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Ask Alice: Rat für transsexuelles Mädchen?

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Hallo Alice!
Ich bin 28 Jahre alt und Erzieherin in einem Kinderheim. Vor ein paar Jahren hat sich eines der dort wohnenden Mädchen als homosexuell geoutet. Ich habe sie auf ihrem Weg begleitet und unterstützt, habe dabei aber immer vermutet, dass noch mehr dahinter steckt, da sie ausschließlich männliche Kleidung trägt und sich einen Sommer lang sogar als Junge ausgab. Gestern Abend suchte sie nun erneut das Gespräch mit mir. Mittlerweile ist sie 16 Jahre alt. Sie offenbarte mir, dass sie darüber nachgedacht habe, Hormone zu nehmen, da sie sich in ihrem Körper falsch fühlt. Wir sprachen lange miteinander und ich konnte ihr ihre anfängliche Angst nehmen. Wie weiter?
Bengta, 28

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Liebe Bengta,

in den vergangenen 20 Jahren ist in diesem Bereich sehr viel passiert. Menschen, die sich „in der falschen Haut“ fühlen und das Geschlecht wechseln wollen, können das heutzutage tun. Bis 2011 war dazu allerdings noch die Änderung des biologischen Geschlechts Voraussetzung. Das heißt, biologische Männer bzw. Frauen mussten sich zum anderen Geschlecht umoperieren lassen. Das ist zum Glück heute nicht mehr nötig.

Das Verfassungsgericht sprach am 11. Januar 2011 ein bahnbrechendes Urteil: Es genüg, wenn die Person „seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben“. Laut VerfassungsrichterInnen reicht es also, dass der Mensch nicht physisch, sondern lediglich psychisch die Geschlechterrolle wechselt.

Ich finde das entscheidend: Die Wahl zu haben, dass ich als geborenes Mädchen auch wie ein Junge leben kann – und wenn ich das unbedingt will sogar bis hin zur Änderung meines Personenstandes – ohne meinen Körper abzulehnen oder gar zu verstümmeln. Es ist ja auch kein körperlicher Konflikt, sondern ein seelischer. Nicht der Körper ist „falsch“, sondern die Rolle, die bis heute in unserer Gesellschaft Frauen bzw. Männern zugewiesen wird.

Ideal wäre, wenn das fragliche Mädchen sich den Ausbruch aus der Rolle auch ohne Änderung des Personenstandes zugestehen würde. Sie soll sich zum Beispiel mal Fotos von manchen Schauspielerinnen oder Schriftstellerinnen in den 1920er Jahren ansehen: Die haben sich einfach die Freiheit genommen, wie die Jungs aufzutreten, als Garçonne.

Sollte jedoch der Leidensdruck bei diesem Mädchen so groß sein, dass sie unbedingt auch auf dem Papier ihr Geschlecht wechseln will, dann könnte sie es tun. Ich würde allerdings erst nach reiflicher Überlegung handeln, mir dafür Zeit lassen und erst einfach als „Junge“ leben. Das muss sie dann natürlich auch in ihrer Umwelt durchsetzen. Das wird Konflikte bergen. Dabei könnten Sie ihr vielleicht helfen.

Auf jeden Fall rate ich ganz dringend von der Einnahme von Hormonen oder gar operativen Eingriffen ab! Sie soll sich nicht vom Schubladendenken einengen lassen, sondern sich einfach die Freiheit nehmen, zu leben, wie sie möchte.

Mit herzlichen Grüßen, auch an die Garçonne!

Alice Schwarzer

PS: Juristische Informationen zur Transsexualität bekommt man bei der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V.

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Transsexualität: Das dritte Geschlecht

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100 bis 150 Transsexuelle lassen sich allein in Deutschland jährlich operieren. Ebenso viele aber behalten ihren Körper und wechseln nur die soziale Identität. Die Fälle von Frauen, die Männer werden, steigen. Vor 20 Jahren lautete die Schätzung noch: eine Frau-zu-Mann auf vier, fünf Männer-zu-Frauen. Heute lautet die Schätzung: eine auf ein bis zwei. In Deutschland leben zur Zeit etwa drei- bis sechstausend Transsexuelle, vermutet Prof. Pfäfflin, der in den letzten 14 Jahren selbst über 600 therapiert hat.

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Aber was wird da eigentlich therapiert und operiert? Was ist ein Mann? Und was eine Frau? Den meisten Menschen ist eine, zumindest phasenweise, Geschlechtsirritation nicht fremd kein Wunder in einer Gesellschaft, in der Menschen nicht einfach Menschen sein dürfen, sondern Frau oder Mann sein müssen. Und aufschlussreich, dass die Sehnsucht von Frauen, ein Mann zu sein, auch von Experten keineswegs zwangsläufig als krankhaft angesehen wird.

Es gilt im Patriarchat als "normal", aus der weiblichen Enge zu den männlichen Freiheiten zu streben. Was einer der Gründe dafür sein wird, warum die (aufsteigenden) Frau-zu-Mann-Transsexuellen den Schritt im Schnitt etliche Jahre früher tun als die (absteigenden) Mann-zu-Frau-Transsexuellen. Dennoch waren bis vor kurzem vor allem Männer, die Frauen werden, im öffentlichen Bewusstsein.

Es ist neu, dass auch von Mann gewordenen Frauen die Rede ist. Und ganz neu ist, dass Feministinnen, die Männer wurden, sich zu Wort melden. Denn bisher hatten die Frau-zu-Mann-Transsexuellen es schwerer, auch bei den Experten: "Die wollen den Frauen einfach keinen Penis geben", konstatiert Marjorie Garber in ihrem Buch über den Cross dressing, den Rollentausch, trocken.

Doch warum genügt nicht der Cross dressing, warum muss ein Body cross sein? Und gäbe es überhaupt Transsexuelle, wenn die Geschlechterrollen nicht so enge Käfige wären und die moderne Medizin den Körperwechsel überhaupt erst denkbar und möglich machen würde? Aus vergangenen Jahrhunderten sind uns viele Fälle überliefert von Männern, die als Frauen gelebt haben; ebenso von Frauen, die als Männer gelebt haben.

Die Gründe sind vielfältig. Frauen sind in Männerkleider geschlüpft, um den Gefahren des Frauseins zu entgehen; um Männerberufe auszuüben oder auf Abenteuerreisen zu gehen; oder einfach, um Frauen lieben oder sogar heiraten zu können wie Bill Tipton vom Tipton-Trio, dessen wahres Geschlecht zur Fassungslosigkeit von Ehefrau und seinen drei (Adoptiv)Söhnen erst bei seinem Tod 1988 entdeckt wurde. Und der, wie viele andere, den genitalen Kontakt mit seiner Frau unter dem Vorwand einer Krankheit mied. Frauen schlüpfen aber auch in Männerkleider, weil sie sich einfach als Mann fühlen. Ist das der Beginn der Transsexualität?

Prof. Goren, der in Holland einen Lehrstuhl für Transsexualität hat, ortet die ersten Anzeichen schon viel früher. Er sagt zum "Spiegel": "Wenn ein Mädchen seine Puppen verschenkt, mit Autos und technischen Baukästen spielt und Jungenbücher liest, sollten die Eltern beim Psychologen vorsprechen." Ein solches Zitat macht schlagartig die Gefahren der Rehabilitierung des Transsexualismus klar. Die richtige Seele im richtigen Körper. Und wenn was nicht passt, dann wird nicht der Seele Raum gegeben, sondern der Körper wird zurechtgestutzt. Ruckediguh, ruckediguh, Blut ist im Schuh ...

Das "transsexuelle Imperium" nennt Janice Raymond die Psychologen und Ärzte, die den Schritt von einem Geschlecht ins andere begleiten und möglich machen. Ein Imperium, das auch dafür sorgt, dass Frauen Frauen bleiben und Männer Männer, notfalls mit dem Messer. "Wenn ein Mädchen seine Puppe verschenkt ..." Da müssten aber viele Mädchen unters Messer! Den meisten würde der Griff zum Jungenspielzeug vermutlich schon vorher austherapiert. Und den puppenspielenden Jungen nicht minder...

Vor einigen Jahrzehnten stand die Geschlechtsidentitätsforschung noch an der Spitze des Fortschritts, denn sie war bereit, die Abweichung der seelischen Geschlechtsidentität (gender) von der biologischen Identität (sex) zu erkennen. Heute läuft dieselbe Wissenschaft Gefahr, sich vor den Karren des Rückschritts spannen zu lassen: nämlich ihre Kenntnisse zur Geschlechterdressur statt zur Geschlechterbefreiung einzusetzen. Kritik tut not. In der Praxis aber muss es erlaubt bleiben, zu leben, wie's gefällt.

Dabei ist die Palette der Abweichungen breit. Manchen genügt die Freiheit zur "Unweiblichkeit" oder "Unmännlichkeit". Andere genießen die Ausflüge ins andere Geschlecht, den dress cross statt body cross. Wobei die männlichen Transvestiten von denen die meisten heterosexuell sind! ihren Schlupf in die Frauenkleider meist erotisch zu besetzen scheinen, die weiblichen Transvestiten ihren Ausflug in den Männerhabit eher sozial genießen. Wen wundert's.

Transsexuelle aber gehen weiter. Sie wollen im anderen Geschlecht nicht zu Gast sein, sie wollen das Andere sein. Das ist eine Tatsache auch wenn es wünschenswert bleibt, dass ein Mensch seinen Körper nicht verändern muss, damit er zur Seele passt. Das EMMA-Dossier über Transsexualismus beginnt mit einem Gespräch mit einer Frau (die Mann war) und einem Mann (der Frau war). Und es endet mit einem Porträt von einem Menschen, der nicht wissen will, was er ist.

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