Mary Shelley: Sie schuf Frankenstein

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Es ist genau 200 Jahre her, da saß eine 19 Jahre junge Engländerin an ihrem Schreibpult in der Nähe Londons und vollendete ihr erstes Buch. Am 14. Mai 1817 hielt sie das Ereignis in ­ihrem Tagebuch fest. Vier Monate danach brachte sie ihr drittes Kind zur Welt. Und ein weiteres halbes Jahr später, am 11. März 1818, erschien ihr Text im Verlag Lackington in London.

Am selben Tag trat die junge Schriftstellerin mit ihren Kindern, ihrem Ehemann und ihrer Stiefschwester eine lange Reise in den Süden an: auf der Flucht vor Gläubigern, auf der Suche nach der Sonne Italiens und in der Hoffnung auf die Wiederbegegnung mit einem alten Freund. Das Werk, das an diesem Tag in die Buchhandlungen Londons ausgeliefert wurde, machte eine beispiellose Karriere, es erschien in allen Weltsprachen. Sein Titel: „Frankenstein oder der moderne Prometheus“. Das Buch gilt heute mehr denn je als Vision und Weissagung einer dehumanisierten Welt, in der das Individuum an der Einsamkeit verzweifelt.

Die Autorin war Mary Shelley, Tochter der Frauenrechtlerin Mary Woll­stonecraft und des Philosophen William Godwin. Der Mann an ihrer Seite hieß Percy Bysshe Shelley, ein damals noch wenig bekannter Lyriker und Sozialrevolutionär. Der Freund, den sie in Italien aufsuchen wollten, war der ­berühmte englische Dichter Lord Byron.

Marys Mutter war kurz nach deren Geburt am 30. August 1797 gestorben. Vater Godwin nahm eine neue Frau, aber er liebte sie nie so wie die Tochter seiner großen Liebe Mary Wollstonecraft. Mit Hingabe widmete sich Godwin der Erziehung des begabten Mädchens. Auf dem Friedhof St. Pancras lernte die Kleine lesen – anhand der Buchstaben auf dem Grabstein ihrer Mutter. Mary wollte Schriftstellerin werden, und der Vater tat, was er konnte, um sie Latein und Französisch zu lehren und ihr die großen Geister der Antike und der Neuzeit nahe zu bringen: Horaz und Ovid, Voltaire und Rousseau, Newton und Milton, Shakespeare und – Godwin. Ja, auch die Werke des ­Vaters studierte die wissbegierige Mary.

Godwin war berühmt geworden mit einer Schrift über „Politische Gerechtigkeit“, in der er die Prinzipien der Französischen Revolution ausbuchstabierte: Ein Ende müsse es haben mit der geistigen Vorherrschaft des Klerus, den Privilegien des Adels und der ungerechten Verteilung der Güter. Gewalt allerdings lehnte Godwin ab. Von der Ehe hielt er nichts, sie sei bloß ein übles Monopol, die freie Liebe hingegen das Gebot der Stunde.

Mary sog diese Lehren in sich auf. Sie war eine wahre Büchernärrin, und je mehr sie lernte, desto größer wurde ihr Wissensdurst. Es war das 19. Jahrhundert, eine Epoche, in der Gleichheit politisch gedacht und just deshalb als Kategorie im Verhältnis der Geschlechter empört bekämpft wurde – von den Männern, aber auch von vielen Frauen. Nein, die Geschlechter seien ungleich und gemäß Gottes Willen sei die Frau dem Manne untertan. Bildung schade der weiblichen Natur. So war Mary mit ihrem Wissen, ihrem Ehrgeiz und ihrem Wunsch, Schriftstellerin zu werden, eine Ausnahme in ihrer Zeit.

Die Vatertochter nahm schon als 16-Jährige an den Debattenzirkeln im Hause Godwin teil. Sie lernte dort einen weiteren Mann kennen, der es als Skandal betrachtete, dass Frauen nichts lesen sollten als die Bibel: den 21-jährigen Dichter Percy Bysshe Shelley. Der belesene Spross eines Barons, der vom Vater wegen seines Bekenntnisses zum Atheismus verstoßen worden war, war ein Schüler Godwins; er vertrat dessen revolutionäre Ansichten und hatte auch die feministischen Schriften der Mary Wollstonecraft studiert. Dass er jetzt die Tochter dieser beiden Geistesgrößen kennenlernen durfte, elektrisierte ihn. Er verliebte sich in Mary, blieb aber reserviert. Denn er war verheiratet – mit Harriet, der Tochter eines Kaffeehausbesitzers, die unter der Fuchtel ihres überstrengen Vaters gelitten hatte und als 16-Jährige nur zu gern mit Shelley durchgebrannt war. Die beiden hatten ein Baby und erwarteten das zweite.

Mary nun war auch ihrerseits fasziniert von Shelley, und das verhehlte sie nicht. So gab der junge Dichter seine Zurückhaltung auf. Drei Monate nach ihrer ersten Begegnung im Frühjahr 1814 sanken die beiden einander auf dem Friedhof St. Pancras in die Arme, machten Liebe und schworen Treue. Shelley schrieb ein Gedicht über die erste Liebesnacht mit Mary: „Denn unsere Kirche ist das Sternenzelt/Und unser Priester der flüsternde Wind.“

Als Shelley vor Godwin hintrat und ihm gestand, dass er dessen Tochter in freier ­Liebe verbunden sei, erstarrte der Vater zunächst ungläubig und schrie dann wütend auf. So hatte er die Sache mit der freien Liebe nun doch nicht gemeint. Theoretisch: Ja. Aber praktisch, und dann auch noch im ­eigenen Haus? Nein! Godwin nannte seinen Schüler einen elenden Verführer und verwies ihn des Hauses. Mary wurde unter Stubenarrest gestellt. Das junge Paar musste erfahren, dass ein Vater sehr anders über Liebe denken kann als ein Philosoph.

Es blieb den beiden nichts übrig als durchzubrennen. Mit Hilfe von Marys Stiefschwester Claire – diese mit Mary fast gleichaltrige Tochter hatte die zweite Frau Godwin mit in die Ehe gebracht – gelang die Flucht. Claire fand, als die Kutsche kam, um Mary und Percy nach Dover zu bringen, dass sie daheim nichts mehr hielt und schloss sich den Ausreißern an.

Das Trio stromerte durch Frankreich und schaffte es bis in die Schweiz. „Wir leben einen Roman aus“, schrieb Mary in ihr Tagebuch, „es ist wunderbar.“

Bald aber war das Geld alle. Shelley, mit seiner Familie zerstritten, lebte auf Pump – der älteste Sohn eines Barons erhielt überall Kredit, auch ein verstoßener. Im Ausland allerdings galt das nicht. Erschöpft, doch glücklich kehrten die drei nach England zurück – um dort zu erleben, dass man sie überall schnitt.

Sie waren Parias. Weder die Shelleys noch die Godwins waren zur Versöhnung bereit, alle stellten sich auf die Seite Harriets, der verlassenen Ehefrau, die ihrer zweiten Entbindung entgegen sah.

Auch Mary war schwanger – und heimatlos. Shelley musste sich verstecken, die Gläubiger schickten ihre Büttel los. Nur mit der Hilfe von Freunden, die dann doch zu ihnen hielten, kamen die drei über die Runden.

Im Februar 1815 gebar Mary eine kleine Tochter, die nur wenige Tage alt wurde. Das Glück hatte sie, so schien es, ganz verlassen. Es war eine Zeit der Tränen, aber auch des Zusammenhalts in der Not. Mary und Percy ließen keinen Tag ver­streichen, ohne gemeinsam zu lesen, zu übersetzen und zu schreiben.

Im Tagebuch hält Mary die jeweilige Lektüre fest: Antike Autoren, englische Klassiker, deutsche Romantiker – was so klingt wie lästige Hausaufgaben, war für die Wissbegierigen geteilter Hochgenuss.

Auch Claire wurde in die Lust an Lektüre und Wissen hineingezogen. Und da sie den Dichter ihres Herzens, Percy Shelley, nicht für sich gewinnen konnte, suchte sie sich einen anderen, einen hochberühmten, als Liebhaber aus: Lord Byron. Claire wollte gerne Schauspielerin werden, und sie fand den Namen Byron auf der Liste der Sponsoren des Drury Lane Theaters. Sie schrieb ihm, man traf sich, eine geheime Affäre begann.

Zu Beginn des Jahres 1816 brachte Mary einen gesunden Jungen zur Welt. Sie nannten ihn William. Und noch eine gute Nachricht gab es zu dieser Zeit: Shelleys Großvater war verschieden und hatte seinem Enkel eine Rente vermacht. Jetzt war die bittere Geldnot zu Ende, und das erste, was Shelley, Mary und Claire planten, war eine Reise in den Süden. Ziel war wieder die Schweiz. Claire hatte einen besonderen Grund mitzufahren: Sie wusste, dass Lord Byron einen Aufenthalt am Genfersee plante, und sie wollte ihm dort ihr Geheimnis anvertrauen: Sie war schwanger.

So machten sich die drei noch einmal auf den Weg – diesmal hatten sie einen kleinen Sohn dabei, ein Kindermädchen und genügend Geldmittel. Shelley hatte sich von seiner ersten Frau getrennt und hegte die Hoffnung, sie und die Kinder für das Leben in einer Kommune mit Mary, Claire, dem kleinen William und noch einem Jugendfreund in der Schweiz zu begeistern. Mary war einverstanden, sie akzeptierte die Polyamorie ihres Gefährten, war sich aber nicht sicher, ob auch sie für ein Kommune-Leben geschaffen sei. Immer öfter wünschte sie sich eine intime Zweisamkeit mit Shelley und stieß sich an der beständigen Gegenwart ihrer Schwester Claire. Aber sie hatte jetzt ihren kleinen Jungen, fühlte sich ihrem Liebsten nah und blickte erwartungsfroh in die Zukunft.

Am Genfersee traf der Shelley-Kreis auf Byron und seinen Hofstaat. Die beiden Dichter kannten sich noch nicht, entdeckten aber bald, wie viel sie verband. Da war einmal die Begeisterung für Bootstouren, sodann der Respekt vor der dichterischen Kraft des anderen. An Segeltörns aber war kaum zu denken. Im Jahr zuvor hatte es in Indonesien einen Vulkanausbruch gegeben, der eine derart dichte Aschenwolke in die Atmosphäre geschleudert hatte, dass der Sommer 1816 als Zeit der Finsternis in die Geschichte einging. Es regnete und ­gewitterte unausgesetzt und die Temperaturen fielen. Notgedrungen setzte sich die Gesellschaft um Mary, Shelley und Byron in dessen Salon an den Kamin und vertrieb sich die Zeit mit Kartenspiel und Lektüre. Byron las gerne laut vor. Zum Wetter passten Gespenstergeschichten.

In der Nacht vom 16. auf den 17. Juni jedoch hatte die Runde von dunklen Kellergewölben, rasselnden Ketten und heulenden Wiedergängern die Nase voll. „Im Grunde ist es immer wieder dasselbe“, fand Shelley. „Ich grusele mich überhaupt nicht“, klagte Mary. Und Byron rief: „He, ihr Freunde, warum zeigen wir nicht, dass wir es besser können? Lasst uns alle miteinander eine Gespenstergeschichte schreiben!“

Der Zuspruch war einhellig, man ging auseinander und fing sogleich an zu assoziieren und zu spinnen. Die beiden Dichter brachten es nur zu Fragmenten. Mary aber begann die Geschichte eines Studenten der Anatomie, der ein menschliches Wesen aus Leichenteilen zusammensetzt und es mit elektromagnetischen Impulsen zum Leben erweckt. All das Wissen, das sie im Hause Godwin und später durch die gemeinsame Lektüre mit Shelley erworben hatte, goss sie in ihren Roman: Er ist voll von den Spekulationen, die seinerzeit den Phänomenen des Magnetismus galten, ferner finden sich die Theorien Miltons, Rousseaus und Godwins. Mary sollte als Siegerin aus diesem Wettbewerb hervorgehen. Ihr Roman „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ begründete sogar ein neues literarisches Genre: die Science-Fiction.

Damals, am Genfersee, konnte niemand ahnen, was aus Mary Godwins „Gespenstergeschichte“ einmal werden würde. Die Shelleys und Claire kehrten im September nach England zurück. Mary arbeitete mit großer Ausdauer an ihrem Roman, Shelley unterstützte sie. Claire musste sich damit abfinden, dass sie Byron verloren hatte – der Lord wollte von ihr nichts mehr wissen, sein Kind jedoch anerkennen.

Ein schwerer Schlag war der Selbstmord Harriet Shelleys im November. Um das Sorgerecht für seine Kinder vor Gericht zu erstreiten, tat Shelley einen Schritt, der seinen Überzeugungen zuwiderlief: Er bat Mary, ihn zu heiraten. Und Mary sagte ja, weil sie hoffte, sich als Mrs. Shelley mit ihrem Vater auszusöhnen. So kam es auch; der Familienrichter aber entschied gegen Shelley. Dem wurden seine väterlichen Rechte aberkannt – wegen seines Atheismus. Für Shelley ein Grund mehr, der englischen Society den Krieg zu erklären.

Im Frühjahr 1818, als ihr „Frankenstein“ erschienen war, reisten Mary, ihr Mann, Claire und deren kleine Tochter von Byron, mit William und einem Baby, das Mary kurz zuvor auf die Welt gebracht hatte, ein drittes Mal auf den Kontinent. Es war ein Gang ins Exil – die englische Gesellschaft verzieh die vielen Regelverletzungen nicht, die Mary und die Ihren begangen hatten. In Italien trafen sie Byron, es entwickelte sich die Pisaner Kolonie mit etlichen weiteren Emigranten. Gute Nachrichten trafen dann doch aus England ein: „Frankenstein“ war ein Erfolg, allerdings hoch umstritten. Der Schöpfer des künstlichen Menschen, fanden die Kritiker, wurde nicht hart genug für seine Hybris bestraft.

Auf das Leben der Exilanten fielen tiefe Schatten: Das Ehepaar Shelley verlor seine beiden kleinen Kinder durch Malaria und Typhus. Auch Claires Tochter starb in einem Kloster. Mary brachte 1819 noch ein viertes Kind zur Welt – nur dieses, Sohn Percy, überlebte. Ihr Mann Percy Shelley sollte England nicht wiedersehen. Er erlitt Schiffbruch mit seinem Segler und ertrank im Golf von La Spezia, kurz vor seinem 30. Geburtstag.

Mary Shelley kehrte 1823 mit dem kleinen Percy nach England zurück. Sie war 26 Jahre alt, hatte einen Weltbestseller geschrieben, drei Kinder begraben und ihre große Liebe an den Tod verloren. Aus der Einsamkeit, in die das Schicksal sie geworfen hatte, fand sie nie wieder ganz hinaus. 53-jährig starb sie in London, nach einem Schlaganfall, umsorgt von Sohn Percy. Sechs weitere Romane hat die Schriftstellerin hinterlassen, keiner hat den literarischen und visionären Rang sowie die weltweite und zeitlose Verbreitung ihres Erstlings „Frankenstein“ erreicht.

 

Barbara Sichtermann

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Barbara Sichtermann: Mary Shelley. Leben und Leidenschaften der Schöpferin des Frankenstein (Herder)
 

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