"Familiendrama" bis Flugzeugdrama

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Es ist ein echtes Déjà vu: Der Shitstorm, der über EMMA hereinbrach, als sie am Freitag den Kommentar von Luise Pusch zu dem tragischen Flugzeugunglück auf EMMAonline stellte. Pusch hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die Selbstmordrate bei Männern viermal so hoch liege wie bei Frauen. Und daraus die Konsequenz gezogen, dass mehr Pilotinnen im Cockpit mehr Sicherheit bedeuten würden. Bestätigt wurde die Linguistin durch die Schweizer Psychiaterin Prof. Gabriela Stoppe, Vizepräsidentin des Dachverbandes für Suizidprävention. Schon sechsmal, erläuterte Stoppe, hätten in den letzten Jahren Piloten mit ihrem Flugzeug außerhalb von Europa Selbstmord begangen. Stoppe: „Es war nur eine Frage der Zeit, dass auch in Europa ein Pilot mit dem Flugzeug einen Suizid begeht.“

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Sechs Jahre nach Winnenden diskutiert die Welt über die Geschlechterfrage bei Amokläufen

Doch während die Schweizer Medien unaufgeregt über den Beitrag der Psychiaterin berichteten, schäumte der deutsche Internet-Schwarm. „Absurd und fanatisch“, „ekelhaft“, „der Gipfel der Geschmacklosigkeit“, posteten bzw. twitterten UserInnen. Und die Medien zogen nach: „Instrumentalisiert Emma wirklich Tote für die Quote?“ fragte die Süddeutsche im Brustton der Entrüstung. Und auch Bild-Kolumnist Roland Tichy befand, EMMA missbrauche die „Katastrophe“ für „ein billiges politisches Geschäftchen“.

Das kommt uns alles sehr bekannt vor, denn das hatten wir schon mal. Nämlich, als Alice Schwarzer nach dem Amoklauf von Winnenden 2009 anmahnte, einen bis dato blinden Fleck wahrzunehmen: Die Tatsache, dass der Täter männlich und die Opfer in der Schulklasse – mit einer Ausnahme – weiblich waren. „Warum leugnen beim Amoklauf von Winnenden selbst die Ermittler den Faktor Geschlecht?“ fragte die EMMA-Herausgeberin.

Damals fand die Staatsanwaltschaft zunächst weder das Geschlechterverhältnis der Erschossenen bedeutsam noch die Tatsache, dass der 18-jährige Tim rund 200 Gewaltpornos auf seinem Rechner gespeichert hatte, die Fesselungen und Folterungen von Männern durch Dominas zeigten. Auch nicht, dass Tim Kretschmer in einem Internet-Forum den Frauenmörder Ted Bundy sein Idol genannt hatte. Alles „kein ermittlungsrelevanter Ansatz“. 

Der Sturm der Entrüstung, der daraufhin losbrach, richtete sich keineswegs gegen die Ignoranz der Ermittler – sondern gegen Schwarzer. Tenor: Jetzt fängt die schon wieder mit ihrem Geschlechtergedöns an! Und, ganz wie jetzt, warf man ihr die „Instrumentalisierung der Tat“ (FAS) vor. Nicht, wie im aktuellen Fall, für die Frauenquote, sondern damals für EMMAs PorNo-Kampagne.

Sechs Jahre nach Winnenden und einige Amokläufe später diskutiert die ganze Welt über die Geschlechterfrage bei Amokläufen – und über das Gefahrenpotenzial, das verunsicherte Männlichkeit birgt. Als Anders Breivik 2011 auf Utöya 77 Menschen erschoss, erklärte er in seinem „Manifest“, er wolle das „Patriarchat wiedererrichten“. Denn: „Das Erstarken des Feminismus bedeutet das Ende der Nation und das Ende des Westens.“

Der 22-jährige Elliott Rodger ließ 2014 in Santa Barbara ebenfalls keinen Zweifel an seinem Motiv für seinen sechsfachen Mord: „Ihr Mädchen habt euch nicht für mich interessiert. Ich weiß nicht, warum. Ich werde euch alle dafür bestrafen“, hatte er im Internet angekündigt. Frauen in aller Welt riefen daraufhin die Kampagne #YesAllWomen ins Leben. Und der Spiegel brachte einen mehrseitigen Artikel über die sogenannten „Incels“, die „involuntarily celibataires“: die unfreiwillig frauenlosen (jungen) Männer, die sich aus Frust in Internetforen treffen und dort über ihren Frauenhass schwadronieren – und über ihre Amokphantasien. Elliott Rodger war dort Mitglied gewesen.

Es lohnt sich also womöglich, auch im Falle des Piloten Andreas Lubitz, sich einige Fragen zu stellen. Beziehungsweise à propos dieses Falles, denn bei Lubitz ist tatsächlich noch vieles unklar. Der aktuelle Erkenntnisstand scheint eine schwere psychotische Verstörung des 27-Jährigen zu sein, wenn nicht gar eine Psychose.

Dennoch könnten die Antworten auf solche Fragen womöglich dabei helfen, künftig solche Taten zu verhindern. Denn nur darum geht es ja. Stichwort Amokläufe: Amokläufe, also die Ermordung vieler Menschen, die der Täter selbst nicht kennt, werden mit sehr wenigen Ausnahmen von Männern begangen. Die Liste der Amokläufe, die das belegen, ist (leider) lang, hier eine Auswahl: Montréal 1989 (14 Opfer); Colombine 1999 (13 Opfer); Erfurt und Eching 2002 (19 Opfer); Emsdetten 2006 (5 Opfer); Virginia 2007 (32 Opfer); Winnenden 2009 (16 Opfer); Utöya 2011 (88 Opfer); Newtown 2012 (28 Opfer); Santa Barbara 2014 (6 Opfer). Weibliche Amokläufer sind (bisher) quasi inexistent. Nicht etwa, weil Frauen die besseren Menschen wären. Sondern, weil Frustration und Aggression sich bei Frauen traditionell anders Bahn brechen als bei Männern - nämlich weniger nach außen und eher nach innen, weniger physisch und eher psychisch.

Dass wir endlich etwas Verlässliches zu einem weiteren Bereich der spezifisch männlichen Gewalt sagen können, ist dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht zu verdanken. In seiner Untersuchung „Familiale Tötungsdelikte mit anschließendem Suizid in europäischen Ländern“ hat das Institut 250.000 Zeitungsartikel auf die Berichterstattung über die sogenannten „Familiendramen“ gescannt. Ergebnis: 1.100 Opfer in einem Zeitraum von zehn Jahren, also über 100 pro Jahr allein in Deutschland. 963 dieser Opfer wurden von männlichen Tätern getötet, darunter rund 700 (Ehe)Frauen. 128 Opfer wurden von weiblichen Tätern getötet, meist die eigenen Kinder. Die Zahl der von ihren Vätern getöteten Kinder lag gleich hoch.

Die ForscherInnen bezeichnen das Motiv für Letzteres als „Pseudo-Altruismus“, also den Glauben, die Kinder könnten ohne Mutter oder Vater kein lebenswertes Leben führen. Der weitaus häufigste Fall aber ist die „Selbsttötung nach Mord“: Der Mann, der seine Ehefrau (und manchmal auch die Kinder) nach einer angekündigten Trennung tötet - und anschließend sich selbst, wobei der eigene Selbstmordversuch auffallend oft misslingt. Zentrale Kennzeichen dieser häufigsten Variante: „Eifersucht, Besitzdenken, Kontrolle, Bestrafung, Wiederherstellung der Ehre“.

Fakt scheint also: Männer neigen eher als Frauen dazu, andere „mitzunehmen“, wenn sie sich töten wollen. Das könnte womöglich auch damit zusammenhängen, dass narzisstische Störungen bei Männern erwiesenermaßen häufiger auftreten als bei Frauen. Merkmale: ein „brüchiges Selbstwert-, aber ein grandioses Größengefühl in Bezug auf die eigene Bedeutung“, verbunden mit einem „Mangel an Empathie“, erklärt das „Netzwerk Psychosoziale Gesundheit“.

Frustration und Aggression brechen sich bei Frauen anders Bahn als bei Männern 

Und dann ist da noch die deutlich höhere Suizidrate bei Männern. Von den 10.000 Menschen, die sich in Deutschland pro Jahr das Leben nehmen, sind 70 Prozent Männer, informiert die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention. Woran liegt das? „Vielleicht ist das soziale Netz von Männern weniger eng. Vielleicht liegt es aber auch weniger in ihrer Persönlichkeit, sich Hilfe zu holen“, vermutet Prof. Ulrich Hegerl, Psychiater an der Universität Leipzig. Der deutsche Männergesundheitsbericht bestätigt und beklagt: Depressionen sind bei Männern oft unterdiagnostiziert, weil unerkannt.

Über all das könnten, ja müssten wir nachdenken und uns Fragen stellen. Was bedeuten diese Tatsachen zum Beispiel für die flugärztlichen Untersuchungen (oder die von Lokführern und Busfahrern)? Wo müsste genauer hingeschaut werden, wie könnten psychische Probleme besser erkannt werden? Wie könnten Unterstützungsangebote effektiver den betroffenen Männern nahegebracht werden?

Die ersten fangen mit dem Nachdenken schon an. Zum Beispiel der Österreichische Frauenring, der zu Luise Puschs Kommentar twittert: „Ein interessanter Text, der eine seriöse Diskussion und keinen Shitstorm verdient hätte.“

Und übrigens: Hätte eine Pilotin den Airbus mit 150 Menschen zum Absturz gebracht, würde dann nicht in ganz Deutschland über die Geschlechterfrage diskutiert? Natürlich!

Chantal Louis  

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Alice Schwarzer schreibt

Alice Schwarzer: Gewalt & Geschlecht

© Die Bildstelle
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Hohe Wellen schlug die Erregung am Wochenende über einen Kommentar der Linguistin Luise Pusch auf EMMAonline. Sie macht darin darauf aufmerksam, dass Amokläufe und Familienauslöschungen (gerne verschleiernd „Familiendrama“ genannt) überwiegend von Männern begangen werden. Das ist ein Fakt. Die Feministin zieht daraus den Schluss, dass das ein guter Grund sei für eine Frauenquote im Cockpit (wo nur 6 Prozent Frauen sitzen): Mehr Pilotinnen, weniger Risiko.

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Die Mehrheit der Täter bei Amoktrips sind Männer - was
Gründe hat

Auslöser für die Überlegungen von Pusch war das Airbus-Unglück mit 150 Toten und die mutmaßliche Rolle des 27-jährigen Co-Piloten. Allerdings sind die Ursachen des Unglücks noch nicht geklärt. Spielt ganz sicher kein technischer Defekt eine Rolle? Und wenn nicht, hat der Co-Pilot dann in vollem Bewusstsein und mit voller Absicht gehandelt? Oder befand er sich in einem psychischen Ausnahmezustand? Wir wissen es nicht und können nur hoffen, dass bald Antworten auf diese Fragen gefunden werden. Hoffen für die Opfer, für die Fluggesellschaft – aber auch für den mutmaßlichen Täter.

Der Text auf EMMAonline hat allerdings über den aktuellen Fall hinaus eine wichtige Debatte angestoßen: Welche Rolle spielt das Geschlecht bei Amoktrips? EMMA hat darüber in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt berichtet, wie zum Beispiel im Fall des Amokläufers in der Schule von Winnenden 2009. Amoktrips und Familienauslöschungen (Familiendrama) werden in der Tat in überwältigender Mehrheit von Männern begangen. Was Gründe hat. Die liegen selbstverständlich nicht im biologischen Geschlecht. Denn es gibt ja durchaus auch Täterinnen, wenn auch nur verschwindend weniger. Die Gründe sind psychosozialer Natur.

  • Es kann etwas mit einem vermeintlichen „Versagen“ bei der Männerrolle zu tun haben. Zum Beispiel ein Familienvater verliert eine Stelle und schämt sich über den sozialen Absturz.
     
  • Es kann etwas mit gekränkter „Männerehre“ zu tun haben: Zum Beispiel die Ehefrau will gehen – oder ein angeschwärmtes Mädchen weist den Verehrer zurück.
     
  • Es kann der Konsum von Porno- und Gewaltfilmen eine Rolle spielen. Wobei das auf „fruchtbaren“ Boden fallen muss: Verunsicherung, Isolation etc.
     
  • Es kann etwas mit der Gewohnheit zu tun haben, zu töten. Zum Beispiel ein Kriegsveteran, der im Krieg dutzende Menschen getötet hat, kommt zurück in die Heimat – und tötet dort weiter, sobald er überfordert ist bzw. aggressiv (In den USA gab es in den vergangenen Jahrzehnten mehrere solcher Fälle). Die kulturelle Hemmschwelle, nicht zu töten, wurde in dem Fall in Kriegszeiten niedergerissen und funktioniert nun auch nicht mehr in „Friedenszeiten“.

Spezifisch männliche Gewalt kann also viele Ursachen haben. Doch solange wir nicht nach den Ursachen forschen und sie benennen – solange können wir solche Taten auch nicht in Zukunft verhindern.

Die Gewalt mancher Männer innerhalb der Familie gegen Kinder und Frauen zum Beispiel war bis Mitte der 1970er Jahre überhaupt kein Thema. Es gab sie angeblich einfach nicht. Bis Feministinnen anfingen, dieses Schweigen zu brechen.

Heute wissen wir, dass diese sogenannte „familiäre Gewalt“ epidemische Ausmaße hat – und lebenslange Folgen für die Opfer. Und viele (potenzielle) Täter haben sich erst durch die öffentliche Debatte bewusst gemacht, was sie da tun – und so manche versuchen, sich zu ändern. Viele (potenzielle) Opfer haben sich erst durch die Debatte klar gemacht, dass sie nicht allein sind mit ihrem Schicksal und schon gar nicht persönlich daran schuld.

Erforschung der geschlechtsspezi-
fischen Faktoren von Gewalt ist existenziell

Frauen taten sich zusammen, griffen zur Selbsthilfe: gründeten Notrufe und Frauenhäuser. Gesetze wurden erlassen; Maßnahmen ergriffen, wie die Meldepflicht von Ärzten bei Gewalt gegen Kinder. Unsere Gesellschaft verschließt vor der Beziehungsgewalt von Männern gegen Kinder und Frauen nicht länger die Augen. Sie hat die Aufklärung darüber und den Kampf dagegen zu ihrer Sache gemacht.

Männer in der ersten Lebenshälfte machen bis zu vier Mal so oft Selbstmord wie Frauen. Frauen, heißt es, töten sich seltener, weil sie Verantwortung für Kinder haben; doch vielleicht sind die Gründe komplexer. Auch die „Familienauslöschung“ ist bei Frauen rar, aber es gibt den so genannten „erweiterten Selbstmord“, bei dem Mütter ihre Kinder mit in den Tod nehmen. Sie scheinen zu glauben, die Kinder könnten ohne sie nicht leben.

Es ist also existenziell, auch über die geschlechtsspezifischen Gründe und Formen von Gewalt nachzudenken. Denn nur, wenn wir die Gründe erkennen, können wir auch dagegen angehen.

Alice Schwarzer

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