Trans: Wo sitzt das Geschlecht?
Das Gespräch wurde kurz vor der eigentlich noch zur Sommerpause geplanten Verabschiedung des Gesetzes geführt - die nun wohl aber zum dritten Mal verschoben wird. Mit gutem Grund.
In der nächsten, Ende Juni erscheinenden EMMA werden wir noch einmal auf die vielen heiklen Punkte dieses von manchen vermutlich sogar gut gemeinten Gesetzes eingehen. Sowie auf die Stellungnahmen von Ärzten, Psychologen, Juristen, Eltern, Feministinnen und erfahrenen Transsexuellen. Sie alle warnen vor diesem naiven, unbedachten Gesetzesentwurf, der nicht nur transexuelle, sondern alle Menschen betreffen und vor allem Mädchen und Frauen schaden würde.
In dem Spiegel-Interview erklärt Lehmann gleich zu Beginn: „Das Geschlecht ist nicht nur das, was zwischen den Beinen stattfindet, sondern auch zwischen den Ohren, sprich im Gehirn.“ Das ist richtig, müsste aber im 21. Jahrhundert differenziert werden nach: Biologisches Geschlecht (sex) und Geschlechterrolle (gender). Zweiteres findet zwischen den Ohren statt, ersteres zwischen den Beinen und im ganzen Körper. Ersteres ist das unveränderbare biologische Geschlecht, zweiteres ist das vielfältige, variable kulturelle Geschlecht, das keineswegs vom biologischen abhängig sein muss.
Versteht Lehmann den Unterschied zwischen biologischem und sozialem Geschlecht?
Das feministische Credo lautet: Befreit euch, unabhängig vom biologischen Geschlecht, von der Geschlechterrolle! Seid „feminine“ Männer oder „männliche“ Frauen, je nach individueller Befindlichkeit. Pfeift auf die Geschlechterrollen, für die das biologische Geschlecht nur ein Vorwand ist.
Doch die eingeübten Rollen sitzen so tief, dass sie sich meist nicht einfach über Bord werfen lassen. Es gibt sie noch, die guten alten Geschlechterrollen. Die Transsexualität ist der beste Beweis dafür. Du willst keine „Frau“ sein, obwohl du eine Vagina hast? Dann bist du eben ein Mann! Du willst kein „Mann“ sein, obwohl du einen Penis hast? Dann bist du eben eine Frau! Dazwischen? Nichts.
Es gibt sie also, die echten Transsexuellen. Menschen, die zwischen die Räder der Rollenzwänge geraten sind und ihr Heil nur noch im „Wechsel“ des Geschlechts sehen. Sie können mit der Freiheit, zu leben wie sie wollen, unabhängig vom biologischen Geschlecht, nichts anfangen. Sie wollen das andere Geschlecht sein bzw. sich zumindest maximal dem anderen Geschlecht angleichen. Sie leiden zu extrem an ihrem Geschlechtskörper. Denn es gibt sie ja durchaus noch: die Rollenzuweisungen aufgrund des biologischen Geschlechts. Und das nicht nur in Afghanistan.
Wir sollten 14-Jährigen nicht das schlichte Angebot machen, die Schublade zu wechseln
In den 1990er Jahren wurden in einer sozialwissenschaftlichen Studie rund 1.000 transsexuelle Menschen in Deutschland gezählt. Heute sind es vielleicht zehn Mal so viele aufgrund des weiteren Raumes, so etwas Ungeheuerliches auch nur zu denken. Also etwa 10.000, eine extreme Minderheit. Für sie sollte das existierende Transsexuellengesetz reformiert werden, damit ihnen jede vermeidbare Einengung und Demütigung künftig erspart bleibt.
Doch für diese Minderheit können nicht die biologischen, sozialen und kulturellen Realitäten der Geschlechter juristisch auf den Kopf gestellt werden. Und wir sollten uns auch hüten, schon 14-Jährigen mitten in der Pubertät und im Identitätstrouble das schlichte und gefährliche Angebot zum Schubladenwechsel zu machen, statt zur Befreiung: Sei wie du willst! Pfeif auf die Geschlechterrolle! Zwänge dicht nicht von der einen Schublade in die andere! Denn die Welt ist weiter und fluider, als es nur zwei Schubladen fassen können.
Gleich am Anfang hätten die Spiegel-Interviewer also die Frage stellen müssen: Wovon reden Sie, Herr Lehmann - vom biologischen oder vom kulturellen Geschlecht? Von sex oder gender? Oder ist Ihnen der Unterschied etwa gar nicht klar?
ALICE SCHWARZER