#MeToo im EU-Parlament
Vielleicht wäre diese Europawahl ohne Jeannes Notizbuch eine andere. Eine, in dem die EU-Parlamentarier als die good guys dastehen, die als Mitglieder dieses „Hauptbeschlussorgans“ der Europäischen Union die Gleichberechtigung vorantreiben. Ganz dem europäischen Gedanken und den Verträgen verpflichtet. Die haben ja die Gleichberechtigung der Geschlechter von Anbeginn an in die DNA Europas eingeschrieben.
Aber dank Jeannes Notizen wissen wir, dass es im Europa-Parlament – 751 Abgeordnete, davon 273 weiblich, und tausende MitarbeiterInnen stark – nicht anders läuft als, nun ja, überall sonst auf der Welt. Was auf dem Papier steht, ist das eine. Was umgesetzt wird, das andere. Seit Monaten gärt die Sexismus-Debatte von Brüssel bis Straßburg. Und die Frauen, die sie angestoßen haben, lassen nicht locker. Frauen wie Jeanne Ponté.
Es gab Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt im EU-Parlament – warum haben sie nicht funktioniert?
Für die heute 28-jährige Französin ereignete sich der Auslöser, ihr „Kleines Heft für Notizen über Sexisten im Parlament (Gehörtes, Gesehenes, Erlebtes)“ zu führen, im Sommer 2014. Jeannes Job als parlamentarische Assistentin war erst ein paar Tage alt. Für viele HochschulabsolventInnen sind die begehrten Stellen im Herzen Europas ein Traumjob. Aber Jeanne, den Master in Europarecht von der Eliteschule „College of Europe“ in der Tasche, spürte trotzdem bald den kleinen Unterschied: „Ich war doppelt verletzlich: Ich war jung und ich war eine Frau.“
An dem besagten Tag besuchte sie nach der Arbeit noch ein Meeting, Drinks und Networken, das übliche Brüssel-Programm. Da fiel Jeanne auf, dass ein älterer Mann im grauen Anzug sie unentwegt anstarrte. Jeanne versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, aber er folgte ihr auf Schritt und Tritt. Als sie das Meeting kurz darauf verließ, versperrte er ihr mit seinem Arm den Weg, den anderen legte er um ihre Taille. „Ich sehe dich hier zum ersten Mal, willst du nicht mal etwas mit mir trinken gehen?“, fragte der Mann, ein deutscher Abgeordneter, wie Jeanne später erfuhr. Jeanne verneinte, schob seinen Arm unwirsch beiseite und eilte davon.
„In diesem Moment ist mir klar geworden: Wenn selbst jemand wie ich, Tochter einer feministischen Mutter, mit all meinem juristischen Wissen über Frauenrechte, sich so klein fühlt – wie muss das dann für andere sein?“, sagt Jeanne. Und so begann sie ihr kleines Notizbuch über sexuelle Übergriffe im EU-Parlament. „Es war mein persönlicher Akt des Widerstandes!“, sagt Jeanne. Eigentlich sollte er nie öffentlich werden.
Aber bald machte unter den Mitarbeiterinnen im Parlament die Rede von der jungen Frau die Runde, die sexuelle Übergriffe sammelt. Denn da unterscheidet sich das EU-Parlament nicht von Hollywood: Alle wussten Bescheid. Die Frauen warnten sich in Flüsternetzwerken; vor dem, mit dem man nicht alleine den Aufzug nehme sollte; vor dem, mit dem man nicht alleine im Büro sein sollte; vor dem, der heimlich Frauen fotografierte. „Hast du keinen Humor, Jeanne?“, hat einmal ein Kollege zu Jeanne gesagt. „Das sind doch einfach nur blöde Witze!“ Aber Jeanne wollte nicht lachen, sie wollte sich wehren.
Auch im EU-Parlament wussten alle bescheid – warum ist nicht schon früher etwas passiert?
Und eines Tages wusste auch die Öffentlichkeit von Jeannes Notizbuch. Ihr Chef, der französische Abgeordnete Edouard Martin, hatte das Büchlein im Oktober 2017 in einem Interview mit einem französischen Lokalradiosender erwähnt. Als Jeanne am nächsten Morgen ihr Handy anschaltete, hatte sie hunderte Anrufe in Abwesenheit zu verzeichnen, darunter zahlreiche Interviewanfragen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Jeanne rund 80 konkrete sexuelle Übergriffe auf sich und Kolleginnen notiert. Nur wenige Tage nach dem Ausbruch der #MeToo-Bewegung, ausgelöst durch die Affäre Weinstein, stand nun auch das EU-Parlament im Kreuzfeuer der Kritik: #MeTooEU.
Inzwischen kann jede und jeder nachlesen, was Jeanne so notiert hat. Auf der Website metooep.com, die sie seit vergangenem Herbst mit einem Dutzend weiterer Parlamentsmitarbeiterinnen betreibt. Die Berichte reichen von anzüglichen Bemerkungen bis hin zu körperlichen Übergriffen. Berichte, aus denen die Enttäuschung, der Ekel und die Machtlosigkeit der Frauen spricht, die den Übergriffen in den engen Büros häufig wehrlos ausgesetzt sind. In etlichen Fällen soll auch Sex im Tausch für Jobs eingefordert worden sein.
Anders als die Anklägerinnen in Frankreich und den USA hat Jeanne sich entschieden, keinen Namen zu nennen, um die Opfer weniger zu gefährden und nicht durch Skandalisierung von dem eigentlichen Problem abzulenken: der strukturellen Gewalt gegen Frauen in der Politik.
Dabei gab es ja bereits Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt im EU-Parlament. Aufklärungsposter und Broschüren; freiwillige Schulungen, gleich zwei Beschwerdeausschüsse, die sich mit sexueller Belästigung und Mobbing befassen etc. Doch zu dem Zeitpunkt, an dem Jeannes Notizen für Furor sorgten, gab es genau null gemeldete Fälle. Stattdessen wendeten sich die Opfer jetzt an Jeanne Ponté – und an Webportale wie Politico, die über den „Dämon sexuelle Belästigung“ in Brüssel berichteten. Auch von Vergewaltigungsfällen ist die Rede.
Die ParlamentarierInnen haben eine Resolution verabschiedet – warum wurde sie nie umgesetzt?
Die Reaktionen aus der EU kamen prompt: EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani zeigte sich „schockiert und entrüstet“. Auf einer „Dringlichkeitsdebatte“ in Straßburg meldeten sich nun auch Parlamentarierinnen zu Wort, die den Sexismus auf EU-Ebene erstmals öffentlich anprangerten. Darunter die Frauenpolitische Sprecherin der Grünen: Terry Reintke aus dem Ruhrgebiet. Ihre Online-Petition „Sexuelle Belästigung im Europäischen Parlament stoppen!“ hatte binnen Wochen über 130.000 Unterschriften. Sie überreichte sie im darauffolgenden Frühjahr an Parlamentspräsident Tajani. Ihre Forderungen u. a.: „Einrichtung einer zentralen Beschwerdestelle zur Meldung von Belästigungsfällen für alle EU-Institutionen“; „Schaffung eines unabhängigen Ausschusses im Europäischen Parlament, der für Fälle von sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt zuständig ist“ und „verpflichtende Schulungen zu sexueller Belästigung und Mobbing“.
Vergleichbare Forderungen landeten auch in der Resolution zur „Bekämpfung sexueller Belästigung“, die das EU-Parlament am 26. Oktober 2017, knapp eine Woche nach Veröffentlichung von Jeannes Notizen, verabschiedete. „Lasst uns sicherstellen, dass auch konkrete Handlungen folgen!“, erklärte die schwedische Handelskommissarin Cecilia Malmström kämpferisch.
Anderthalb Jahre später ist keine dieser Forderungen umgesetzt. Obwohl die Abgeordneten sich inzwischen schon mehrfach für die geforderten Maßnahmen ausgesprochen haben. Zuständig für diese administrativen Fragen ist jedoch das Parlamentspräsidium. Und Tajani und auch seinen Vizepräsidenten scheinen immer neue Gründe einzufallen, den Vorstoß der EU-Frauen zu blockieren.
Anders lässt es sich nicht erklären, dass sie bislang nur einen Kompromiss ausgehandelt haben: Abgeordnete müssen nun einen Kodex für „angemessenes Verhalten“ unterzeichnen. Die Prävention von Belästigung soll „Teil der Einarbeitung von Abgeordneten werden“, so eine Parlaments-Sprecherin. Und die verpflichtenden Workshops? Die sollen jetzt erst mal vom Rechtsausschuss auf ihre Vereinbarkeit mit dem „Freien Mandat“ der Abgeordneten geprüft werden, heißt es.
Die Frauen von #MeTooEP haben eine Kampagne gestartet – wie wird es nach der Wahl weitergehen?
Terry Reintke wirft Tajani deswegen „Arbeitsverweigerung“ vor, es sei ein „Skandal“, dass er gegen den Willen des Parlaments entscheide. Vor allem, weil die Institution sich erneut mit schweren Vorwürfen konfrontiert sieht: Die durch ihren Kampf gegen Upload-Filter bekannte Abgeordnete Julia Reda, Piratin bei den Europäischen Grünen, trat unlängst aus ihrer Partei aus und rief dazu auf, die Piraten „nicht zu wählen“. Denn Piraten-Kandidat Gilles Bordelais auf Listenplatz 2 wird sexuelle Belästigung in mehreren Fällen vorgeworfen. Gilles war auch Redas Büroleiter. Sie hat über Monate versucht, den Mann rasch zu entlassen – aber die Vorgaben der Verwaltung verzögerten die Kündigung. „Was das Thema Sexuelle Belästigung und Sexismus betrifft, ist es im Europaparlament besonders schlimm“, sagt Reda.
Für Jeanne sind die Maßnahmen des Präsidiums nicht mehr als „kosmetische Korrekturen“. Zusammen mit ihren Mitstreiterinnen will sie zur EU-Wahl unter #MeTooEP erst recht loslegen. Die Frauen haben eine Art Selbstverpflichtung zum Kampf gegen sexuelle Gewalt verfasst, die Abgeordnete und Kandidatinnen unterzeichnen sollen Präsident Tajani hat schon unterschrieben. Es ist ja auch Wahlkampf.
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