Der Krieg hat kein weibliches Gesicht

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Maria Terentjewna Dreijschuk, Sanitätsinstrukteur

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Mein erster Verwundeter war Oberleutnant Below, mein allerletzter Sergej Petrowitsch Trofimow, Sergeant eines Granatwerferzuges. Er besuchte uns 1970, und ich zeigte meinen Töchtern die Wunde von damals: An seinem Kopf ist eine große Narbe geblieben. Alles in allem habe ich 481 Verwundete aus der Feuerlinie getragen. Ein Zeitungsmann hat nachgerechnet: ein ganzes Schützenbataillon (…) Am 25. Dezember 1941 nahm unsere 343. Division der 56. Armee eine Höhe vor Stalingrad. Die Deutschen wollten sie unbedingt zurückerobern. Es kam zu einem heißen Gefecht. Deutsche Panzer rückten vor, wurden aber von unserer Artillerie gestoppt. Die Deutschen wurden zurückgeworfen, und auf dem Niemandsstreifen blieb ein verwundeter Leutnant liegen, der Artillerist Konstantin Chudow. Zwei Sanitäter, die ihn bergen wollten, wurden tödlich getroffen. Dann krochen zwei Sanitäts-Schäferhunde los (ich sah sie dort zum ersten Mal), aber die blieben auch auf der Strecke. Da riss ich mir die Pelzmütze vom Kopf, richtete mich zu voller Größe auf und sang, zuerst leise, dann immer lauter, unser Lieblingslied aus der Vorkriegszeit, 'Zur Heldentat gab ich dir das Geleit'. Auf beiden Seiten verstummte alles, bei uns und bei den Deutschen. So ging ich auf Kostja zu, bückte mich, legte ihn auf den Flachschlitten und schleppte ihn zurück. Und wie ich so gehe, hab ich nur den einen Gedanken: 'Bloß nicht in den Rücken, sollen sie mich lieber am Kopf treffen.' Aber es fiel kein einziger Schuss …

Klawdia Grigorjewna Krochina, Obersergeant, Scharfschützin

Wir gingen in Deckung, und ich gab Obacht. Da seh ich: Ein Deutscher hat sich aufgerichtet. Ich zog ab, und er fiel um. Da hat es mich mächtig geschüttelt. Ich heulte los. Auf Zielscheiben schießen, das machte mir nichts aus, aber einen Menschen umbringen … Später verging das. Und es verging so: Wir waren auf dem Vormarsch, in Ostpreußen war es, bei irgendeiner kleinen Siedlung. Und da stand am Weg eine Baracke oder vielleicht ein Haus, ich weiß es nicht genau, das brannte lichterloh, war schon fast niedergebrannt, und in der Glut Menschenknochen, und unter den Knochen angeschwärzte Fünfzacksternchen – da waren unsere Verwundeten oder Gefangenen verbrannt… Danach, wie viele ich auch abgeschossen hab, tat mir keiner mehr leid. Wie ich diese brennenden Knochen sah, fand ich keine Ruhe mehr, nur Wut und Rache in mir. Von der Front kam ich ergraut zurück. 21 Jahre, und der Kopf schon ganz weiß. Ich war verwundet worden und verschüttet und war jetzt auf einem Ohr taub.

Walentina Pawlowna Tschudajewa, Flakgeschützführerin 

Die Uniformmäntel groß und schwer, wir gingen darin nicht, wir kippten um wie die Garben. Stiefel gab es für uns anfänglich nicht, alles nur Männergrößen. Die wurden später gegen kleinere ausgewechselt: Das Oberleder rot, der Schaft aus schwarzem Kunstleder. Damit ließ sich schon Staat machen! Alle waren wir dünn und fipsig, die Feldblusen hingen uns nur so am Leib. Wer zu nähen verstand, passte sie sich einigermaßen an. So wurde ich Nachrichtensoldatin in einer Flak-Einheit, machte Dienst im Gefechtsstand, in der Vermittlung.

Das wäre wohl auch bis Kriegsende so geblieben, hätte ich nicht die Nachricht erhalten, dass Vater gefallen war. Von da an setzte ich der Führung zu: 'Ich will mich rächen, heimzahlen will ich den Faschisten, was sie mir angetan haben!' Ja, schießen wollte ich, töten… 

Sie redeten mir gut zu: Das Telefon bei der Artillerie sei etwas Hochwichtiges. Das schon, aber der Telefonhörer schießt ja nicht. Ich schrieb ein Gesuch, der Regimentskommandeur lehnte es ab. Kurz entschlossen schrieb ich an den Divisionschef. Oberst Krasny kam, ließ alle antreten und fragte: 'Wer ist hier diejenige, die Geschützführer werden will?' Ich stand da, klein und mager, mit dünnem Hals, und an diesem Hals hing eine MPi, ganz schön schwer – 71 Schuss Munition. Ein Bild des Jammers. 'Also was willst du?' – 'Schießen will ich!' Er starrte mich lange an, plötzlich machte er schroff kehrt, und weg war er. Eine glatte Absage, dachte ich mir. Da kam unser Batteriechef gelaufen! 'Der Oberst hat’s erlaubt!' Ich machte einen Schnellkurs mit, drei Monate insgesamt. Dann war ich Geschützführerin und kam in das 1357. Flakregiment. Anfänglich hatte ich Ohren- und Nasenbluten und eine ganz schlimme Magenverstimmung. Nachts war es nicht ganz so schrecklich, aber am Tag! Es sieht so aus, als würde das Flugzeug auf dich zielen, auf deine Flak. Es kommt haargenau auf dich zu. Gleich kracht’s, und nichts, rein gar nichts bleibt von dir übrig. So was ist nun wirklich nichts für Mädchen (…)

Zuerst hatten wir 'Fünfundachtziger', die hatten sich vor Moskau gut bewährt und wurden dann zur Panzerabwehr eingesetzt. Wir kriegten 37-Millimeter-Geschütze. Das war im Abschnitt Rshew. Was dort für Kämpfe tobten!

Im Frühjahr Eisgang auf der Wolga, und was sehen wir? Eine Eisscholle driftet, und darauf zwei, drei Deutsche und ein russischer Soldat. Ineinandergekrallt, so waren sie ums Leben gekommen. Ins Eis eingefroren, und die ganze Scholle blutüberströmt. Stellen Sie sich das einmal vor: auf der ganzen Wolga Blut…

Mit 18 oder 20 waren wir an die Front gegangen, und 20- bis 25-jährig kehrten wir zurück. Zuerst die große Freude und dann die Angst: Was fangen wir jetzt an im zivilen Leben? Die Freundinnen hatten nun schon die Hochschule hinter sich, und wer waren wir? Was hatten wir? Weder Beruf noch Erfahrungen. Das Einzige, was wir kannten und konnten, war der Krieg.

Wir wollten ihn möglichst schnell loswerden, den Krieg. Ich schneiderte mir aus meinem Uniformmantel einen Frauenmantel, nähte die Knöpfe um. Dann verscherbelte ich meine Militärstiefel auf dem Markt und kaufte mir ein Paar Damenschuhe. Als ich zum ersten Mal ein Kleid anzog, musste ich weinen. Ich erkannte mich nicht wieder – vier Jahre hatten wir in Männerhosen gesteckt…

Wem konnte ich sagen, dass ich verwundet war und an den Folgen einer Kontusion litt? Es stimmt ja auch: Ich habe kranke Füße, und ich war schrecklich nervös… Wo findest du dann Arbeit?

Über dergleichen schwiegen wir eisern, sagten auch keinem, dass wir Frontkämpferinnen waren. Später dann begann man uns zu feiern, lud uns zu Treffen ein. Aber anfänglich schwiegen wir. Trugen auch unsere Auszeichnungen nicht. Die Männer trugen ihre Orden, sie waren die Sieger, die Helden auf Freiersfüßen, aber uns guckte man mit ganz anderen Augen an.

Maria Iwanowna Morosowa, Scharfschützin

Wir gingen zu zweit los; draußen ganz allein von früh bis spät liegen ist schwer, die Augen tränen dir, die Hände werden taub, der ganze Körper wird vor Anspannung steif und starr. Und erst im Winter! Der Schnee taut unter dir weg. Kaum dass der Morgen dämmerte, brachen wir schon auf, und erst in der Dunkelheit kehrten wir in die Stellungen zurück. So lag man zwölf Stunden oder auch länger im Schnee, oder wir versteckten uns in einem Baumwipfel, unter dem Dach eines Schuppens, eines zerstörten Hauses. Der Feind durfte ja nicht herauskriegen, wo wir lauerten. Und möglichst nahe ran mussten wir – bis auf sieben, achthundert oder auch nur fünfhundert Meter. Ich weiß nicht, woher wir den Mut hatten.

Unsere Aufklärer schnappten einen deutschen Offizier, der zerbrach sich den Kopf, wieso in seinem Abschnitt so viele Soldaten ausgefallen waren, alle durch Kopfschuss. 'Ein gewöhnlicher Schütze', sagt er, 'trifft nicht so genau. Zeigt mir bitte diesen Scharfschützen, der so viele meiner Soldaten umgelegt hat. Ich hatte Nachschub bekommen, aber jeden Tag fielen bis zu einem Dutzend Soldaten aus.' Sagt darauf der Regimentskommandeur: 'Die kann ich Ihnen leider nicht zeigen – es war ein Mädchen, und sie ist gefallen.'

Es war Sascha Schljachowna gewesen. Und umgekommen war sie in einem Scharfschützen-Duell. Ein roter Schal wurde ihr zum Verhängnis. Sie mochte sich von diesem Schal nicht trennen, und Rot auf weißem Schnee, das springt sofort ins Auge… Als der deutsche Offizier hörte, es sei ein Mädchen gewesen, da zog er den Kopf ein, wusste nichts mehr zu sagen…

Albina Alexandrowna, Kundschafterin

Am teuersten ist mir meine erste Tapferkeitsmedaille. Die Schützenkette liegt platt. Kommt das Kommando: 'Vorwärts, für die Heimat!' Keiner rührt sich. Noch einmal der Ruf, und wieder nichts. Da riss ich mir die Mütze vom Kopf – sie sollten sehen, dass ich ein Mädchen war – und sprang auf. Im Nu kamen alle hoch, und wir griffen an.

Mir wurde die Medaille ausgehändigt, und am selben Tag hatten wir einen Aufklärungseinsatz… Ja, und da passierte es mir zum ersten Mal… das Monatliche. Wie ich das Blut sehe, schrei ich auf: 'Ich bin verwundet!' Wir hatten in unserer Gruppe einen Feldscher, ein älterer Mann. 'Wo hat’s dich denn erwischt?' 'Weiß ich noch nicht … Aber das Blut …' Da hat er mich väterlich aufgeklärt.

Nach dem Krieg bin ich dann noch an die 15 Jahre lang auf Erkundung ausgegangen. Jede Nacht. Und in den Träumen immer dies: Mal klemmt die MPi, mal sind wir umzingelt. Du wachst auf und klapperst mit den Zähnen.

Antonina Grigorjewna Bondarewa, Gardeleutnant, Fliegerin

Ich hatte vor dem Krieg geheiratet und ein Töchterchen geboren. Mein Mann war Flieger, er fiel vor Moskau. Als ich die Todesnachricht erhielt, meldete ich mich an die Front. Und es dauerte gar nicht lange, da wurde ich in das 125. Garde-Bombengeschwader aufgenommen. Das Kind hatte ich bei der Schwiegermutter gelassen, doch die ist dann bald gestorben. Danach nahm sich die Schwester meines Mannes der Kleinen an…

Als ich nach dem Krieg demobilisiert wurde, wollte sie mir meine Tochter nicht zurückgeben. Ich sei eine Rabenmutter, weil ich das Kind im Stich gelassen hätte, um in den Krieg zu ziehen. Die Kleine war drei gewesen, als ich wegging, und jetzt war sie sieben. Fast schon ein erwachsener Mensch. Sie hatten hungern müssen und auch sonst viel durchgemacht. Die Kleine hatte in einem benachbarten Lazarett getanzt, Liedchen gesungen und sich so ab und zu ein Stück Brot verdient. Das hat sie mir später erzählt … Sie hatten es wirklich schwer.

Ich hatte an der Front oft an sie gedacht, nachts von ihr geträumt, mich sehr nach ihr gesehnt. Meine Schwägerin gehörte zu jenen Frauen, für die ihre Familie, die Kinder ein und alles sind. Ob Bombenhagel oder Artilleriebeschuss, diese Frau hat nur den einen Gedanken: Bleibt denn das Kind heute ungebadet? Ich wäre überhaupt keine richtige Frau, sagte sie. Ich hab damals viel geweint.

Nina Wassiljewna Iljinskaja, Krankenschwester, Obersergeant

Dort, an der Front, war die Liebe sicherlich anders. Jeder wusste: Du liebst jetzt, und jeden Augenblick kann dieser Mensch ums Leben kommen. Unsere Liebe kannte kein Später, kein Morgen. Und wenn wir liebten, dann von Herzen. Jedenfalls konnte es dort keine Unaufrichtigkeit geben, denn sehr oft endete unsere Liebe mit einem Sperrholzstern auf dem Grab.

Und auch dies ist auffällig: Meist zeigten sich die Männer uns Frauen von ihrer besten Seite. Sie setzten dort ihr Leben ein. Und in uns sahen sie nicht nur das Weibliche, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstopferung. Ich glaube sogar, ja von mir selbst kann ich es behaupten: Trotz aller Schrecken und Greuel haben viele von uns im Krieg den schönsten Höhenflug der Seele erlebt. Ist ja auch verständlich, denn jeder Tag entschied von neuem über Leben und Tod. Tagtäglich wurde der Mensch auf die Probe gestellt. War er hochherzig, dann sahen es alle, und war er eine Niete, ein Feigling, so blieb auch das keinem verborgen.

Als ich aus dem Krieg zurückkam, waren Soldatenmantel und Feldbluse alles, was ich hatte. So musste ich mein Leben neu beginnen, und es war wieder wie an der Front: Bette dich auf den Mantel und deck dich mit ihm zu… Ja und außerdem gab es allerhand Gerede und Getuschel. Bald sind es 40 Jahre, und immer noch brennen mir die Wangen.

Der Mann kam zurück – und er war ein Held! Auf Freiersfüßen! Unsereins aber stieß auf scheele Blicke: 'Man weiß ja, was ihr dort getrieben habt!' Und womöglich beriet die ganze Verwandtschaft, ob so eine in die Familie einheiraten dürfe. Offen gesagt, wir verheimlichten, dass wir von der Front kamen, wollten es gar nicht erst sagen. Wir wollten wieder ganz gewöhnliche Mädels werden, wollten heiraten …

Nikolai Borrisowitsch (Zufallsbekanntschaft der Autorin im Zug)

Unter den Frontkämpferinnen gab es viele hübsche Mädchen. Aber wir sahen in ihnen nicht die Frau, so wunderbar diese Mädchen auch waren. Wir betrachteten sie als Freund. Es waren unsere lieben Helferinnen, die uns aus dem Feuer schleppten. Ich selbst wurde zweimal so gerettet. Aber würden Sie wohl Ihren Bruder heiraten? Es waren eben unsere Schwestern. Als der Krieg zu Ende ging, waren sie völlig schutzlos…

Beispielsweise meine Frau. Ein großartiger Mensch, seit 35 Jahren verstehen wir uns prächtig. Aber auch sie ist voreingenommen gegen die Frontmädchen. Die hätten sich dort bloß Männer angeln wollen, Techtelmechtel gesucht. In Wahrheit aber – und wir reden doch jetzt aufrichtig miteinander – waren das hochanständige Mädchen. Tja, und nach dem Krieg, da baute sich jeder von uns sein eigenes Leben auf. Nach all dem Schmutz, den Läusen, nach all den Leiden und den Toten verlangte es einen nach etwas Schönem. Nach schönen Frauen.

(…) Ich hatte einen Freund, den hatte an der Front eine Krankenschwester geliebt, ein wunderbares Mädchen, wie ich das heute sehe. Aber er hat sie dann nicht geheiratet. Als er aus dem Wehrdienst entlassen wurde, fand er eine andere, die war attraktiver. Und er ist unglücklich mit ihr und kann jene nicht vergessen – die wäre sein Lebenskamerad geworden. Aber gleich nach der Front, da wollte er sie nicht. Vier Jahre lang hatte er sie bloß in abgetretenen Langschäftern und Wattekitteln gesehen, und er wollte doch den Krieg vergessen. Wir wollten so rasch wie möglich weg davon. Und auch unsere lieben Mädel haben wir damals vergessen.

Auszüge aus „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ von Swetlana Alexijewitsch.

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