Alice Schwarzer schreibt

Ist Mitgefühl erlernbar?

Tania Singer, Psychologin und Neurowissenschaftlerin, forscht zum Thema Mitgefühl. - © Bettina Flitner
Artikel teilen

Die Berliner Dependance steht mitten auf dem Gelände der Charité. Es sind einige Baustellen zu überwinden, bis man an das Haus 5 gelangt, wo Prof. Tania Singer (Foto) seit einigen Monaten ihr Mitgefühls-Training mit 15 Lehrenden und 200 ProbandInnen übt. Es ist ein relativ kleines Haus, das sich da wie vergessen zwischen den Hochhäusern duckt. Der Versammlungsraum hat die Form einer Kapelle. Und wären da nicht gemütliche rote und orange Kissen sowie diverse heitere Utensilien – wie die Klangschale oder der mit Wasser und bunten Teilchen gefüllte Ball – würde einem glatt feierlich zumute. Nach einem liebenswürdigen Empfang durch Mitarbeiterinnen taucht die Hausherrin persönlich auf. Vertraueneinflößend barock, unprätentiös und herzlich. Die 43-jährige Psychologin und Neurowissenschaftlerin ist seit 2010 Direktorin des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. In dem Haus hier in Berlin läuft ihr Forschungsprojekt über Mitgefühl. Tania ist die Tochter des Neurophysiologen Wolf Singer, dessen Thesen nicht unumstritten sind. Denn er geht davon aus, verkürzt gesagt, dass das Gehirn das Bewusstsein und den Willen bestimmt – und nicht umgekehrt. Die Tochter machte zunächst einmal das Gegenteil: Sie studierte Psychologie in Marburg und Berlin und arbeitete in London und Zürich – bevor sie eine von 29 Direktorinnen (von insgesamt 285) eines Max-Planck-Institutes wurde. Wir führen das Gespräch in ihrem Übungsraum, bei Kaffee und Keksen.

Anzeige

Frau Prof. Singer, Sie sind von der Ausbildung her Psychologin, kommen also sozusagen von der Software her. Jetzt vermessen Sie die Hardware, die Reaktionen, die im Gehirn durch Gefühle ausgelöst werden. Sie sagen: Wir können Gefühle messen.
Tania Singer So ist es. Ich habe 2004 eines der ersten Experimente in der Neurowissenschaft zur Empathie-Fähigkeit publiziert, an dem zum ersten Mal Paare teilgenommen hatten. Das war der Anfang der Empathie-Forschung in den Neurowissenschaften. Zunächst waren wir sehr skeptisch, ob man soziale Gefühle überhaupt messen kann. Aber ich habe gedacht: Wenn man doch mit jemand anderem mitleidet und dies bewusst fühlen kann, müsste man das ebenso wissenschaftlich im Gehirn messen können wie eigenes Leid. Wir haben also Gehirnströme bei Paaren gemessen: Die Frau lag im Scanner während sie entweder selbst Schmerzreize erlitt oder zusah, wie ihrem Partner nebenan Schmerzen zugefügt wurden. Was wir damals sahen, ist, dass Teile der so genannten Schmerzmatrix im Gehirn bei der Frau reaktiviert wurden, auch wenn diese nur zusah, wie ihr Partner litt. Sie simulierte sozusagen seine Schmerzen.

Spiegel-Neuronen heißt das heute.
So ähnlich. Es gibt aber Unterschiede bei der Empathiefähigkeit: Manche reagieren dumpfer, andere fühlen sehr stark mit. Aber im Prinzip alle haben empathische Reaktionen, Männer wie Frauen. Da gibt es keine relevanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Sprechen Sie von den Reaktionen auf körperlichen Schmerz?
Nicht nur. Wir haben auch Situationen durchgespielt, wo der Eine mit angenehmen oder unangenehmen Materialien berührt wird – da fühlt sich z.B. der Andere auch mitgestreichelt.

Sie haben diese Tests in einer Laborsituation gemacht. Kann man das Ihrer Meinung nach dann einfach übertragen auf die Lebenswirklichkeit?
In diesem Fall ja. Schmerz ist Schmerz. Berührung ist Berührung. Ob im Labor oder in der echten Welt. Es existieren bisher mehr als 50 solcher Untersuchungen, in China, Amerika, bei uns in Europa – und immer kommt das Gleiche raus.

Sie selber sind Psychologin. Aber die Tochter eines bekannten Neurobiologen, der all unsere Regungen vom Biologischen her ableiten möchte …
(Verzieht das Gesicht)

… und Sie sind ein Zwilling. Sie haben mal gesagt, Sie wären sozusagen als „Wir“ geboren.
Das hat mich zweifellos besonders motiviert, Empathie verstehen zu wollen, dieses Phänomen von Resonanz und Interdependenz. In der Neurowissenschaft versuchen wir zu verstehen, wie soziale Realitäten zustande kommen. Also nicht nur, wie das Gehirn Sprache und Gedächtnis verarbeitet, sondern auch: Wie kommen Sie in meine Realität? Wie kann ich wissen, was Sie fühlen und denken? Wie treten wir überhaupt in Kommunikation? Diese Fragen sind bis vor kurzem neurowissenschaftlich noch nie gestellt worden. Die Empathieforschung in den Neurowissenschaften steckt noch in den Kinderschuhen. Und wir stellen uns jetzt die Frage, ob wir diese sozialen Fähigkeiten auch kultivieren, also trainieren können. Kann ein erwachsener Mensch, der wenig empathiefähig ist – also isoliert, egoistisch etc. ist – noch Mitgefühl lernen?

Und, kann er?
Nach Antworten auf diese Frage forschen wir gerade. Und es sieht ganz so aus, als könnte er. Denn das Gehirn ist ja plastisch. Kann sich also lebenslang verändern. Wir wissen, dass sich im hohen Alter noch das Gedächtnis trainieren lassen kann – warum also nicht auch die Empathiefähigkeit?

Neugierig geworden? Das ganze Interview steht in EMMA Januar/Februar 2014. Ausgabe bestellen. 

Artikel teilen
 
Zur Startseite