erleben, wie viel sie gemeinsam haben; sie sollen sich nicht fremd bleiben, sondern vertraut werden. Die Koedukation ist also unverzichtbar für jede geschlechtergerechte Erziehung.

In der Vergangenheit haben Richter sich immer wieder von einer oft gut gemeinten, jedoch meist naiven Toleranz leiten lassen und durch ihre Urteile zur Sonderbehandlung zur Diskriminierung von muslimischen Mädchen beigetragen, indem sie den Eltern-Anträgen auf "Befreiung" vom Unterricht zugestimmt haben. Dies scheint sich gerade zu ändern.

In Nordrhein-Westfalen, wo jeder dritte Mensch muslimischer Herkunft in Deutschland lebt, ergingen jüngst zwei Urteile, die die Hoffnung aufkommen lassen, dass der Offensive der Islamverbände endlich Einhalt geboten wird. So entschied das Oberverwaltungsgericht Münster zweimal im Interesse des Kindes, zuletzt am 30. Juni 2009, wo es das Begehren einer Familie zurückwies, eine Elfjährige vom Schwimmunterricht zu befreien.

Seit der Machtergreifung Khomeinis 1979 in Iran ist das Kopftuch Symbol der Islamisten

Die Schülerin geht seit 2008 auf das Goethe-Gymnasium in Düsseldorf. Bei der Aufnahme unterzeichnete die Mutter eine Erklärung, dass das Madchen auch am Schwimmunterricht teilnehmen werde – allerdings erst, nachdem Schuldirektorin Glenz der Mutter versichert hatte, das Mädchen dürfe auch im "Burkini" schwimmen (das ist ein Stoffgewand ähnlich den Badeanzügen, die in unserem Kulturkreis im 19. Jahrhundert von Frauen getragen wurden). Trotz dieses Einverständnisses forderten die Eltern der Elfjährigen wenig später die Befreiung ihrer Tochter vom Schwimmunterricht. Das Gericht befand, dies sei ein Verstoß gegen "Treue und Glauben", denn schließlich hatten die Eltern der Minderjährigen zuvor der Koedukation schriftlich zugestimmt.

Dasselbe Gericht – zuständig fur NRW, wo die Islamverbände besonders aktiv sind – hatte bereits am 20. Mai 2009 in einem anderen Urteil festgestellt: "Muslimische Mädchen im Grundschulalter haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht." In dem Fall ging es um eine Neunjährige (!), die die Grundschule in Gelsenkirchen besucht. Deren Eltern sind der Auffassung, dass Mädchen ab dem siebten Lebensjahr zu verhüllen seien, um sie "vor sexuellen Versuchungen zu bewahren". Auch der "Burkini" schien diesen Eltern keine Lösung, da er sich im Wasser vollsauge und ihre Tochter beim Schwimmen behindere, ja eine regelrechte Gefahr für ihr Leben sei. Was richtig ist. Und es ist eigentlich schwer nachvollziehbar, warum deutsche Schulen überhaupt gestatten, dass die armen Mädchen unter diesen Stoffhaufen ins Wasser stolpern.

Immerhin steht das nordrhein-westfälische Schulministerium inzwischen hinter Schulleiterinnen wie Renate Glenz. Es kommentierte die Münsteraner Entscheidung mit den Worten: "Es wäre ein Zeichen falsch verstandener Toleranz, wenn die Teilnahme muslimischer Schülerinnen und Schüler an Schulveranstaltungen in das Belieben islamischer Verbände gestellt wurde."

In der "Handreichung" des Innenministeriums wird einfach behauptet, Religionsfreiheit habe Vorrang

Umso erstaunlicher die "Handreichungen" aus dem Jahr 2008 des NRW-Integrationsministeriums, die die islamischen Gebote als "religiöse Pflicht" für alle Muslime darstellen und Eltern, die ihren Töchtern den Schwimmunterricht untersagen wollen, für besonders "liebevoll" halten. Und ganz ähnlich ist leider der Tenor des im Juni 2009 veröffentlichten "Zwischen-Resümees" der von Innenminister Schäuble einberufenen "Deutschen Islam Konferenz". Zwar saßen darin Muslime und Christen, Gläubige und Nichtgläubige, doch stehen die zehn Seiten (von insgesamt 32) "Handreichungen für Schule und Elternhaus" zu "religios begründeten schulpraktischen Fragen" unverrückbar und schriftgläubig auf dem Boden des Korans.

In diesen vom Innenministerium veröffentlichten "Handreichungen" wird einfach behauptet, die Religionsfreiheit habe Vorrang vor dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag, der koedukative Sportunterricht wird als problematisch "aus religiösen Gründen" bezeichnet, und es wird empfohlen, im Konfliktfall "Schülerinnen von der Teilnahme an einzelnen Übungen zu befreien"; zum Beispiel wenn das Kopftuch beim naturwissenschaftlichen Unterricht Feuer fangen könnte (sic!).

Das Zehn-Seiten-Papier wurde u. a. von einem der führenden Experten islamischen Rechts in Deutschland, Prof. Mathias Rohe, verfasst. Rohe, der nach eigener Aussage 1978/79 in Saudi-Arabien "als Koch" gearbeitet hat und seit Mitte der 70er-Jahre regelmäßig islamische Länder in aller Welt bereist, hat von 1981–1989 Recht in Tübingen und Damaskus studiert. Er gilt heute in Deutschland vielen als der juristische Experte für die Anwendung bzw. Vereinbarkeit des islamischen Rechts – also der Scharia – mit dem deutschen Recht und gibt sich an etlichen Punkten neuerdings auch durchaus kritisch.

Derselbe Rohe erklärte noch vor einigen Jahren in der Frankfurter Rundschau kritiklos: "In Deutschland wenden wir jeden Tag die Scharia an. Wenn Jordanier heiraten, dann verheiraten wir sie nach jordanischem Recht. Die Menschen haben in diesen privaten Verhältnissen Entscheidungsfreiheit." Einen Vortrag Rohes von März 2003 resümierte die "Bundeszentrale für politische Bildung" mit den Worten: Dass auch die Scharia "Recht sei und im Wesentlichen dieselben Funktionen erfülle wie die Rechtsordnungen westlicher Gesellschaften. (…) Aus westlicher Sicht bereite das Rechtsverständnis der Scharia keine größeren Probleme."

In Ratgebermanier werden die rechtsstaatlichen Grenzen für muslimischen Eltern ausgetüftelt

2006 kritisieren Soziologen scharf eine Moslem-Studie, die Rohe im Auftrag des österreichischen Innenministeriums erstellt hatte, wegen "gröbster methodologischer und technischer Mängel" – im gleichen Jahr beruft das deutsche Innenministerium ihn in die Islam Konferenz. Zwei Jahre später, 2008, gründet Rohe in Erlangen ein "Zentrum für Islam und Recht in Europa".

In dem von Rohe mitredigierten Papier der Islam Konferenz werden in Ratgebermanier auch noch die letzten Spitzfindigkeiten innerhalb der rechtsstaatlichen Grenzen für muslimische Eltern ausgetüftelt, die ihren Töchtern eine gleichberechtigte Teilnahme in der Schule verwehren und auch Minderjährigen das Kopftuch diktieren wollen. Hier wird deutlich, wie selbstverständlich der Einfluss der Scharia auf das deutsche Rechtssystem heute schon ist – und dass der Prozess der "Schariasierung" des deutschen Rechtsstaates noch lange nicht am Ende ist. Zum Schaden aller Menschen, insbesondere Frauen muslimischer Herkunft – und zur Beschädigung der demokratischen Schule, in der alle die gleichen Chancen haben sollten.

Darum: Wehret endlich den Anfängen! Das Kopftuch-Verbot für Lehrerinnen an deutschen Schulen hat ein Signal gesetzt. Es musste über Jahre gegen die von Islamverbänden unterstützte oder gar initiierte Welle von Prozessen verteidigt werden. Das scheint gelungen zu sein. Jetzt ist der zweite Schritt fällig: Ein Kopftuch-Verbot für Schülerinnen! Nur dieser konsequente Akt gäbe den kleinen Mädchen aus orthodoxen bis fundamentalistischen Familien endlich die Chance, sich wenigstens innerhalb der Schule frei und gleich bewegen zu können. Ob die Mädchen dann nach der Schule das Kopftuch wieder aufsetzen, das wäre dann ihre Sache – bzw. die der Eltern, solange sie unmündig bzw. abhängig sind.

Frankreich hat mit dem 2004 erlassenen Kopftuch-Verbot beste Erfahrungen gemacht. Nachdem zahlreiche Islamverbände zunächst Sturm liefen, entführten sogar fundamentalistische Terroristen im Irak vor Einführung des Verbots im Sommer 2004 zwei Journalisten als Geiseln, um das französische Kopftuch-Verbot zu kippen – was alle, inklusive der Muslimverbände, empört hat. Seither hat es sich bewährt. Die kopftuchfreie Schule ist jenseits des Rheins längst Alltag. Die Schülerinnen und Schüler aller Kulturen finden es selbstverständlich, dass das stigmatisierende Stück Stoff nicht mehr zwischen ihnen steht. Und die LehrerInnen sind erleichtert. Sie können unterrichten, statt immer wieder dieselben pseudoreligiösen Debatten führen zu müssen, angezettelt von Kindern islamistischer Eltern. Sie haben endlich klare Verhältnisse.

Der Text ist ein Auszug aus dem 2010 von Alice Schwarzer herausgegebenen Buch "Die große Verschleierung. Für Integration. Gegen Islamismus".  (KiWi)  Das Buch ist nur noch als Ebook erhältlich.

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