„Die ‚Freiwilligkeit‘ ist eine Chimäre!“

Elke Mack und Ulrich Rommelfanger: "Deutschland muss das Nordische Modell einführen!" - Foto: Stefan Baumgarth
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Jüngst kam in der EMMA-Redaktion die E-Mail der Rechtsanwältin Kathrin Tabbert aus Berlin an. „In einem Berliner Krankenhaus traf ich im Frühjahr 2023 eine junge Frau. Ihr Name war Sofia. Sie lag im Sterben“, schrieb Tabbert. „Sofia erzählte mir, sie sei in Polen geboren, in einem kleinen Dorf. Sie liebte Tiere und sie hatte selber ein Pony. Später wollte sie unbedingt etwas mit Tieren machen, vielleicht Tierärztin werden.

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Mit zwölf sei ihr Vater gestorben und mit sechzehn wurde sie von ihrem Stiefvater vergewaltigt, ‚zugeritten‘, wie er es nannte. Dann folgten Freunde ihres Stiefvaters und schließlich hat er sie mit nach Deutschland genommen. Ihre Mutter sei zu diesem Zeitpunkt sehr krank gewesen.“ In Deutschland musste sich die junge Frau prostituieren. In einem oder mehreren der Bordelle, die in Deutschland legal sind.

Mit sechzehn wurde sie von ihrem Stiefvater ‚zugeritten‘, wie er es nannte.

Als Anwältin Tabbert Sofia in dem Berliner Krankenhaus kennenlernte, war sie heroinabhängig, hatte Hepatitis und HIV. Sie starb mit 32 Jahren. „Das Schicksal der jungen Mutter mit ihrem Kind berührte mich zutiefst, und ich suchte nach europäischen Studien zur Frage der Lebenserwartung von jungen Frauen in der europäischen Prostitution. All diese Studien, die ich finden konnte, und ich musste tatsächlich nicht lange suchen, kamen zum selben erschütternden Ergebnis. Junge Frauen, die sich freiwillig oder zwangsweise prostituieren müssen, werden im Schnitt nur 39 Jahre alt und ihre Kinder werden ohne Mutter aufwachsen“, schreibt Tabbert. „Ich kenne keinen anderen europäischen Beruf, der dermaßen tödlich ist. Ich kenne keinen anderen Beruf, der mit solch schweren Erkrankungen, Drogen- und Alkoholabhängigkeiten einhergeht und in dem der größte Teil des Lohnes in die Taschen von Zuhältern wandert. Ein Beruf, dessen Erlöse für den Drogen-, Waffen- und Frauenhandel und für den persönlichen Luxus von Zuhältern eingesetzt wird.“

Die Juristin Tabbert befand, dass ein Staat, der diese Verhältnisse bei Hunderttausenden Frauen, die in Deutschland der Prostitution nachgehen (müssen), duldet, sich schuldig macht und zur Verantwortung gezogen werden müsse. „Ich rufe alle Juristinnen und Juristen dazu auf, Ideen zu einer Klage zu formulieren. Das Prostitutionsschutzgesetz aus dem Jahr 2001 ist gescheitert und hat seinen Zweck verfehlt. Vielmehr wandelte es sich in Deutschland in eine Art Lizenz zum Ausbeuten von Frauen und Mädchen.“

Was Kathrin Tabbert da noch nicht wusste: Genau das hat eine Gruppe aus Juristen und EthikerInnen gerade getan und das Buch „Sexkauf – eine rechtliche und rechtsethische Untersuchung der Prostitution“ veröffentlicht. In dieser Studie haben Elke Mack, Volkswirtin und Professorin für Christliche Sozialwissenschaft und Sozialethik an der Universität Erfurt, und Prof. Ulrich Rommelfanger, Absolvent der Eliteuniversität ENA in Straßburg und ehemaliger Verfassungsrichter in Thüringen, die deutsche Gesetzgebung zur Prostitution unter die Lupe genommen. Darin kommen sie zu einem klaren Ergebnis: „Die geltende Prostitutionsgesetzgebung ist nicht verfassungskonform.“

Junge Frauen in der (freiwilligen) Prostitution werden im Schnitt nur 39 Jahre alt

Anders formuliert: Diese Untersuchung ist eine schallende Ohrfeige für die deutsche Prostitutionspolitik, die von einer atemberaubenden Ignoranz gegenüber den realen Verhältnissen im Rotlichtmilieu geprägt ist. Weder hätten die jeweiligen Regierungen jemals empirisch überprüft, ob von der vielzitierten „Freiwilligkeit“ überhaupt die Rede sein könne, noch habe der Gesetzgeber jemals hinterfragt, „ob Prostitution eine Würdeverletzung nach sich zieht“. Was sie zwangsläufig tue, denn: „Die Menschenwürde wird verletzt, wenn (durch insbesondere staatliches Handeln) Menschen ‚verobjektiviert‘ werden, also im Sinne einer Instrumentalisierung bzw. Herabwürdigung zu Objekten werden.“

Und die Freiwilligkeit? Dabei, so die VerfasserInnen, handle es sich um eine „Chimäre“, denn: „Im weit überwiegenden Teil der Prostitution, namentlich der Straßen-, der Zwangs-, Elends- und Armutsprosttution, kann von Freiwilligkeit der prostitutiven Tätigkeit regelmäßig nicht ausgegangen werden.“

Mit seiner Behandlung der Prostitution als normaler Beruf verstößt Deutschland folglich gleich reihenweise gegen internationale Abkommen, allen voran gegen die der Vereinten Nationen, die immer wieder fordern, der „Nachfrage entgegenzuwirken, um sie schließlich zu unterbinden“ (UN-Resolution zur Bekämpfung des Frauen- und Mädchenhandels 2008). Noch deutlicher wird der UN-Ausschuss, der die Umsetzung des „Übereinkommens zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau“ (CEDAW) kontrollieren soll. Er hat die Länder, allen voran Deutschland, schon mehrfach dazu aufgefordert, „die Nachfrage nach Prostitution zu kriminalisieren“. Doch stattdessen feiern in Deutschland Männer ihre Junggesellenabschiede in ganz legalen Bordellen.

Die Studie ist eine schallende Ohrfeige für die deutsche Prostitutions-Politik

Auf diese Weise nehme der Staat, so die VerfasserInnen, wissend die „medizinischen und psychischen Schäden und Menschenrechtsverletzungen“ billigend in Kauf, die den mindestens 250.000 Frauen, die sich in Deutschland prostitutieren, kontinuierlich zugefügt werden. „Es gibt belastbare Hinweise für prostitutionsspezifische, kaum reversible posttraumatische Belastungsstörungen, chronische Erkrankungen der Geschlechtsorgane und schwere Verletzungen anderer innerer Organe bei Prostituierten. Darüber hinaus liegen eindeutige Hinweise für eine überdurchschnittliche Sterblichkeitsrate und stark verkürzte Lebenserwartung bei Prostituierten als direkte Folge der Prostitution vor.“

Damit LeserInnen der Studie begreifen, wovon hier ganz konkret die Rede ist, haben die VerfasserInnen die Stellungnahmen und Berichte vieler ExpertInnen eingeholt, die in der Praxis mit Prostituierten zu tun haben.

„Die Prostituierten, die ich behandele, haben in aller Regel chronische Unterbauchschmerzen bedingt durch Unterleibsentzündungen und mechanische Traumata, die nur schwer medizinisch behandelt werden können. Dazu kommen Verletzungen, die bewusst durch Freier zugefügt werden“, berichtet der Heidelberger Gynäkologe Wolfgang Heide. Sein Fazit: „Die psychische Traumatisierung durch Ausübung der Prostitution ist gewaltig und stellt häufig lebenslange Schädigungen und Qualen für die Frauen dar.“

Seine Kollegin Liane Bissinger, die in Hamburg viele Jahre in der Gesundheitsversorgung von Prostituierten arbeitete, wird noch konkreter. Zu den Symptomen, mit denen die Frauen zu ihr kamen, gehörten: „Zerstörte Darmflora und damit weiter geschwächtes Immunsystem (durch häufige Einläufe, um den Stuhlgang für den Analverkehr zu kontrollieren), ein generell entzündetes Magen-Darm-System aufgrund von häufigem Erbrechen durch Ekel, Oralverkehr mit erzwungenem Sperma-Schlucken, miserable Ernährungssituationen, Mangelernährung, Essstörungen, nervöse Störungen. Im Bereich Mund und Kiefer: Unbehandelte Entzündungen, ausgeschlagene Zähne und entzündete Kiefergelenke (durch zu lange Überdehnung des Gelenkes bei Oralverkehr).“

Die psychische Traumatisierung durch Ausübung der Prostitution ist gewaltig

Bissingers Fazit: „Der Befund reicht von akuten und chronischen Schmerzen, Verletzungen, verschiedenen körperlichen Beschwerden über medizinische Langzeitfolgen bis hin zum frühzeitigen Tod. Von regulärer Arbeit kann man aufgrund des Gewaltpotenzials, das diese Befunde verursachen, im Zusammenhang mit Prostitution nicht sprechen. Keine andere Tätigkeit weist ein vergleichbar extremes Schädigungsspektrum am menschlichen Körper auf.“

Schutz vor dem „extremen  Schädigungsspektrum“ gibt es in Deutschland praktisch nicht. Denn all das spielt sich in legalen Bordellen und Terminwohnungen ab, Polizei und Justiz sind also so gut wie handlungsunfähig. Das bestätigen die PolizistInnen, StaatsanwältInnen und RichterInnen, die für die Untersuchung befragt wurden. „Das Argument, in Bordellen seien die Frauen generell sicher vor Zwang und Ausbeutung durch dritte Personen, ist falsch. In 3/4 der Fälle oder noch mehr steckt Gewalt und Zwang hinter der Prostitution“, erklärt Peter Holzwarth, Leitender Oberstaatsanwalt in Stuttgart. Er ermittelte auch im „Paradise-Prozess“: Bordellbetreiber Jürgen Rudloff war als Vorzeige-Bordellier durch die Talkshows getingelt, bis er 2019 wegen „Beihilfe zum Menschenhandel“ verurteilt wurde.

Holzwarths Fazit: „Die liberalen Gesetze und der Umgang mit Prostitution sind kontraproduktiv. Das erzeugt ja erst die hohe Nachfrage. Natürlich fördert der liberale gesetzliche Umgang mit der Prostitution hier in Deutschland die Prostitution und den Menschenhandel.“

Aufgrund des Gewaltpotenzials kann von regulärer Arbeit nicht die Rede sein

„Selbst durch engmaschige Milieukontrollen durch die Polizei lassen sich solche Taten überwiegend nicht verhindern“, bestätigt die Münchner Oberstaatsanwältin Anne Simon und ihre Kollegin Elke Bosch, aktuell Richterin am Verwaltunggericht Freiburg, erklärt: „‚Saubere‘ Prostitution gibt es nicht.“ Die ehemalige Staatsanwältin fragt: „Wollen wir in unserer Gesellschaft Männer, die auf teilweise widerwärtigste Weise in Freierforen Frauen ‚bewerten‘, bestärken, indem wir (legislativ) sagen: ‚Es ist okay, wenn Du Dir gelegentlich eine Frau kaufst, um sie nach Deinem Willen zu benutzen?‘ Legalisieren wir damit nicht strukturelle Gewalt, wenn in 80 bis 90 Prozent der Fälle die Frau dem Freier unterlegen ist, sei es, weil sie aus dem Ausland kommt und die Sprache nicht beherrscht, ihre Rechte nicht kennt, sie unter dem Zwang eines
Zuhälters steht oder schlicht als Armutsprostituierte auf das Geld zwingend angewiesen ist?“

Die Sozialethikerin Elke Mack und der Verfassungsrechtler Ulrich Rommelfanger beantworten diese Frage mit einem klaren Ja. Ja, Deutschland legalisiert mit seiner Gesetzgebung die fortgesetzte Gewalt gegen Frauen, die dem System Prostitution immanent ist, weil es nur mit Gewalt – durch Zuhälter wie Freier – funktioniert. „Diese Kenntnis des Gesetzgebers lässt auf eine mit der Gestaltungs- und Einschätzungsfreiheit nicht mehr vereinbare Duldung von sexueller Ausbeutung und unfreiwillig erbrachter sexueller Dienstleistungen schließen“, erklären die beiden.

Es braucht eine Totalrevision des Prostitutions-Gesetzes aus dem Jahr 2001

Fazit: „Gemäß dieser Sachlage trifft den Gesetzgeber aus dem Schutzgedanken des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) die Pflicht, das für die Würdeverletzung mitursächliche Prostitutionsgesetz des Jahres 2001 einer Totalrevision zu unterziehen.“

Denn die Verletzung der Menschenwürde ist kein subjektiver, dem persönlichen Empfinden des Individuums überlassener, sondern ein objektiver Akt. Gerade in der Prostitution existiere „die akute Gefahr, dass Menschen gemäß ihrem subjektiven Empfinden ihr eigenes Würdebewusstsein verlieren, da sie aufgrund von Demütigungen, beständiger Instrumentalisierung und Entfremdung zu Dissoziationen gezwungen werden und sich in der Folge desintegrieren.

Diese Gefahr ist vor allem bei Prostituierten gegeben, wenn sie sich selbst jahrelang einer für sie degradierenden, demütigenden und missachtenden sexuellen Befriedigung von fremden Dritten zur Verfügung stellen mussten. Gerade die Tatsache der akuten Gefahr des schrumpfenden individuellen Würdeempfindens in der Prostitution bestätigt ja die Notwendigkeit einer rechtsphilosophischen und rechtlichen Substanzbehauptung des Würdeprinzips. Dieses beinhaltet nämlich, dass der Staat in objektiver Hinsicht die Würde der Menschen zu schützen und zu gewährleisten hat.“

Die Würdeverletzung bei vulnerablen Prostituierten muss unterbunden werden!

Fazit: „Die Prostitutionsproblematik ist schnellstmöglich normativ so zu fassen, dass keine weitergehende Würdeverletzung mehr bei geschätzt Hunderttausenden vulnerablen Prostituierten in Deutschland stattfindet.“

Wie Deutschland das Problem lösen muss, ist für Mack und Rommelfanger klar: Sie – und mit ihnen alle für dieses Buch Interviewten – empfehlen das sogenannte „Nordische Modell“, also die Bestrafung der Freier. „Menschenhandel, gewaltsame Prostitution sowie Zwangsprostitution können damit nahezu ausgeschlossen werden, denn die Nachfrage nach Prostitution reduziert sich damit unweigerlich auf ein Minimum.“

Deutschland verstößt also mit seiner liberalen Prostitutionsgesetzgebung nicht nur gegen internationale Abkommen, sondern auch gegen seine eigene Verfassung. Die Konsequenz müsste eine Verfassungsklage sein. Die vorliegende Untersuchung wäre dafür jedenfalls eine Steilvorlage.

CHANTAL LOUIS

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Elke Mack/Ulrich Rommelfanger: Sexkauf. Eine rechtliche und rechtsethische Untersuchung der Prostitution (Nomos)

 

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