Raus aus dem Rotlicht
An dem Tag als Misha beschloss endlich auszusteigen, war sie zusammengeschlagen worden. Es war nur eine von zahllosen Demütigungen, die der Tschechin in ihrem Leben zugefügt worden waren. Als Teenager hatte sie es zuhause nicht mehr ausgehlten, war weggelaufen, geriet an Freunde, die keine waren, und ihre Schutzlosigkeit ausnutzten. Mit 13 stand sie zum ersten Mal auf dem Straßenstrich. Mehr als 20 Jahre wurde sie von ihren Zuhältern in halb Europa verkauft. An Lkw-Fahrer, an Geschäftsreisende mit Lust auf schnellen, billigen Sex. Zuletzt stand sie im tschechischen Cheb, wo seit der Grenzöffnung 1989 nicht nur Europas längster Straßenstrich entstand, sondern auch ein Ort des Elends. Wenn Misha an dem Tag, an dem sie blutig geprügelt worden war, ihre Chance nicht ergriffen hätte, wäre sie irgendwann vermutlich ganz zugrunde gegangen. "Das Leid, das sich tagtäglich hier in Deutschland abspielt, ist unvorstellbar!" Misha, die hier nur mit ihrem Vornamen genannt werden soll, ist eine von rund tausend Frauen, die Cathrin Schauer-Kelpin, 62, mit ihrem Team seit mehr als 30 Jahren aus der Prostitution geholt hat. 2004 hat die Sozialpädagogin KARO e.V. gegründet. Der Verein ist aus verschiedenen Sozialprojekten hervorgegangen, die seit 1994 in der deutschtschechischen Grenzregion gegen Zwangsprostitution, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Kindern kämpfen. Ein Schwerpunkt ist die klassische Streetwork am Straßenstrich sowie die Unterstützung beim Ausstieg aus der Prostitution – und die Unterbringung in einem Schutzhaus. Wenn Cathrin Schauer-Kelpin an diesem warmen Herbsttag auf einem belebten Berliner Platz beim Kaffee von Misha und den anderen Frauen erzählt, von Zuhältern und Freiern, die kein Erbarmen kennen, hört man kein Kinderlachen mehr und spürt keinen Sonnenschein. „Das Leid, das sich hier abspielt, ist unvorstellbar“, sagt sie. Es bleibt nicht die einzige Aussage, mit der sie ihre Fassungslosigkeit über das zum Ausdruck bringt, was tagtäglich auch in Deutschland passiert. In dieser Woche wurde sie neben der Stuttgarter Sozialarbeiterin Sabine Constabel mit dem mit 10.000 Euro dotierten Heldinnen-Award der Alice-Schwarzer-Stiftung ausgezeichnet. Die 66-jährige Constabel steht wie Schauer-Kelpin seit Jahrzehnten Prostituierten als Streetworkerin zur Seite. Sie verteilt Kondome und Gleitgel in den Bordellen der Stuttgarter Altstadt, ist Ansprechpartnerin für die Frauen, hilft auch, wenn eine von einem Freier schwanger geworden ist. 1996 hat sie gemeinsam mit der Ordensschwester Margret das Prostituierten-Café „La Strada“ eröffnet. Ein Treffpunkt, in dem sich die Frauen auf vielfältige Weise aufwärmen können. In dem sie als Menschen wahrgenommen werden, nicht nur als Körper. Hier können sie wie andere junge Frauen miteinander reden, lachen. Es gibt warmes Essen und Schokolade – und Kuscheltiere. Weil die in der Regel aus Osteuropa kommenden Frauen nicht krankenversichert sind, gynäkologische Untersuchungen aber bitter nötig haben, befindet sich im oberen Stockwerk eine Praxis, in der sie kostenlos behandelt werden. Und wie Cathrin Schauer-Kelpin hat auch Sabine Constabel mit dem Verein „Sisters e.V.“, dessen Gründungsmitglied und Vorsitzende sie ist, Hunderten von Frauen beim Ausstieg geholfen. Selbstbestimmung? Die Frauen sind dem Verbrechen schutzlos ausgeliefert! Was die beiden Preisträgerinnen außerdem teilen, ist ihr Engagement für einen politischen Schritt, der ihrer Ansicht nach das System der Prostitution mit seinem menschenverachtenden Ausmaß wesentlich beschränken könnte: ein Sexkaufverbot nach skandinavischem Vorbild – das Nordische Modell. Die Journalistin und Feministin Alice Schwarzer setzt sich nicht zuletzt mit ihrem Magazin EMMA seit vielen Jahren für die Regelung ein, die den Kauf sexueller Dienstleistungen sowie deren organisierte Vermittlung unter Strafe stellt, Prostituierte aber entkriminalisiert und beim Ausstieg und Neuanfang unterstützt. In ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Heldinnen-Awards betonte sie die Dringlichkeit einer gesetzlichen Wende. Das 2002 unter Rot-Grün in Kraft getretene Prostitutionsgesetz, das Prostitution legalisierte und als Dienstleistung betrachtet, habe den „Handel mit Frauen“ faktisch legitimiert, sagte sie. Weil die Polizei kaum noch eingreifen könne, seien die Frauen schutzloser als zuvor. „Jeder vierte Mann in Deutschland ist ein Freier“, so Schwarzer. In Schweden, wo 1999 das Nordische Modell erstmals eingeführt wurde, sei es nur noch jeder Zehnte. Für Alice Schwarzer steht fest: „Solange man Frauen kaufen kann, wird es in Deutschland keine wahre Gleichberechtigung geben.“ Mit überraschend deutlichen Worten bekam sie an dem Abend Rückendeckung von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner. Die CDU-Politikerin sprach sich in ihrer Laudatio klar für das Nordische Modell aus: Prostitution sei kein Beruf wie jeder andere, betonte sie. Eine solche Vorstellung sei ein „Verächtlichmachen von Frauen“. Es gebe ja auch „keine Schülerpraktika in diesem Beruf“. Die aktuelle Regelung habe Deutschland „zum Puff Europas“ gemacht. Wenige Tage später bekam Klöckner Unterstützung von Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU), die sich gegenüber der „Rheinischen Post“ für die Einführung des Nordischen Modells aussprach. Ein Sexkaufverbot, sagen Kritiker, spreche Frauen – und Männern – in der Prostitution das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ab. Zudem treibe es das Gewerbe in die Verborgenheit der Illegalität und befördere so die Kriminalität. Befürworter des Nordischen Modells wie Cathrin Schauer-Kelpin halten dagegen, dass schon jetzt der Großteil der Menschen in der Prostitution dem Verbrechen schutzlos ausgeliefert sei. Auf der tschechischen – wie auf der deutschen Seite der Grenze. Der Verein betreibt von Chemnitz bis Coburg Streetwork-Arbeit. Die Mitarbeiterinnen sprechen die Frauen an, verteilen Gleitcreme, Kondome und kleine Geschenke. Und sie bieten auch immer Unterstützung beim Ausstieg. Zum Aufgabenfeld gehört der Besuch sogenannter Terminwohnungen. In diesen zur Prostitution genutzten, tristen Unterkünften sind die Frauen in der Regel nur für eine Woche untergebracht, bevor sie wieder woanders hingefahren werden. Das Team lässt Infomaterial da, mit Telefonnummer und der Zusicherung, jederzeit anrufen zu können, auch wenn sie in einer anderen Stadt sind. Wegen der hohen Fluktuation sei es schwer, Vertrauen zu ihnen aufzubauen, sagt Schauer-Kelpin. Das Prostituiertenschutzgesetz nütze diesen Frauen aus Osteuropa nicht. Sie würden das Gesetz in der Regel gar nicht kennen. „Viele dieser Frauen in den Terminwohnungen“, so Schauer-Kelpin, „haben nur ein Telefon, mit dem sie lediglich angerufen werden können, aber nicht selbst anrufen können.“ Ihr Wille, dem Milieu zu entkommen, war enorm: Misha hat es geschafft. Misha fristete ihr Dasein jenseits aller Gesetze. Cathrin Schauer-Kelpin kannte sie schon lange. Sie sprach gut Deutsch. Sie war völlig verwahrlost, hatte keine Zähne mehr, lebte auf einem verlassenen Kasernengelände, wo man sich kaum waschen konnte. Ihr Freund, der auch ihr Zuhälter war, schlug sie. Er war abhängig von Crystal Meth, so wie sie selbst. „Das ist kein Ort für dich!“, sagte Schauer-Kelpin ihr immer wieder. „Lass mal“, antwortete Misha. Sie traute sich den Ausstieg nicht zu. Auch dann nicht, als die Sozialarbeiterin ihr von dem Schutzhaus für Opfer von Gewalt erzählte, das der Verein 2009 in Plauen eröffnen konnte. „Das wird nichts mit mir“, sagte sie. „Ich bin so auf Droge, das schaffe ich nicht.“ Bis zu dem Tag, an dem sie wieder einmal brutal zusammengeschlagen wurde. „Zuerst wollte sie Geld“, erinnert sich Cathrin Schauer-Kelpin. „Ich sagte ihr: ,Du weißt, es gibt keines. Ich kann dir einen Kaffee kaufen‘. Plötzlich fragte Misha: ,Kannst du mich mitnehmen?‘“ Misha hat es geschafft. „Ihr Wille, aus der Sucht und dem ganzen Milieu zu kommen, lässt sich gar nicht in Worte fassen“, sagt Schauer-Kelpin. Zweieinhalb Jahre blieb sie im Schutzhaus. Sobald sie einigermaßen fit war, genesen auch von den vielen Krankheiten, begann sie ein neues Leben, machte eine Ausbildung und arbeitete in dem Beruf. Nicht bei allen war der Ausstieg erfolgreich. Manche Frauen sind auch wieder in die Prostitution zurückgekehrt – „wenn auch nicht immer freiwillig.“ Aber es gibt auch die vielen Erfolgsgeschichten von Frauen wie Misha, die während ihrer Zeit im Schutzhaus eine Ausbildung gemacht haben, in einen Beruf eingestiegen sind und in die Lage kamen, ein eigenständiges Leben zu führen. Viele sind eine neue Partnerschaft eingegangen, haben eine Familie gegründet. Die Herausforderung bleibt. Sie wächst. Der Verein sucht dringend nach Mitarbeiterinnen. Besonders erschreckend sei das hohe Maß an sexueller Ausbeutung von Kindern. „In Tschechien hatten wir Ende der 90er-Jahre auf Parkplätzen kleine Kinder erlebt, die gebettelt haben und plötzlich auf Deutsch fragten: ,Willst du ficken?‘ Kleine Kinder, die gerade in die Autoscheibe gucken konnten.“ Kinderprostitution gebe es aber nicht nur auf der tschechischen Seite. Sie habe vor einigen Jahren selbst erlebt, wie Kinder in Plauen nachmittags auf dem Supermarktparkplatz angeboten wurden. Als sie der Polizei am Telefon sagte, dass sie beobachtet habe, wie ein Kind in ein Auto stieg, sollte sie erst mal zur Wache kommen und offiziell Anzeige erstatten. Kinder wurden nachmittags auf dem Supermarktparkplatz angeboten „Zum Tatort kam kein Polizist“, sagt sie. „Da frage ich mich: Wo sind die schützenden Hände?“ Für Cathrin Schauer-Kelpin sei unbegreiflich, warum die Gewalt gegen Frauen und Kinder immer weiter zunehmen könne. Der BKA-Bericht zu Sexualdelikten gegen Kinder und Jugendliche verzeichnet seit Jahren einen enormen Anstieg. „Es ist einfach nur unerträglich.“ Cathrin Schauer-Kelpin erlebt täglich Abgründe, die nichts mit sexueller Selbstbestimmung zu tun haben. Sie spricht mit Frauen, die sich schämen für das, was sie für Männer machen mussten, weil diese dafür bezahlt haben. Sie erzählt von Frauen, die unerträgliche Schmerzen haben, die schon in jungen Jahren wegen der permanenten vaginalen und analen Penetration inkontinent sind. Und dann erzählt sie noch mal von Misha und ihrem ungeheuren Lebensmut. Sie ist heute Ehrenmitglied des Vereins. Als Misha sie vor ein paar Jahren zu einer Preisverleihung begleitet hat, ergriff sie ungeplant das Mikro. Sie wollte allen mitteilen, dass sie eine ist, die es geschafft hat. „Ich kann gar nicht ausdrücken“, sagt Cathrin Schauer-Kelpin, „wie sehr mich das berührt hat.“ CLAUDIA BECKER Der Text erschien zuerst in der WELT Wer die Arbeit unterstützen möchte:
Karo e.V., Sozialbank, IBAN DE73370205000001415503 BIC BFSWDE33XXX
Sisters e.V., BW Bank, IBAN DE93600501010004071509 BIC SOLADEST600

