In der aktuellen EMMA

Prostitution: Alles gleich nebenan

Eine "Terminwohnung" in Plauen. Die Frauen ziehen wie Wanderarbeiterinnen von Stadt zu Stadt: © Bettina Flitner
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Wir stehen vor der Haustür und schauen unschlüssig auf die Klingelschilder. Sollen wir bei „Sommer“ oder „Winter“, klingeln, bei „Adam“ oder „Ewa“, bei „Sonne“, „Stern“ oder „Rose“? Die zugehörigen Briefkästen sind verbeult oder aufgebrochen. Auch die Tür und die Eingangsstufen von dem Altbau sehen ziemlich heruntergekommen aus. Ich schaue nach oben, und lächle. Lächle in die kalt glänzende Videokamera. Sie hängt immer oben links. Dann drücken wir bei „Sommer“.

Wenige Augenblicke später brummt der Türöffner und wir betreten den dunklen Hausflur. Seit ein paar Monaten bin ich in ganz Deutschland unterwegs, um Orte der Prostitution zu fotografieren. Ich versuche, in Bordelle, sogenannte Terminwohnungen und Wohnwagen hineinzukommen. Hier in Hof begleitet mich die Sozial­arbeiterin Cathrin Schauer.

Wir betreten den Flur eines Hauses mit Terminwohnungen, gelegen in einer ruhigen Wohnstraße mit Altbauten. Um diese Wohnungen zu finden, muss man sich auf einschlägigen Portalen tummeln oder sich gut auskennen. Die Wohnungen, in denen angeschafft wird, sind nicht in einer Straße oder einer bestimmten Gegend. Sie sind überall, sagt die Sozialarbeiterin, im ganzen Stadtgebiet. Prostitution ist in Deutschland erlaubt.

Meist werden diese Ein- oder Zwei-Zimmerapartments für eine Woche gemietet, von den Frauen oder ihren Zuhältern bzw. Zuhälterinnen. Sie sind wenige, aber es gibt sie. Die Frauen, die sich prostituieren, bleiben in der Regel nur eine Woche, damit immer „Frischfleisch“ da ist. GANZ NEU steht dann unter den Fotos plus Personen­beschreibungen, mit denen die Frauen sich samt Handynummer und Adresse im Internet anbieten.

Nachdem sich unsere Augen an das Dämmerlicht des Korridors gewöhnt haben, sehen wir zwei Frauen am Ende des Ganges an einer geöffneten Türe stehen. Die beiden sind jung, Anfang 20, aus Rumänien. Die eine spricht Deutsch. Die Sozialarbeiterin holt Informationsmaterial aus der Tasche, Gleitcreme, Kondome. Wie lange sie da sind, will sie wissen. Drei Tage, sagen sie. Wie lange sie noch bleiben? Sie wissen es nicht. Ja, ich darf das Zimmer fotografieren, aber lieber bei „Winter“, gegenüber von „Sommer“. Die Winter-Wohnung haben sie auch gemietet. Wieviel sie bezahlen, frage ich, während ich das Stativ aufstelle. Sie wissen es nicht.

In einem anderen Haus in einer anderen Straße in Hof gehen wir durch einen anderen dunklen Hausflur, auch hier Videokameras an der Decke. Es sind nicht die Frauen, die Zugang zu diesen Kameras haben, es sind die Betreiber der Wohnungen. Wir klingeln bei „Weiss“ und es öffnet uns Natalia. Sie ist 58 Jahre alt und eigentlich Krankenschwester aus Tschechien. „Aber hier verdiene ich mehr Geld“, sagt sie. Im Moment allerdings läuft es nicht so gut. Auch wenn Natalia von 10 Uhr morgens bis Mitternacht zur Verfügung steht. 600 Euro zahlt sie für die Zwei-Zimmer Wohnung pro Woche. Dazu noch 50 Euro für das Portal, auf dem sie wirbt. Das muss sie irgendwie reinbekommen. Und gerade hat sie noch Schulden von der letzten Wohnung in Passau, da lief es auch nicht so gut.

Natalia fährt mit dem Bus von Ort zu Ort. Jede Woche packt sie ihre Sachen und zieht um in eine andere Stadt, wo sie nur die Adresse der Wohnung kennt. Dort packt sie aus, schaltet ihr Handy ein und macht Termine. In dieser Woche hat Natalia Sex mit rund zwei Dutzend fremder Männer. Sie können verlangen, dass sie sich auf den Rücken legt oder auf den Bauch, dass sie steht oder kniet, dass sie küsst oder schlägt, dass sie sich würgen oder anpinkeln lässt. Manche der Männer halten das Handy zwischen ihre Beine und machen Fotos von ihrer Vagina, zum Mitnehmen. Sie nennen Natalia „Hure“ oder „Nutte“ oder „Votze“. Am Ende lassen sie 50 Euro da. Danach muss Natalia sich manchmal übergeben. Nach einer Woche packt sie ihre Sachen wieder ein und zieht weiter, von Hof nach Zwickau, von Zwickau nach Kassel, von Kassel nach Hildesheim und immer weiter. Natalia, eine Wanderarbeiterin in Deutschland.

In diesen Wohnungen treffen wir Frauen aus Rumänien, Lettland, Thailand, Vietnam, Kolumbien, der Ukraine, China. Manchmal auch aus Deutschland. Die meisten lassen uns rein. Nur die beiden deutschen Frauen öffnen die Tür nur einen Spalt breit und sagen wie Roboter einen nahezu baugleichen Text: „Ich bin Deutsche. Ich mache das freiwillig. Mir geht es gut.“ Die eine fügt noch hinzu: „Ich bin gegen das Sexkaufverbot, ich möchte keinen 40-Stunden-Job, bei dem ich nichts verdiene“. Dann schließt sie die Tür wieder.

Es öffnet uns eine Frau aus Lettland. Anfang 60, im rosa Bademantel. „Ich habe gleich einen Termin“, sagt sie, aber sie lässt uns trotzdem rein. Sie ist die Einzige in diesen Tagen, die auf eigene Rechnung zu arbeiten scheint. Sie plant ihre Tour immer für ein Jahr, mietet die Wohnungen in ganz Deutschland viele Monate vorher und fährt überall mit dem eigenen Auto hin. Sie hat ihren Wohnsitz in Deutschland, einen „Huren-Pass“ und bezahlt die Steuern.

In Köln bin ich im „Pascha“, nach eigener Aussage das „größte Laufhaus Europas“. Das elfstöckige Hochhaus mit dem neuen Außenanstrich in Schweinchenrosa liegt in Autobahnnähe im Kölner Norden. Gebaut wurde es 1972 auf Anregung der Stadt Köln, die den Straßenstrich loswerden wollte. Damals hieß es noch „Eros-Center“. Jetzt also „Pascha“. Bordell, Nightclub, und neuerdings auch Hotel, alles unter einem Dach. Die insgesamt 120 „Verrichtungszimmer“ werden für 160 Euro vermietet, pro Tag. Macht 4.800 Euro im Monat für 13 Quadratmeter. Macht zirka eine halbe Million Euro pro Monat für den Vermieter.

André Wienstroth, der Betreiber, führt mich durch einen langen, in gelb-schummriges Licht getauchten Gang. Die Luft ist schwer und stickig, eine unentwirrbare Mischung aus Hautausdünstungen, altem Teppich, Raumspray. Kein Wunder, die Fenster lassen sich nicht öffnen, nur kippen, und sind nicht nur alle zu, sondern auch mit einer Spiegelfolie abgeklebt.

„Hier sind die Verrichtungszimmer“, sagt André Wienstroth und zeigt auf die Türen rechts und links des Korridors. Nur zwei Frauen sitzen an diesem Mittag auf schwarzen Barhockern vor ihren geöffneten Zimmern, alle anderen Zimmer sind zu. Vorgestern war Weiberfastnacht in Köln. „Da war bei uns wieder Land unter“, sagt André Wienstroth. „Da kommen am späteren Abend alle, die keine Frau abgekriegt haben“. Ich will wissen, ob die Frauen, die in den „Verrichtungszimmern“ arbeiten, auch in diesen Zimmern wohnen. „Nein“, sagt er entrüstet, „die haben im zweiten Stock ihre Schlafzimmer“. Später fotografiere ich eines der „Verrichtungszimmer“. In der abgeklebten Scheibe spiegelt sich der Schrank, auf dem ein großer Reisekoffer liegt.

In Berlin auf der Bülowstraße. Hier hat die Stadt auf Initiative des Grünen Bezirksbürgermeisters „Verrichtungsboxen“ aufgestellt. Vier solcher Boxen stehen am Berliner Straßenstrich, in unmittel­barere Umgebung von Wohnhäusern, Schulen und Kindergärten. Sie sind erweiterte Toiletten und mit dem Schild „Eco Toiletten, ökologisch, geruchlos, gut“ gekennzeichnet. Klo und „Verrichtungsbox“ in einem, voller Urin und Kondomen.

In Köln am Containerumschlagplatz. Hier wird die Fracht von Lastwagen auf Züge umgeladen. Die riesengroßen Kräne mit den Greifarmen gleiten an den Schienen der Anlagen hin und her und heben rasselnd die Container um. Nebenan auf der Straße stehen kleine ärmliche Wohnwagen, mit Straßenstaub überdeckt und halbplatten Reifen. Mit wenigen Metern Abstand, einer nach dem anderen. 

Ich klopfe an eine der Türen, die Frau lässt mich rein. Hier ist es eng, kaum Platz. Nur ein Bett und am anderen Ende ein kleiner Esstisch. Wir wechseln nur ein paar Worte, sie ist Rumänin. Dann soll ich lieber gehen. In ihrem Wohnwagen darf ich nicht fotografieren. „Dann kriege ich Ärger mit Chef“, sagt sie.

In Essen bin ich auf dem alten Kirmesplatz. Die Stadt hat den ehemaligen Jahrmarktplatz für die Prostitution eingerichtet, mit Sichtschutzwänden und Verrichtungsboxen für Autos und Fußgänger, mit roten Alarmknöpfen und sogar ein „Beratungscontainer“ steht da. Auch hier stehen alte Wohnwagen, mit Buchsbäumchen vor den Türen und roten, angeketteten Plastikstühlen. Ich treffe den Betreiber der Wohnwagenvermietung, er hat die roten Plastikeimer über den Wagen aufgehängt, damit es „ein bisschen nett“ aussieht.

Er erlaubt mir, die Wagen zu fotografieren. Der Platz sieht aus wie ein … tja, ein Verkehrsübungsplatz, mit Pollern und einer Einbahnstraße. Da cruisen die Autos im Schritttempo an den Frauen vorbei, zwei grinsende junge Männer mit Sonnenbrillen im Kleinwagen, ein älterer Herr in senffarbenen Sakko im SUV mit heruntergezogenen Mundwinkeln, ein mittelalter Mann im Familienauto mit Kindersitz hinten. Die Frauen sitzen in ihren kurzen Röcken bzw. in glänzenden engen Stretchhosen auf den Betonpollern oder in den beiden gläsernen Boxen, die aussehen wie Bushaltestellen. 

Die Stadt Essen hat den Platz so eingerichtet, dass die Frauen sich auch bei Regen und Kälte anbieten können. Sie schauen kurz von ihren Handys auf, wackeln etwas mit den Brüsten und blicken dann wieder ins Smartphone. Die meisten der Autos, die hier im Schritttempo am Angebot vorbeifahren, wollen eh nur gucken.

Ein BMW aus Herne fährt dann doch in eine der zehn „Verrichtungsboxen“. Die Frau, mit der er gerade noch verhandelt hat, erhebt sich langsam von ihrem Poller und geht hinter die grüne Sichtschutzwand aus Plastik. Man hört eine Autotür schlagen, man hört ein paar mechanische Schreie. Und nach 10 Minuten ist sie wieder draußen auf dem alten Kirmesplatz, und nimmt auf dem ­Poller Platz, der BMW verlässt das Gelände.

Manche der Frauen haben einen der alten ausrangierten Wohnwagen gemietet, so wie Maria (Name geändert). Maria ist aus Bulgarien, wohnt in Essen und hat immer den gleichen Wagen, immer die Tagesschicht. Mietkosten pro 24 Stunden: 105 Euro, die Tagesschicht von 6 bis 18 Uhr kostet 45 Euro, die Abendschicht von 18 bis 6 Uhr 60 Euro. Maria sitzt draußen in der Sonne, während ich ihren Wagen fotografiere. Eine Kollegin kommt zu ihr in das Bushäuschen, und da hocken sie auf der Bank in ihren engen Stretchhosen und plaudern.

Wenigstens haben die Frauen hier untereinander Kontakt, denke ich, anders als die Nomadinnen in der Wohnungsprostitution oder die Vereinzelten in den Wohnwagen an der Ausfallstraße. Und auch die beiden Polizeiwagen, die vorhin durchgefahren sind, sorgen irgendwie für ein sicheres Gefühl. Hier kann ihnen so schnell nichts passieren. Fast gemütlich, denke ich, gegen die anderen Orte.

Wie schon so oft, wenn ich eine Frage zur Prostitution und zu der Lage der Frauen habe, rufe ich Sabine Constabel an. Die Sozialarbeiterin arbeitet seit über 30 Jahren mit den Frauen von der Straße, im Café La Strada im Stuttgarter Rotlichtviertel, sie hat auch den Verein „Sisters – für den Ausstieg aus der Prostitution“ gegründet. „Weißt du“, sagt Sabine mit ihrer ruhigen, dunklen Stimme: „Der Ort, an dem es stattfindet, ist vollkommen irrelevant. Es ist egal, ob du im Gebüsch bist oder in einem Raum mit Seidentapeten. Wenn du kein Mensch mehr bist, sondern eine Sache, ist es egal, ob der Teppich Flecken hat oder der Wasserhahn tropft oder die Sonne auf die Verrichtungsbox scheint. Die sexuelle Gewalt trifft dich im Kern. Sie prallt nicht an der Haut ab, sie geht in dich hinein. Dann bist du ein Ding, dann bist du ­ausgeliefert. Das ist es, wo du dein Menschsein verlierst.“  

Bettina Flitner: Prostitution – Freier, Frauen, Orte (Kehrer Verlag, 40 €)

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