Weinstein erneut verurteilt!

Schuldig gesprochen: Harvey Weinstein im New Yorker Gerichtssaal. - Foto: John Angelillo/IMAGO
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Nach dem „guilty“ beließ Miriam Haley es nicht bei dem üblichen Dank an Jury und UnterstützerInnen. „Der Schuldspruch gibt mir Hoffnung, dass sich eine neue Sicht auf sexuelle Gewalt eingestellt hat und dass der Mythos des ‚perfekten Opfers‘ schwindet“, sagte die 48-Jährige am Mittwoch nach dem Teilurteil gegen Harvey Weinstein. Eine Stunde zuvor hatten sich die Geschworenen, sieben Frauen und fünf Männer, trotz des Sperrfeuers der Verteidigung gegen die Opfer auf Haleys Seite geschlagen. „Es war erschöpfend und streckenweise entmenschlichend, vor dem Hintergrund der Täter-Opfer-Umkehr auszusagen“, erinnerte sich Haley auf den Stufen des New Yorker Gerichts an ihre Tage im Zeugenstand.

Die gebürtige Finnin hatte schon 2020 währen des ersten Vergewaltigungsprozesses in Manhattan gegen Weinstein ausgesagt. Sie berichtete, wie der frühere Hollywoodmogul sie bei einem vermeintlichen Geschäftstreffen in seinem Loft des Trendviertels SoHo im Sommer 2006 aufs Bett schleuderte, ihren Tampon aus der Vagina riss und sie zu Oralsex zwang. Die Geschworenen sprachen Weinstein damals schuldig. Nach Vorwürfen der Verteidigung, das Gericht habe auch ZeugInnen zu ungeprüften sogenannten „prior bad acts“, früheren schlechten Taten, aussagen lassen, waren Schuldspruch und Verurteilung zu 23 Jahren Haft aber wieder kassiert worden.

"Der Schuldspruch gibt mir Hoffnung auf eine neue Sicht auf sexuelle Gewalt."

Während des neuen Strafprozesses ließen Weinsteins Anwälte in den vergangenen sechs Wochen nichts aus. Sie beschuldigten Haley, das Model Kaja Sokola und die frühere Schauspielerin Jessica Mann, dem Gründer der Film-Imperien "Miramax" und "The Weinstein Company" freiwillig sexuelle Dienste im Tausch gegen Castings, Rollen und Jobs in der amerikanischen Unterhaltungsbranche angeboten zu haben. Erst als ihr Traum von der Hollywoodkarriere nicht aufging, hätten sich die Frauen zu Opfern stilisiert. Als angebliche Beweise präsentierte die Verteidigung den Geschworenen Emails und Textnachrichten in Postergröße, die Haley, Sokola und Mann dem 73-Jährigen in den Monaten nach den Übergriffen geschickt hatten. Haley erklärte die „lieben Grüße“ an Weinstein dagegen mit Verdrängung. „Ich habe den Missbrauch aus meinen Gedanken verbannt, um weiterleben zu können“, ließ die frühere Produktionsassistentin der von Weinstein produzierten Castingshow „Project Runway“ die Jury wissen. Erst die Bewegung #MeToo habe sie Ende 2017 aktiv werden lassen.

Die Jury glaubte Haley. Eine 29-Jährige ohne Arbeitsvisum für die Vereinigten Staaten als freiwillige Sexpartnerin des mächtigsten Mannes in Hollywood? Unwahrscheinlich. Die Floskel „Lots of love“ unter einer Email als Beweis für eine Liebesbeziehung? Noch unwahrscheinlicher. Die Geschworenen erkannten das Machtgefälle zwischen Haley und Weinstein. Auch dass sie weiter Kontakt zu dem Macher von Erfolgsfilmen wie „Shakespeare in Love“ und „Pulp Fiction“ hielt, warfen sie ihr nicht vor. Ein moralisch perfektes Opfer, das Haley nach dem Schuldspruch auf den Stufen des Gerichts in New York zitierte, erwartete die Jury nicht. Wie die Finnin gestand, hatte sie auch nach dem erzwungenen Oralsex auf Weinsteins Unterstützung in Hollywood gehofft. Der berufliche Kontakt, stellte sie aber klar, schloss keine sexuelle Verbindung ein.

Anwältin Gloria Allred: "Der Abgesang auf #MeToo kam offensichtlich zu früh."

Haleys Anwältin, die kalifornische Frauenrechtlerin Gloria Allred, wertete das Urteil nicht nur als persönlichen Triumph ihrer Mandantin. „Der Abgesang auf #MeToo kam offensichtlich zu früh“, wies die Juristin die KritikerInnen der Bewegung in die Schranken. Weinstein war zwar Anfang 2023 auch in Los Angeles zu 16 Jahren Haft verurteilt worden. Seit die Enthüllungen über seine systematischen Übergriffe unter dem Deckmantel der Talentförderung, die Hollywood im Herbst 2017 nach Recherchen von New York Times und The New Yorker erschütterten, war es aber dennoch still um #MeToo geworden. Time’s Up, der angewandte Arm der Bewegung mit einem Fonds für Gerichtsprozesse und prominenten Taktgeberinnen wie Reese Witherspoon und Jessica Chastain, flaute mit der Zeit ab.

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Die Verurteilung des Entertainers Bill Cosby, vor sieben Jahren als Meilenstein von #MeToo gefeiert, wurde längst revidiert. Wie das Newcomb Institute errechnete, blieb auch die Zahl von Belästigungen, Vergewaltigungen und anderen sexuellen Übergriffen in den Vereinigten Staaten seit den Anfängen von #MeToo stabil. Allred, die neben mehreren Weinstein-Opfern auch Frauen vertritt, die angeben, von Jeffrey Epstein, Sean „Diddy“ Combs und R. Kelly vergewaltigt worden zu sein, setzt jetzt auf die Signalwirkung des wiederbelebten Schuldspruchs gegen Weinstein. „Ich kämpfe seit 15 Jahren für Frauenrechte. Ich sehe, dass sich etwas tut“, sagte die 83-Jährige.

Als Antwort auf #MeToo hatte der Bundesstaat New York in den vergangenen Jahren Gesetze wie den „Adult Survivors Act“ auf den Weg gebracht, um Sexualstraftäter mit Verzögerung vor Gericht stellen zu können. Sie setzten die Verjährungsfrist für sexuelle Übergriffe vorübergehend aus. Als die ehemalige Lebensgefährtin des Rappers Sean „Diddy“ Combs, Cassie Ventura, im vergangenen November eine Zivilklage gegen ihn einreichte, brachen alle Dämme. Neben mehr als zehn mutmaßlichen Opfern wurde auch die Staatsanwaltschaft bei dem früheren Hip-Hop-Star vorstellig. Seit Anfang Mai muss sich der 55-Jährige nach einer Anklage zu Sexhandel, organisierter Kriminalität und Waffenvergehen vor einem Bundesgericht in Manhattan verantworten. Bei einem Schuldspruch erwartet Combs lebenslange Haft.

Auch Weinstein könnte den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen. Obwohl die Jury ihn am Mittwoch von dem Anklagepunkt zu erzwungenem Oralsex mit Sokola im Jahr 2006 freisprach, drohen ihm in der Causa Haley bis zu 25 Jahre Haft. 

Die Entscheidung zu Mann, die der frühere Hollywoodmogul im Jahr 2013 in einem Hotel vergewaltigt haben soll, steht dagegen aus. Nach hitzigen Wortgefechten weigerte sich der Vorsitzende der Jury am Donnerstag unerwartet, die Beratungen zu Mann fortzusetzen. Das Gericht erklärte einen Fehlprozess. Der Kampf geht aber weiter. Wie Alvin Bragg, der Bezirksstaatsanwalt von Manhattan, mitteilte, plant er jetzt den dritten Vergewaltigungsprozess gegen Weinstein. Auch Mann brachte sich ein weiteres Mal in Stellung. „Ich habe den Bezirksstaatsanwalt wissen lassen, dass ich bereit und in der Lage bin, so oft auszusagen, wie nötig“, sagte die frühere Schauspielerin. „Mein Kampf ist noch nicht zu Ende.“

CHRISTIANE HEIL

 

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