Sing, Inge sing!

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Als sie sich Mitte der 1990er Jahre nach langer Zeit überraschend bei mir meldete, war Inge Brandenburg voller Schaffensdrang, Energie und Hoffnung. Sie lebte in München und sagte: „Ich trink nicht mehr – das ist vorbei, ich bereite ein neues Programm vor, hab’ wieder tolle Musiker gefunden. Und dann, ja dann zeig ich allen, dass die kleine Inge aus dem Kinderheim wieder da ist.“

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Zum ersten Mal waren wir uns Anfang der 60er Jahre in Stuttgart begegnet im großen Sendesaal des damaligen Süddeutschen Rundfunks. Ich war 19, hatte endloses Lampenfieber vor dieser großen Funkveranstaltung, in der ich, der Nachwuchs, singen durfte und bewunderte diese Künstlerin grenzenlos. Das also war die viel gerühmte Jazz-Sängerin Inge Brandenburg, die ich nur aus dem Radio kannte!

Eine selbstbewusst wirkende schöne Frau Mitte 30, die mit einer tief emotionalen, „schwarzen“ Stimme so den Blues sang, dass sogar die verwöhnten Musiker des berühmten Erwin-Lehn-Orchesters nach ihrer Probe anerkennend auf ihre Holzpulte klopften und die anderen Mitwirkenden des Programms ihr begeistert zuklatschten. Sie war der Star des Programms!

Und nicht nur in Stuttgart: Volle Hallen bei einer gerade abgeschlossenen langen Tournee im damals jazzbegeisterten Schweden. Umjubelter Auftritt beim renommierten Jazz-Fest des Hessischen Rundfunks. Grandioser Erfolg beim legendären Liederfestival in Knokke/Belgien und beim wichtigsten Festival in Juan-les-Pins/Frankreich den Preis als „Beste Jazz-Sängerin Europas“! wurde. Sie, die 1929 geboren, in armen gewaltvollen Verhältnissen mit noch fünf Geschwistern in Thüringen groß wurde, ein Kinderleben voller Entbehrungen und Traumata mit sich herumschleppte. Sie, die kleine Ingeborg, der man im Kinderheim ständig sagte „Aus dir wird nie was“, konnte ihr Glück kaum fassen!

Inge Brandenburg war 16 bei der Befreiung von der Nazi-Diktatur 1945, weggelaufen aus dem Heim für „Schwer Erziehbare“ in Bernburg/Saale, um ihre Mutter zu suchen. Die aber war – genau wie der Vater zuvor im KZ Mauthausen – auf dem Transport nach Auschwitz gestorben. Ihr Vater war als Kommunist verfolgt worden, die Mutter wegen „staatsfeindlicher Äußerungen“.

Nach Irren und Wirren auf der Flucht landete Inge schließlich in Augsburg, fand Arbeit in einer Bäckerei und hörte mit Begeisterung die Musik der amerikanischen Besatzungssoldaten; den Sender AFN, der die Großen der amerikanischen Jazz-Musik spielte: Ella Fitzgerald, Billie Holiday, Glenn Miller, Louis Armstrong … Der Klang der Freiheit nach all den Jahren der Unfreiheit, auch musikalisch.

Und Inge, die von ihrem Vater schon als kleines Mädchen in der Kneipe auf einen Stuhl gestellt worden war, wo sie die Gassenhauer der Zeit sang, verliebte sich jetzt in die Musik der Befreier und sang sie nach. Phonetisch – ohne ein Wort Englisch zu verstehen! Sie übte, sie probte, sie lernte, ihre Freizeit war Musik und ihr Traum wurde wahr: Sie durfte als Sängerin auf die Bühne! Erst in den Clubs der amerikanischen Besatzungssoldaten und später dann in den Palästen der Unterhaltungsindustrie. Inge sang Swing, Blues, Gospel, Spiritual, in Englisch meist, aber auch in deutscher Sprache. Die Kritiken waren des Lobes voll.

Bis 1960 gab es Tourneen mit namhaften Musikern. Und endlich auch die von ihr ersehnte erste Jazz-Schallplatte. Die aber wurde ein kommerzieller Flop. Die deutsche Schallplattenindustrie hatte inzwischen den Jazz in die Sparte „Nischenpublikum“ abgeschoben und reüssierte ab Mitte der 1950er Jahre hauptsächlich mit billiger Schlagerkost (Stil „Capri-Fischer“).

Auch die Brandenburg sollte auf Schlager und Schnulzen getrimmt werden. Sie musste Plattenverträge einhalten und sang mit Widerwillen gedrechselte Schlagertexte („Hey Joe, hey Joe, Gin und Rum bringen keinen Seemann um“). Fernsehmacher und Produzenten versuchten, Inge optisch aufzumotzen: „Was soll das, ich sing doch nicht mit meinem Dekolleté!“, entgegnete sie. Sie litt unter den Nachstellungen von Musikern und Veranstaltern, wie sie ihrem Seelenzettelkasten anvertraut hatte. Und nicht nur dem. „Ihr Penner da oben“, ruft sie einmal im Studio, wo sich Musiker, Produzenten, Aufnahmeleiter und Redakteur aufhielten, die sie drangsaliert hatten, weil sie darauf bestand, die Dinge anders zu singen, als diese tonangebenden Herren es wünschten. „Ihr wollt ja auch alle nur mit mir ins Bett!“.

Es folgte ein Prozess gegen die Schallplattenfirma, der sich hinzog und den sie nicht gewinnen konnte. Die Bedingungen der Auftrittsorte stimmten nicht mehr. Die technischen Voraussetzungen waren miserabel. Mittelmäßige Tourneebands konnten ihrem hohen künstlerischen Anspruch nicht genügen. Veranstalter betrogen sie. Die Jazz-Szene allein bot nicht mehr genügend Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu sichern. Kollegen, die sie um Hilfe bat, enttäuschten sie; Liebesbeziehungen scheiterten. Und immer wieder war der Alkohol der trügerische Tröster …

Musikalisch brachen Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre mit dem Rock’n’Roll und Beat endgültig andere Zeiten an. Aber Inge Brandenburg gab nicht auf. Sie nahm Schauspiel- und Ballettunterricht, spielte kleinere Rollen, mal im Berliner Schillertheater für kurze Zeit oder bei Theaterlegende George Tabori. Sie schrieb eigene Liedertexte („Morgen kann es vielleicht schon zu spät sein“) – aber sie wusste oft nicht mehr, wie sie die Miete bezahlen sollte. Alkoholexzesse, tiefer Fall, negative Schlagzeilen, Krankheit, Stimmverlust. Entzug.

Zerbrochener Traum. Sie konnte ihren Wert als Mensch nicht von ihrem Wert als Künstlerin trennen. In einer mühsam-quälenden Therapie versuchte sie, es zu lernen. Nach einer Stimmbandoperation trainierte Inge ihre Singstimme wieder und hatte 1995 noch einmal ein umjubeltes Konzert in München. Aber an ihre früheren Erfolge konnte sie nicht mehr anknüpfen.

Bei einer unserer wenigen Begegnungen hat sie zu mir gesagt: „Ich bin ja eine, die auf der Bühne immer am glücklichsten ist, gell“. Und viele dieser glücklichen Momente im tragischen Leben der Ausnahmesängerin sehen und hören wir in dem bewegenden Film „SING! INGE, SING! – Der zerbrochene Traum der Inge Brandenburg“, den der in KünstlerInnenporträts spezialisierte Regisseur und Filmemacher Marc Boettcher gedreht hat. Viele musikalische Weggefährten kommen darin zu Wort, aber auch Inge Brandenburg selbst ist immer wieder live und lebendig präsent. Der Film ist gleichzeitig ein Stück Zeit- und Kulturgeschichte mit historischen Dokumenten und Originalfilmausschnitten. Er setzt Inge Brandenburg ein Denkmal, die am 23. Februar 1999 mit 70 Jahren an den Spätfolgen ihrer Alkoholkrankheit in München gestorben ist, und gibt uns Gelegenheit, uns von ihr bewegen und berühren zu lassen.

Die Film-DVD „Sing! Inge, sing! – Der zerbrochene Traum der Inge Brandenburg“ und Song-CDs sind im Handel. - www.inge-brandenburg.de

 

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