Ohne Opfer keine Täter

Ekman: "Die Queer-Bewegung vergisst die Machtverhältnisse."
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Wie kamen Sie dazu, Ihr Buch „Varat och Varan“ (Ware und Sein) zu schreiben?
Ich habe in Barcelona gelebt und die Wohnung mit einer Frau geteilt, die sich an einer Autobahnraststätte prostituiert hat. Ich war dabei, wenn sie nachts mit ihrem sogenannten Freund, also ihrem Zuhälter, nach Hause kam und sich betrunken hat. Als ich dann 2006 nach Schweden zurückkam, ging diese Debatte los: Prostitution sei „Sexarbeit“ und befreie die Frauen. Das hatte ich anders erlebt und wollte mich einmischen.

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Hatte Schweden diese Debatte nicht schon 1999, als es die Bestrafung der Freier einführte?
Nein, damals kamen die „altmodischen“ Argumente: „Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt“ oder: „Ein Mann braucht nun mal Sex“. Die „modernen“ Argumente kamen erst später auf. Plötzlich hieß es nun: Prostitution ist befreite Sexualität und wer dagegen ist, ist ein puritanischer Moralist. Das hatte mit dem Erstarken der Queer-Bewegung zu tun, die Prostitution als cool und hip definiert. Das Problem ist: Diese Bewegung stellt zwar Normen in Frage, aber nicht die Machtverhältnisse. Die Prostituierte ist in diesem Diskurs kein menschliches Wesen, sondern ein Symbol für sexuelle Grenzüberschreitung, mit dem man sich schmücken kann wie mit einem Ohrring, den man sich anhängt. Also habe ich mich entschieden, ein Buch zu schreiben, um mal Fakten in die Debatte einzubringen. Zum Beispiel wurde ja von den Gegnerinnen und Gegnern des Gesetzes immer behauptet, dass das Gesetz nur das Werk von Sozialarbeiterinnen und Radikalfeministinnen sei und niemand je den Prostituierten zugehört hätte. Als ich mir die Studien angeschaut habe, habe ich festgestellt, dass das nicht stimmt: In den 1970er Jahren hat es in der Forschung einen totalen Perspektivwechsel gegeben. Während man vorher Prostituierte als Frauen betrachtet hat, die kriminell und eigentlich nicht Teil der Gesellschaft sind, hat man dann begonnen, ins Milieu zu gehen und sie zu befragen. Seither stammen die Erkenntnisse aus den Studien über Prostitution aus der Welt der Prostitution: von den Prostituierten selbst, aber auch von Zuhältern und Freiern. Auf deren Aussagen basiert unser Gesetz.

Was antworten Sie den sogenannten „Fortschrittlichen“, die sagen: Eine Frau muss das „Recht“ haben, sich zu prostituieren und ein Mann das „Recht“, eine Frau zu kaufen?
Das ist ein dummes Argument bar jeglicher Analyse. Wenn wir unsere Gesellschaft auf der Maxime basieren lassen, dass jeder tun kann, was er will und niemand das Recht hat, ihn davon abzuhalten, landen wir in einer völlig anderen Gesellschaft als in der, die wir jetzt haben. Also analysieren wir, was Prostitution ist: Wenn ich mal für einen Moment die Frauenhändler, Zuhälter und die hohe Vergewaltigungs- und Mordrate beiseite lasse und nur auf die zwei Menschen schaue, die sich in der Prostitution begegnen, dann will die eine Person Sex – und die andere will keinen. Ohne diese Grundvoraussetzung brauche ich keine Prostitution, denn wenn zwei Menschen beide Sex miteinander haben möchten, dann gibt es keinen Grund, dass einer dafür bezahlt. Selbst beim teuersten Escort-Service in einem Fünf-Sterne-Hotel will sie nicht Sex, sondern Geld. Es gibt also immer die Ungleichheit der Lust. Prostitution entspricht dem rechten Konzept einer hierarchischen Klassengesellschaft, in der einige die Entscheidungen treffen und andere sie ausführen.

In Ihrem Buch beklagen Sie, dass Linke und Rechte in Sachen Prostitution eine Allianz eingegangen sind.
Ja. Denn auf der einen Seite sind da die neoliberalen Rechten, die an den freien Markt glauben und alles deregulieren wollen. Auf der anderen Seite steht die postmoderne Linke, die alles bejaht, was für sie nach Freiheit klingt. Nun haben wir es bei der Prostitution mit einem völlig deregulierten Markt mit Dumpinglöhnen und Mietwucher zu tun, dem die Linke das Vokabular liefert: „Unterdrückte Frauen nehmen sich die Macht, ihr Leben selbst zu definieren und weigern sich, Opfer zu sein.“

Sie schreiben, das „Opfer“ sei in dieser Debatte einfach abgeschafft worden.
Das Wort „Opfer“ ist ja regelrecht tabu. Ein Opfer zu sein ist peinlich, es ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Deshalb beeilen sich immer alle zu sagen: „Ich bin kein Opfer! Ich weigere mich, ein Opfer zu sein! Ich will nicht Opfer genannt werden!“ In der Prostitutionsdebatte darf es natürlich auch keine Opfer geben. Stattdessen ist man ein „Subjekt“. Das bedeutet: Wenn du ein Opfer bist, musst du dich dafür schämen. Denn es ist ja schließlich deine Entscheidung, ein Opfer zu sein. Das ist wieder Teil der neoliberalen Agenda: Alles ist freie Entscheidung des „Subjekts“. Das Gegenteil von „Opfer“ ist aber nicht „Subjekt“, sondern „Täter“. Doch wenn es keine Opfer gibt, gibt es auch keine Täter. Damit ist nicht nur das Opfer verschwunden, sondern auch die Verantwortung des Sexkäufers. Die Soziologin Heather Montgomery hat über Kinder in Thailand geschrieben, die aus ihren Dörfern in die Prostitution verkauft wurden. Montgomery schreibt, diese Kinder hätten großartige Überlebensstrategien entwickelt, weshalb man sie auf keinen Fall als „Opfer“ bezeichnen dürfe. Zynischer geht es doch nicht mehr.

In vielen europäischen Ländern wird eine ernsthafte Debatte über Prostitution als Verstoß gegen die Menschenwürde und Ausdruck der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern geführt. In Deutschland hingegen ist EMMA leider die einzige öffentliche feministische Stimme gegen Prostitution. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Als ich mit deutschen Frauen über das Thema gesprochen habe, war ich in der Tat sehr überrascht, wie vehement und emotional sie die Prostitution verteidigt haben. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Deutschland in Bezug auf die Rolle der Mutter konservativer ist als andere europäische Länder. Die Prostitution funktioniert ja nicht ohne ihren Gegenpart: die treusorgende Ehefrau, die ein hübsches Heim schafft und sich zu Hause um die Kinder kümmert. Ich glaube nicht, was die Queer-Bewegung behauptet: Prostitution sorgt nicht für mehr Freiheit, sondern für konservativere Familienverhältnisse. Denn je mehr Prostitution und je offener sie stattfindet, umso mehr muss der Mann seine Frau von dieser Welt fernhalten. In Kuba, wo ich vor einiger Zeit auf einer Konferenz gesprochen habe, gibt es zum Beispiel folgende Entwicklung: Kubanische Männer kaufen keine Frauen, aber ausländische Männer kommen als Sextouristen ins Land. Die Folge ist, dass die Kubanerinnen sich nicht mit ausländischen Männern treffen, weil sie dann sofort als Prostituierte gelten. Das heißt: Je mehr Prostitution es gibt, desto weniger frei können sich Frauen bewegen, weil sie ja viel schneller in die Nähe der Prostitution gerückt werden könnten. Viel Prostitution auf der einen Seite bedeutet auf der anderen Seite mehr Puritanismus.

Wo „Huren“ sind, muss es zwangsläufig auch „Heilige“ geben?
Ja, und es ist interessant, sich das einmal historisch anzuschauen. Vor hundert Jahren hat man nämlich genau andersherum argumentiert, um die Prostitution zu verteidigen. Da sagte man: Prostitution ist notwendig, um die Familien zu erhalten. Wenn der Mann nicht zu Prostituierten gehen kann, hieß es, dann kann er es in seiner Ehe nicht aushalten. Er wird wild und unberechenbar und die Zivilisation bricht zusammen. Wenn er aber ins Bordell gehen kann, kommt er ruhig und ausgeglichen nach Hause. Früher wurde uns also Prostitution als Mittel zur Rettung der Ehe verkauft, heute preist uns die Queer-Bewegung Prostitution als Mittel zum Aufbrechen verkrusteter Familienmodelle an. Zur Legitimation der Prostitution wird also immer das Argument benutzt, das jeweils am besten in den Zeitgeist passt.

In Deutschland plant man jetzt, das sehr liberale Prostitutionsgesetz zu reformieren. Es soll verbesserte Kontrollmöglichkeiten geben, zum Beispiel eine Registrierungspflicht für Prostituierte und ein Zugangsrecht der Polizei zu Bordellen. Diese Bordelle sollen dann eine Art Zertifikat bekommen. Was halten Sie davon?
Damit macht man den selben Fehler wie vor hundert Jahren! Damals wurde auch die sogenannte Reglementierung eingeführt, also Prostitution in staatlich kontrollierten Bordellen. Begründung: Wir brauchen Prostitution, aber wir lassen sie kontrolliert stattfinden. So halten wir sie sauber und ordentlich, trennen die gute von der schlechten Prostitution. Wozu hat das damals geführt? Zu einem riesigen Sklavenmarkt. Mädchen und Frauen aus armen ländlichen Gebieten und aus Osteuropa, die in die großen Städte kamen, um dort zu arbeiten, wurden an den Bahnhöfen abgefangen und in die Bordelle gebracht. Weil es schlicht nicht genug Frauen gab, um den enormen Bedarf zu decken. Es ist exakt das gleiche wie heute: Man kann Frauenhandel niemals von der Prostitution trennen, denn es gehen niemals genug Frauen freiwillig in die Prostitution. Also muss man sie irgendwo herholen und zwingen. Die einzige effektive Möglichkeit, den Frauenhandel zu bekämpfen ist: Die Nachfrage nach Prostituierten zu senken! Das sollten wir eigentlich aus der Geschichte gelernt haben.

Hat Schweden das mit seinem Sexkauf-Verbot geschafft?
Die Zahl der Männer, die Sex kaufen, hat sich reduziert. Vor dem Gesetz war es jeder Achte, jetzt ist es jeder Zwölfte. Dass der Sexkauf ein Gesetzesverstoß ist, hatte definitiv eine große Wirkung auf den „normalen Familienvater“, dem es zwar egal ist, was Feministinnen über Prostitution denken, der aber kein Krimineller sein will.

Hat das Gesetz und die Debatte darum auch dazu geführt, dass Männer verstanden haben, warum sie keine Frauen kaufen sollten?
Ich denke schon. Wenn ständig Artikel in den Zeitungen stehen, die berichten, wie die Mafia Mädchen nach Schweden schleust, dann sagen sich eine Menge Männer: Wenn das Prostitution ist, will ich damit nichts zu tun haben. Ich glaube, für die meisten schwedischen Männer ist Prostitution einfach kein Thema mehr. In Deutschland ist das anders. Ich bin in Vierteln gewesen, in denen ein Sexclub neben dem anderen steht und die Leuchtreklamen blinken. Wenn du da als Mann langgehst und womöglich ein bisschen angetrunken bist, dann kann es dir gut passieren, dass du halt in einen dieser Läden gehst. Wenn man so will, sind die Männer auch Opfer dieser kapitalistischen Strategie. Die Prostitutionsindustrie lockt die Männer ja mit allen Mitteln da rein.

Wie waren in Schweden die Reaktionen auf Ihr vehementes Plädoyer gegen die Prostitution?
Sehr positiv. Und die „Liberalen“ sind ein bisschen stiller geworden. Sie argumentieren ja auch nicht mit Fakten. Ihre Strategie ist es, Prostitution mit allen positiven Dingen des modernen Lebens in Verbindung zu bringen: Sex, Arbeit, Wahlfreiheit, Unabhängigkeit, Stärke. Gleichzeitig belegen sie die Prostitutionsgegner mit den negativen, „unmodernen“ Attributen: radikalfeministisch, sexfeindlich, christlich, prüde und so weiter. Das präsentieren sie als Fakten, es sind aber keine. Sie sagen zum Beispiel, dass die Prostituierten seit Einführung des Gesetzes stärkerer Gewalt ausgesetzt sind. Diese Behauptung grassiert im Internet, aber einen Beweis dafür hat niemand geliefert. Außerdem: Wer misshandelt denn die Frauen? Die Freier! Also ist das doch nur ein Grund mehr, die Freier zu bestrafen und sie davon abzuhalten, Frauen zu kaufen.

Gibt es politische Kräfte, die das wieder abschaffen oder abmildern wollen?
Nein, im Gegenteil. Es ist gerade verschärft worden. Wer Sex von Minderjährigen oder Opfern von Frauenhandel kauft, kann jetzt nicht mehr nur mit Geldbußen, sondern auch mit Gefängnis bestraft werden. Das Gesetz hat also breiten Rückhalt im Parlament. Norwegen und Island haben es übernommen, Frankreich und Finnland diskutieren gerade darüber, Holland hat immerhin eingesehen, dass die totale Liberalisierung nicht funktioniert hat. Und worauf ich besonders stolz bin: Bei der Polizei hat inzwischen ein Umdenken stattgefunden. Am Anfang haben die Polizisten gesagt: „Ach kommt, das ist doch kein Verbrechen, haha!“ und die Freier behandelt wie Falschparker. Inzwischen hat es viele Schulungen gegeben. Ich bin bei einigen dabei gewesen und kann sagen: Die Polizisten sind stocksauer auf Richter, die Freier freisprechen. Sie klagen: „Wir sehen diesen Mann jede Woche hier und er kriegt nur eine Bewährungsstrafe!“ Einige von ihnen klingen inzwischen regelrecht feministisch. Weil sie die Misere jeden Tag auf der Straße erleben.

 

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