Ukraine-Krieg: Wir müssen reden!
Er ist einer der rund hundert von mir geschätzten Menschen, denen ich das Manifest geschickt habe. In der Hoffnung, dass sie unterzeichnen. Jede und jeder zweite hat das getan. Doch die Hälfte eben auch nicht. Er gehört dazu, er hat Nein gesagt. Ich nehme ihm das nicht übel. Denn genau zu diesem bitter notwendigen Dialog zwischen Befürwortern und Gegnern von Waffenlieferungen bzw. Friedensverhandlungen möchte ich mit dieser Initiative eben auch beitragen.
Er hat mir gleichzeitig sehr liebenswürdig geschrieben: „Ich schätze und bewundere Sie und Ihre Lebensleistung sehr.“ Mit diesen Worten beginnt sein Brief. Und dann folgt das Aber: „Aber dieser Text macht mich fassungslos. Den Friedensappell mit einem öffentlichen Aufruf zu verbinden, dass man den Gefallenen und Ermordeten nicht helfen soll, ist für mich kaum zu ertragen.“
Ja, es ist schwer zu ertragen, sehr schwer. Dass man diesen über 200.000 toten Soldaten (auf beiden Seiten), den etwa 50.000 ermordeten Zivilisten (in der Ukraine) sowie den vergewaltigten Frauen und traumatisierten Kindern nicht helfen konnte.
Aber womit hilft man jetzt den noch Lebenden? Das ist hier die Frage. Mit noch mehr Waffen, mit denen geschossen und zurückgeschossen wird? Oder mit baldigen Verhandlungen und einem Waffenstillstand?
Atomkrieg: Nur noch 90 Sekunden
bis zur Katastrophe
Bei Verhandlungen würden vermutlich die Kompromisse herauskommen, die beide Seiten beinahe schon mal am 9. April 2022 gemacht hätten. Beinahe. Doch dann intervenierte der britische Premier Boris Johnson im Namen des „Westens“ und sicherlich auch mit Einverständnis, wenn nicht im Auftrag von US-Präsident Biden (Seite 22). In etwa wäre wohl zu Kriegsbeginn dabei rausgekommen: Eine wie schon im Minsker Abkommen 2015 vereinbarte, relative Autonomie der Ostukraine (in der die Mehrheit Russen sind), sowie der Verzicht auf einen Beitritt der Ukraine zur NATO, dafür politische Neutralität. Die Gegenleistung Russlands: Der Abzug seiner Truppen aus allen besetzten Gebieten, auf den Stand des Tages vor Kriegsausbruch, den 23. Februar 2022. Und die Krim? Status Quo für 15 Jahre und sodann ggf. eine Volksbefragung.
Sollten die letztendlich unausweichlichen Verhandlungen irgendwann in etwa so enden, dann – ja, dann wären all die Toten und die Verwüstung der Ukraine umsonst gewesen. Plus Nebenwirkungen: die schwere ökonomische Krise Europas sowie das Elend der Länder des Globalen Südens. In ihnen leben 90 Prozent der Menschheit. Auch sie sind existenziell von den Folgen dieses Krieges betroffen – obwohl sie in überwältigender Mehrheit dagegen sind.
Nach meiner Beobachtung gibt es heute in Deutschland drei Gruppen Menschen, die im jetzigen Stadium des Konfliktes, in dieser ausweglosen „Pattsituation“ (General Milley, der ranghöchste US-Befehlshaber) noch immer gegen Verhandlungen und für noch mehr Aufrüstung sind. Die erste Gruppe hat ein Interesse an dem Krieg, welcher Art auch immer. Sie redet in der Regel am lautesten von „Menschenrechten“ und „Freiheit“. Die zweite Gruppe bezieht in diesem ideologischen Machtkampf die Position des jeweils Stärkeren oder bleibt stumm, um keinen Ärger zu kriegen. Die dritte Gruppe ist überzeugt, dass den Ukrainern auch nach einem Jahr Krieg nur mit weiteren Waffenlieferungen geholfen werden kann.
Mein geschätzter Kollege gehört zweifellos zu dieser dritten Gruppe. Er meint es gut mit den von Russland so brutal überfallenen Menschen. Nur: Gut gemeint ist nicht immer auch gut gemacht …
Ich und die vielen Menschen, die innerhalb weniger Tage (!) dieses Manifest unterzeichnet haben – und noch unterzeichnen werden – meinen es ebenfalls gut mit den Ukrainern. Nur: Wir ziehen andere Schlüsse aus dem Geschehen. Wir fragen uns, ob es nicht gerade diese wunschgemäß gelieferten Waffen sind, die zu immer mehr Toten führen. Denn: Was ist eigentlich das Ziel dieses Krieges? Sind es die geopolitischen Interessen der beiden Großmächte? Das heißt: Will Amerika immer näher an Russland heranrücken – und Russland diese Annäherung der NATO verhindern und umgekehrt gen Westen rücken? Geht es um die Schwächung Europas, allen voran Deutschlands? Will Russland die Ukraine vereinnahmen? – oder der Westen Russland ausbluten? In einem „Abnutzungskrieg“, der nur den Menschen oben nutzt und die unten tötet?
Eines ist allen voran den Militärs aller Länder klar: Die kleine Ukraine kann selbst mit maximaler Unterstützung des Westens zwar einzelne Schlachten gegen Russland gewinnen, aber nicht den Krieg. Niemand kann die größte Atommacht der Welt in die Knie zwingen – ohne für sich selbst das Äußerste zu riskieren.
Wir müssen jetzt der Ukraine helfen,
das Sterben zu stoppen
Gerade sendet das Bulletin of the Atomic Scientists einen Alarmruf. Diese internationale Vereinigung von AtomwissenschaftlerInnen hat sich 1947 gegründet, nach dem Abwurf der ersten Atombombe durch die Amerikaner auf Hiroshima. Damals hieß es: Nie wieder die Atombombe! Da stand die Gefahr eines Atomkrieges bei sieben Minuten vor zwölf. In der Kubakrise 1962, am Rand eines Atomkrieges, stand die Atomuhr bei zwei Minuten vor zwölf. Jetzt informieren die AtomwissenschaftlerInnen: Die Gefahr eines Atomkrieges steht bei 90 Sekunden vor zwölf. 90 Sekunden!
Nie in der Geschichte der Menschheit war der Atomkrieg also so nah. Ausgelöst vom Schlachtfeld Ukraine. Ja, das Land hat sich von Anbeginn an in bewundernswerter Weise gegen den brutalen russischen Überfall gewehrt. Und das war richtig so. Doch jetzt herrscht hinter den Kulissen nur noch Grauen und Ratlosigkeit bei allen Beteiligten. Von „Grabenkämpfen“ ist die Rede. Das Wort habe ich zum letzten Mal in den 60er Jahren von meinem geliebten Großvater gehört. Der war im Ersten Weltkrieg als einfacher Soldat in dem Massaker an der Somme, ein berüchtigter „Abnutzungskrieg“. Was er – auf mein Insistieren hin – zu erzählen hatte, war trotz seines nicht kleinzukriegenden Humors einfach das Grauen. „Mann gegen Mann“. Man stelle sich das nur mal vor: Wie sich Menschen Auge in Auge erschießen, erstechen, erwürgen.
Ich sehe bei dem Wort Krieg nicht die neuesten Panzermodelle vor mir, sondern die Menschen. Darum habe ich nach dem von mir initiierten „Offenen Brief der 28“ an Kanzler Scholz – der gerade von 500.000. Menschen unterzeichnet wurde, eine halbe Million! – jetzt dieses Manifest initiiert: Um den vielen Menschen in unserem Land, die gegen diesen Krieg und für Verhandlungen sind, eine öffentliche Stimme zu geben. Eine Stimme für den Frieden.
Ich habe das Manifest nicht alleine geschrieben, sondern zusammen mit Sahra Wagenknecht, die ich zu meiner Freude für diese Aktion gewinnen konnte. Sahra steht seit Beginn des Krieges für eine unerschrockene, fundierte Haltung dagegen.
Erfahrene Militärs warnen - unerfahrene
Politikerinnen hören nicht auf sie
Sehr früh stieß auch General a. D. Erich Vad dazu. Am 25. Februar ist die Auftaktveranstaltung der landesweiten Aktion „Aufstand für Frieden“, in Berlin. Neben mir und Sahra Wagenknecht wird auch Erich Vad reden. Das EMMA-Interview mit dem einstigen „militärischen Berater“ von Kanzlerin Merkel hatte Anfang des Jahres innerhalb weniger Tage über 250.000 Klicks, nur auf EMMAonline. Der erfahrene Militär ist gegen noch mehr Waffen und für Verhandlungen – wie die meisten seiner Kollegen. Auch US-General Milley hatte bereits Ende November 2022 seine Zweifel öffentlich gemacht. Die Ukraine könne Russland nicht militärisch besiegen. Das ginge nur am Verhandlungstisch. Und es ist bekannt, dass das Pentagon jüngst entschieden von weiteren Waffenlieferungen abgeraten hat, die politische Führung in Washington aber trotzdem liefert. Wenn auch zögerlich.
Was für verrückte Zeiten. Erfahrene Militärs warnen vor Waffenlieferungen – und unerfahrene PolitikerInnen hören nicht auf sie. Allen voran in Deutschland die einstige „Friedenspartei“, Die Grünen. Und an deren Spitze eine Frau: die oberste Diplomatin des Landes, Außenministerin Baerbock. Zum Entsetzen nicht nur des Kanzlers erklärte die jüngst öffentlich: „Wir führen Krieg gegen Russland“.
Nein, Russland führt Krieg gegen die Ukraine. Und wir helfen dem Land, sich zu verteidigen. Und nichts hilft meiner Meinung nach jetzt der Ukraine mehr, das Sterben in ihrem Land zu stoppen, als einen Waffenstillstand anzubieten und in Friedensverhandlungen einzusteigen. Genau dabei sollten wir der Ukraine mit allen Kräften beistehen! Allen voran die DiplomatInnen.
Übrigens: Mit meinem geschätzten Kollegen, der nicht unterschrieben hat, bin ich weiter im Gespräch. Denn das scheint mir jetzt das Wichtigste: Sich nicht gegenseitig zu dämonisieren, sondern endlich miteinander zu reden!
Alice Schwarzer
Alle Infos zum "Aufstand für den Frieden" am 25.2. in Berlin auf der Website Aufstand für Frieden