Geständnis einer Ex-Prostituierten:

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In Ihrem Buch haben Sie die Legalisierung der Prostitution gefordert. Jetzt unterstützen Sie den Brüsseler Appell: „Gemeinsam für ein Europa ohne Prostitution!“ Warum?
Ich schäme mich heute für dieses Buch. Ich hatte eine Möglichkeit gesucht, der Politik klar zu machen, dass die Situation der Prostituierten unerträglich ist und dass es dafür eine Lösung geben muss. Wogegen ich mich gewandt habe, war die Bigotterie: Die Tatsache, dass die Prostituierte für den französischen Staat nur existiert, wenn sie Steuern zahlt. Wenn aber eine Frau aus der Prostitution aussteigen will und Hilfe sucht, darf sie nicht sagen, dass sie Prostituierte ist, weil man dann auf sie herabsieht und als Kriminelle behandelt. Die Lega­lisierung ist aber die falsche Lösung.

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Wie sind Sie in die Prostitution gekommen?
Bis ich 31 Jahre alt war, habe ich in der Elektronik-Branche gearbeitet. Im März 1988 wurde ich entlassen und hatte bald kein Geld mehr, um meinen sechs Kindern etwas zu essen zu kaufen. Da habe ich in der Zeitung eine Anzeige gesehen: „Bar sucht Hostess“. Da habe ich angerufen, mich vorgestellt und dann habe ich dort angefangen.

Einfach so?
Es erschien mir eine völlig natürliche Sache zu sein, was ich da tat. Ich wusste genau, wo ich hingehe und es schien mir völlig normal, dort zu bleiben. Ich werde nie den Satz einer Prostituierten vergessen, die mir gleich am ersten Tag sagte: „Dann hast du das schon dein ganzes Leben lang gemacht!“ Tatsächlich bin ich als Kind von einem Onkel missbraucht worden. Mein Vater war Alkoholiker und extrem gewalttätig. Ich war also von Kind an Gewalt durch Männer gewöhnt.

Aber es blieb für Sie nicht „natürlich“, sich zu prostituieren?
Irgendwann habe ich mir gesagt: Die Leichtigkeit, mit der ich mich prostituiere und diesen Job mache, ist nicht normal. Dann habe ich angefangen, mich mit meiner Kindheit zu beschäftigen. Diese Beschäftigung mit mir und meiner Geschichte hat zehn Jahre gedauert. Ich habe mich mit Familienmitgliedern getroffen und sie befragt. Es stellte sich heraus, dass dieser Onkel alle Mädchen um sich herum missbraucht hat. Und ich habe ­begriffen: Das war der Moment, in dem ich vom kleinen Mädchen zum Objekt wurde. Ich habe mir dann später Männer gesucht, die mich auch als Objekt behandelt haben.

Wann haben Sie aufgehört?
Vor zweieinhalb Jahren. Ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr in den Spiegel gucken wollte. Ich wollte meinen Körper nicht mehr sehen. Wenn ich zum Beispiel ein Kleidungsstück gekauft habe, habe ich es nicht anprobiert, sondern es einfach so mitgenommen. Eines Morgens habe ich dann doch in den Spiegel geschaut und mich gefragt: Bist du weiterhin bereit, diese Vergewaltigungen zu ertragen? Denn das ist es ja: eine Vergewaltigung, immer wieder. Ich lasse das mit mir machen, weil er mir Geld dafür gibt. An diesem Morgen habe ich entschieden: Ich höre auf!

Jetzt arbeiten Sie mit dem „Mouvement du Nid“ zusammen. Was genau tun Sie?
Ich stelle mich vor allem als Stimme zur Verfügung. Wir sehen in den Medien immer nur die „glücklichen Prostituierten“, aber keine einzige, die sagt, dass es die Hölle ist. Ich möchte, dass die Frauen in der Prostitution auch diese Stimme hören und sich darin wiedererkennen können. Mitte April war ich zum Beispiel in Paris auf einer Veranstaltung von Abolition 2012, einem Bündnis von 53 Organisationen, und habe, gemeinsam mit einer anderen Ex-Prostituierten, von meinen Erfahrungen erzählt.

Sie sind eine der wenigen, die es wagen, mit ihrem Namen und ihrem Gesicht in die Medien zu gehen und über ihre Erfahrungen in der Prostitution zu sprechen. Wie sind die Reaktionen?
Für meine Kinder war es sehr hart. Aber ich habe mir gesagt: Wenn ich dafür kämpfen will, Prostitution zu verhindern, dann kann ich das nicht anonym machen. Ich möchte, dass die Menschen mein ­Gesicht sehen. Also habe ich es meinen Kindern gesagt. Da waren sie schon erwachsen. Es war schlimm, aber ich fand es trotzdem wichtig, dass sie Bescheid ­wissen. Heute unterstützen sie meinen Kampf. Seit ich offen gemacht habe, dass ich Prostituierte war und dafür kämpfe, dass es irgendwann keine Prostitution mehr gibt, melden sich viele Frauen und sagen: „Bravo! Ich war auch Prostituierte!“ Oder sie sind es noch. Viele von ihnen sind traumatisiert. Und wenn wir dann länger reden, eröffnen mir praktisch alle, dass sie missbraucht worden sind. Es ist hart, sich diesem Schmerz zu stellen. Aber die Frauen kommen trotzdem zu mir. Sie sprechen mich auf der Straße an. Ich bin aber auch auf Facebook und ich habe eine Internet-Seite: „Les Survivantes“ (Die Überlebenden). Es melden sich übrigens auch Kinder von Prostituierten. Jugend­liche, die mir erzählen: „Ich weiß, dass sich meine Mutter prostituiert und das ist sehr schlimm für mich.“ Sie haben niemanden, dem sie sich anvertrauen können.

Was antworten Sie den Frauen vom „Syndicat du Travail Sexuel“, die in Frankreich für ihr „Recht“ demonstrieren, sich zu prostituieren?
Die Frauen, die mir erzählen, wie gern sie sich prostituieren, frage ich: Würdest du wollen, dass deine Tochter oder dein Sohn das macht? Und alle antworten mir: Nein! Ich hätte es in den 22 Jahren, in denen ich mich prostituiert habe, auch nicht gewollt, dass mir jemand meine Geldquelle zudreht. Und ich habe wirklich viel verdient. Ich sage den Frauen trotzdem, dass sie einen Moment innehalten und sich die Frage stellen sollen, warum sie in die Prostitution gegangen sind. Sie würden sich dann darüber klar werden, dass sie das tun, weil sie dieses Muster schon sehr früh gelernt haben. Sie müssen damit aufhören, sich zu sagen, dass es ein Ausdruck von Freiheit ist, sich zu prostituieren. Es ist ein Zwang. Ich ­bezeichne es inzwischen als Krankheit. Um gesund zu werden, braucht es Zeit und die Kraft, genau hinzuschauen und sich in Frage zu stellen. Das ist schwer. Aber es ist ganz einfach nicht normal, dass wir Männern erlauben, uns weiter zu missbrauchen und zu vergewaltigen.

Und was muss die Politik jetzt tun?
Sie muss das Freiertum bestrafen. Der Staat muss aufhören, den Männern zu signalisieren: Ihr habt das Recht, Frauen zu kaufen. Ein Körper ist nicht zu kaufen! Die Politik muss begreifen, dass Prostituierte Opfer sind und Unterstützung brauchen. Sie muss den gleichen Schritt machen wie bei der Häuslichen Gewalt. Da hat man früher auch gesagt: „Wenn die Frauen freiwillig bei ihren prügelnden Männern bleiben, dann ist das nicht unser Problem.“ Dann hat man verstanden, welche Zwänge dahinterstehen. Deshalb müssen Frauen, die aus der Prosti­tution aussteigen wollen, unbedingt Unterstützung bekommen. Sie brauchen Zeit und die Möglichkeit, sich zu stabilisieren. Sie brauchen Therapieangebote von geschulten TherapeutInnen, die sich mit den speziellen Problemen von Prostituierten auskennen. Und sie brauchen professionelle Hilfe beim Ausstieg und der Gründung einer neuen Existenz. Als ich zum Beispiel zu den Ämtern gegangen bin, wurde ich sehr erstaunt gefragt: Wieso haben Sie keine Ersparnisse? Die Frage geht völlig an der Realität vorbei. Die meisten Prostituierten sind ruiniert, wenn sie aussteigen. Weil man das Geld, das man in der Prostitution verdient, nicht behält.

Was muss jetzt nach dem Brüsseler Appell passieren?
Wir müssen der Politik begreiflich machen, dass sie die Vermarktung der Frauen verhindern muss. Dass sie verhindern muss, dass Männer Frauen kaufen. Denn du wirst in der Prostitution ein Objekt. Mein Körper war mein Werkzeug. Er gehörte nicht mehr mir, sondern all den Männern, die ihn gekauft haben.

Wovon leben Sie heute?
Ich habe eine kleine Frührente, von der ich einigermaßen leben kann. Ich habe mich entschieden, einfach zu leben. In der Prostitution waren Geld, Luxus und Schönheit wichtig. Heute kaufe ich mir nur noch ein Paar Schuhe und nehme dann eben die stabilsten. Der einzige Luxus, den ich mir gestatte, sind die Zigaretten. Aber ich glaube, ich bin jetzt die Frau, die ich immer sein wollte. Ich habe meinen Platz in der Welt gefunden.

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