Alice Schwarzer schreibt

Die Abrechnung einer Tochter

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Das Schlüsselerlebnis steht auf Seite 111. Im April 1931 fährt die sechsjährige Maria mit ihrer damals schon berühmten Mutter auf der Bremen von Deutschland nach Amerika. Auf der Schiffsfahrt kommt Kater (so der Familienspitzname) atemlos von einem Kindertreff und erzählt Mutter am Schminktisch das gerade Erlebte.

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Da richtet Marlene sich auf und sagt wortwörtlich (so zumindest erinnert sich das Ex-Kind angeblich nach Jahrzehnten): „Liebling! Rede nicht einfach, um zu reden. Wenn du sprichst, dann sage etwas Interessantes und Intelligentes. Was Kinder tun, ist im allgemeinen nicht interessant. Sei einfach still und höre zu, was intelligente Menschen um dich herum sagen.“ Fortan hielt der Liebling den Mund und hörte zu – zumindest solange Muttern lebte.

Jetzt, 65 Jahre später, redet der Kater, ja hört gar nicht mehr auf zu reden. Auf 890 Seiten enthüllt Tochter Maria nach dem Tod der Mutter, wer „die Dietrich“ wirklich war, zumindest in ihren Augen. Könnte die intellektuell und literarisch so strenge und persönlich so prüde Marlene Dietrich die Ergüsse ihres Katers lesen – sie würde dich in ihrem Berliner Grabe rumdrehen.

Denn Tochter Maria plappert nicht nur ohne Ende, sie veröffentlicht auch hemmungslos Tagebücher, Briefe und sogar – im hohen Alter der Mutter offensichtlich heimlich mitgeschnittene, weil wörtlich wiedergegebene – Tonbänder. Ihr kleinlicher blick auf die große Mutter ist von einer solchen durchgehenden Beschränktheit und Gehässigkeit, dass es wohl selbst die Dietrich aus ihren maßgeschneiderten Schuhen hauen würde.

Fakt ist: Es war sicherlich nicht immer leicht, das Kind von Marlene Dietrich zu sein und schon gar nicht ihre Tochter (die lebenslang mit dem Mythos verglichen wird). Aber welches Kind hat es schon leicht? Und wie hat eine Mutter eigentlich zu sein, damit ihr Kind nicht im Nachhinein das Recht hat, sie hinzurichten?

Dieses Buch ist mehr als ein Buch über die Dietrich. Es ist ein Dokument der schier unlösbaren Mutter-Tochter-Problematik in einer Männergesellschaft. Zu fest sind die Vorstellungen von dem, wie eine Mutter zu sein hat – Vorstellungen, die auch in den Köpfen der mal kindlich abhängigen, mal fraulich rivalisierenden Töchter herumgeistern.

Die Dietrich war nicht nur ein 1000%iger Star, eine 1000%ige Arbeiterin, ein 1000%iger Kamerad und eine 1000%ige Preußin – sie war auch eine 1000%ige Hausfrau und Mutter. Nach den Dreharbeiten pflegte sie sich in ihre Hollywood-Küche zu stellen und Gemüse zu putzen und Zwiebeln zu hacken für den Gulasch oder das Pot-au-feu, das ihre Lieben so gern aßen. Nach dem Umzug wurden extra für den Kater Häuser mit Swimmingpool gemietet und bei Mutters Dreharbeiten kleine Spezialaufgaben für ihn ersonnen. Und Marlenes Liebhaber und Liebhaberinnen mussten sich im Morgengrauen wegschleichen, damit „das Kind nichts merkt“.

Überhaupt hat die Dietrich ihren Kater nur einmal im Leben für drei Monate beim Vater gelassen und sodann von Stund an Tag und Nacht in ihr Leben mit einbezogen, zu sehr einbezogen. Ein Leben lang hat sie gezahlt für ihre Tochter Maria, mit 60 hat sie sogar von ihrer Lebensversicherung (die Sternberg für die chronisch großzügige und darum später mittellose Dietrich abgeschlossen hatte) ein Haus für Tochter Maria, deren Mann und vier Söhne gekauft. – Doch auch das tat sie, laut Kater, nur „um sich auf Parties damit zu brüsten“.

Wahrlich, Mutter Dietrich hatte keine Chance bei ihrer Tochter. Dieselbe Tochter findet für Vater Sieber, der sich nie um sie gekümmert, seine Lebensgefährtin Tami schlimmer als eine Sklavin behandelt und letztendlich in die Psychiatrie abgeschoben hat, für diesen offensichtlich sadistischen, menschenfeindlichen Vater findet die Tochter nicht ein einziges kritisches Wort im ganzen Buch. Für die Mutter aber, die gewiss egozentrisch und strapaziös war, aber eben auch generös und mitreißend, für sie hat sie nur Häme. Hätte die Dietrich genau dasselbe, was sie als Mutter getan hat, für ihre Tochter als Vater getan – sie wäre ein Traumvater gewesen. Aber sie war eben nur eine Mutter.

Es ist selbst diesem Buch – dessen einzig wirklich interessante Stellen die Originaldokumente der Dietrich, ihre Tagebücher und Briefe sind – zwischen den Zeilen zu entnehmen, was für eine ungewöhnlich intelligente und charakterstarke Frau Marlene Dietrich war (ihre Schönheit ist ja hinlänglich bekannt). Und wie rührend sie mit Menschen sein konnte.

Als ihr Regisseur und (Ex)Geliebter Sternberg zum Beispiel von Goebbels öffentlich verhöhnt und sie gleichzeitig hofiert wird, entschließt sie sich unter Tränen aus Loyalität zur Aufgabe ihrer deutschen Staatsangehörigkeit. Als die Emigranten kommen, finden sie bei ihr immer Hilfe und Essen, selbstgekocht, versteht sich. Als sie in das zerbombte Deutschland an der Seite der Befreier zurückkehrt, tingelt sie monatelang in irgendwelchen Verschlägen – für die Deutschen, versteht sich.

Marlene Dietrich – die Frau, die „Sex hat aber kein Geschlecht“ – lebte rigoros anti-bürgerlich. Nichts war aus ihrem Mund so tödlich wie der Ausruf: „Wie bürgerlich!“ Sie hat sich alle Freiheiten und Frauen oder Männer genommen, auf die sie Lust hatte (wobei das mit der reinen Lust in Wahrheit ja nicht soweit her war bei der preußisch Erzogenen und früh Missbrauchten). Sie hat ein Leben lang jenseits aller Konventionen und jenseits allen Mitläufertums immer wieder Haltung gezeigt. In ihren Taten war sie meist konsequent, nur in ihren Worten oft bigott.

Tochter Maria reagierte auf dieses Leben ihrer Mutter anscheinend zunächst mit Faszination und dann mit Abscheu. Sie gab ihre beginnende Karriere demonstrativ für ein leben als Hausfrau und Mutter von vier Kindern auf. Das ist ihr Recht. Aber es ist nicht ihr Recht, sich deswegen über die Mutter zu erheben und sie als Flittchen abzuqualifizieren – was sie in zig Seitenhieben bis hinein in die Fotokommentare mit einer schwer erträglichen Selbstgerechtigkeit tut.

Einfach nichts findet Gnade vor diesem spießigen Töchterchen. Nicht die rührenden Teenager-Tagebücher der 16-jährigen Marlene, in denen sie ihre glühenden Schwärmereien für „interessante“ Männer und „süße“ Frauen gesteht – ohne der täglich an der Front Gefallenen zu gedenken, wie Tochter Maria strafend anmerkt. Nicht die mutigen Frontauftritte der 40jährigen an der Seite der Alliierten – alles nur Show, wie Tochter Maria lauernd vermutet. Nicht die permanenten Abendtuer der ewigen femme fatale – einfach nur peinlich, wie Tochter Maria schaudernd kommentiert.

Sie, die ihre Mutter offensichtlich einst so liebte, ist übrigens heute von wahrer Homophobie geschüttelt. Ja doch, Maria Sieber, verheiratete Riva, sei der Konflikt mit der für sie übermächtigen Mutter zugestanden. Nur – warum hat sie ihn nicht zu Lebzeiten ausgetragen, zu Lebzeiten der Mutter? Warum hat sie sich ein Leben lang von ihrer Mutter aushalten lassen (und verzeiht es der von der Dietrich geliebten Edith Piaf, dieser „Schlampe aus der Gosse“, bis heute nicht, das ausgesprochen zu haben)? Und warum macht sie jetzt mit Indiskretionen ('Meine Mutter Marlene') auf dem Rücken der Toten noch einmal Millionen?

Die Dietrich hat gewusst, dass ihre Tochter Maria nach ihrem Tod über sie schreiben würde (das Buch lag schon sehr lange in der Schublade, Marlene ist alt geworden). Ja, sie scheint ihr sogar Dokumente und Fotos mit der Anmerkung „Für Marias Buch“ überlassen zu haben. Aber Marlene Dietrich hat nicht gewusst, dass die Liebe ihrer Tochter längst in Hass umgeschlagen war – sie schient es noch nicht einmal geahnt zu haben. Denn sonst hätte sie zweifellos alles versucht, um diese distanz- und erbarmungslose Demontage zu verhindern.

Am Ende der 890 Seiten bleibt mir nur eine einzige kritische Frage an Marlene, nämlich die: Warum hat sie es noch nicht einmal geahnt? Warum hat sie ihren Kater so wenig gekannt? Hat sie die Tochter überhaut als eigenständigen Menschen wahrgenommen?

Die Projektionen der beiden – Oh Mutter! Oh Tochter! – sind gegenseitig. Mit einem entscheidenden Unterschied: Marlene Dietrich war aus eigener Kraft Marlene Dietrich. Maria Riva aber scheint tatsächlich nur die schwache Tochter einer starken Mutter zu sein.

Übrigens: Noch nie war ich so erleichtert, nicht Mutter einer Tochter zu sein, wie nach der Lektüre dieses Buches.

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