Alice Schwarzer schreibt

Von Huren und Hurensöhnen

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"Früher haben sie Mülleimer und Autos verbrannt – jetzt verbrennen sie Mädchen.“ Diesen Satz sprach Kahina Benziane, nachdem ihre Schwester Sohane am 4. Oktober 2002 in der Pariser Banlieue Vitry von Mitschülern vergewaltigt, gefoltert und bei lebendigem Leibe verbrannt worden war. Sohane war – im Gegensatz zu ihrer Schwester, die wegzog und Soziologie studierte – im Quartier geblieben. Sie hatte es aber dennoch gewagt, zu leben wie die Schwester; das heißt: sich zu schminken, auszugehen, einen Freund zu haben. Das hat sie das Leben gekostet. Denn damit gehörte sie nicht zu den ‚anständigen Mädchen‘, sondern zu den ‚putes‘, den Huren.

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‚Fils de pute‘, Hurensohn, lautet heute die Schmähung der Polizeibeamten durch die Steine und Brandsätze werfenden Jugendlichen, bzw. Jungen, Mädchen kommen in dieser ‚Jugendrevolte‘ nicht vor. Auch 1968 flogen in Paris die Pflastersteine, aber auf den Barrikaden standen Männer und Frauen. Auch wenn die Anführer männlich waren. Ziel der Revolte waren die autoritären Strukturen, aber nicht der Staat an sich; in Flammen standen Luxus-Läden, keine Schulen. Und der Schlachtruf gegen die ‚Bullen‘ lautete: „CRS SS!“ Ein schiefer, doch immerhin ein politischer Vergleich. Die heutige Parallele aber ist eine rein sexistische: Hurensohn.

Fakt ist: Von den etwa sechs Millionen Zuwanderern der ersten, zweiten und schon dritten Generation in Frankreich kommt die Mehrheit aus dem muslimischen Maghreb, also aus den französischen Ex-Kolonien Algerien und Marokko. Eine Vergangenheit, die die Gegenwart nicht einfacher macht. Auffallend ist: Die beurs, die Enkel, sind – ganz wie in Deutschland – zum Teil schlechter integriert als ihre Großeltern. Und 40 Prozent der Jugendlichen zwischen 16 und 25 sind arbeitslos, genauer: jeder vierte junge Mann und jede zweite junge Frau. Unter dem sozialen Aspekt gesehen hätten also die Frauen doppelten Grund zum Protest. 

Nur: Die muslimischen Frauen schreien nicht auf der Straße, sie flüstern hinter den Gardinen. Und wenn sie es denn doch mal öffentlich wagen, dann richtet sich ihr Protest nicht gegen den Staat, sondern gegen die eigenen Männer und Brüder. Wie nach dem Tod von Sohane. Damals gründete sich die Bewegung Ni putes, ni soumises (Weder Huren, noch Unterworfene) und löste mit ihren Demonstrationen ziemliches Aufsehen in Frankreich aus. Am 8. März 2003 zogen Hunderte von jungen Frauen aus den Vorstädten durch Paris und erklärten: „Wir ersticken an dem Machismo der Männer in unseren Vierteln. Im Namen der ‚Tradition‘ verweigern sie uns die elementarsten Menschenrechte. Wir nehmen das nicht länger hin!“

Parlamentspräsident Debré sowie die als Ex-Ministerin und KZ-Überlebende in Frankreich als moralische Autorität geltende Simone Veil empfingen Kahina und ihre Schwestern. Und im Sommer 2003 prangten an den Säulen des neoklassizistischen Parlaments 14 überlebensgroße Porträts von Kahina, Samira, Aischa und all den anderen – auf dem Kopf der modernen Mariannen die Jakobinermütze, stolzes Symbol der Republik. 

Umso verwunderlicher, dass neben dem berechtigten Aspekt des Rassismus der Sexismus bzw. Machismo dieser Unruhen bisher kaum Thema war in den französischen und internationalen Medien. In der Tat wird seit langem, genau gesagt seit 20 Jahren, ein unaufhaltsames Ansteigen männlicher Gewalt in den Banlieues registriert. In 300 von 630 observierten, gefährdeten Wohnvierteln wurden typische Anzeichen für die Bildung von Parallelgesellschaften registriert: die „Abkapselung in Gemeinschaften“, sowie religiöser und sexistischer Fanatismus, die bekanntermaßen Geschwister sind. 

Die Mädchen und Frauen in den Vierteln leben schon lange in Angst. Sie sind nicht nur innerhalb der Familien viel häufiger Opfer von Gewalt als die französische Durchschnittsfrau, sie sind auch auf den Straßen gefährdeter. Die von den Islamisten beeinflussten Jungen und Männer teilen die Frauen in Heilige und Huren. Die Heiligen bleiben im Haus, die Huren gehen hinaus in die Welt. Sie bezahlen es teuer. Ihr Preis geht vom brutalen Straßenraub, der auffallend häufig Frauen trifft, bis hin zur sogenannten Rotonde: der Gruppenvergewaltigung, deren Opfer auch Kahinas Schwester Sohane wurde.

Die Bambule sei das Resultat einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, die es versäumt habe, die Zugewanderten und ihre Kinder zu integrieren, heißt es. Richtig. Aber wenn es dunkel wird und die Krawalle beginnen, ist keine einzige Frau mehr auf der Straße. Denn die ‚Huren‘ sind in diesen brennenden Nächten in ähnlicher Gefahr wie die ‚Hurensöhne‘.

Was passieren kann, wenn Frauen dennoch die Stimme erheben, zeigt das Beispiel von Senia Boucherrougui und Cherifa. Die hochschwangere Senia war in der Pariser Vorstadt im letzten Jahr Opfer eines Raubüberfalls geworden. Sie hatte daraufhin zusammen mit ihrer Freundin Cherifa die ‚Vereinigung gegen die Gewalt in Saint-Denis‘ gegründet und gewagt, in ihrem Viertel eine Demonstration zu organisieren – gegen die Gewalt des Staates wie gegen die der eigenen Männer und Brüder. Resultat: Auf einem Flugblatt wurden die beiden Frauen mit Bürgermeister Doriot verglichen – der war in den 30er Jahren von den Kommunisten zu den Nazis übergewechselt.

Schon vor den Unruhen sind allein in diesem Jahr rund 200.000 Autos in Frankreich in Flammen aufgegangen. Bisher vorwiegend im einst kommunistischen ‚Roten Gürtel‘ von Paris, der zunehmend islamistisch grün wird. Jetzt brennen die Autos im ganzen Land und die Schulen dazu. Ursache: Arbeitslosigkeit und mangelnde Integration – sowie die stetige Agitation der Islamisten seit Mitte der 80er Jahre. Sie scheinen diesmal zwar nicht die direkten Brandstifter der marodierenden Jugendbanden zu sein, aber sie waren die Wegbereiter – und werden die Profiteure sein.

Auch in Deutschland warnen Jugendforscher und Soziologen seit langem vor dem Abdriften der Jungen und Männer in den muslimisch dominierten Vierteln. Aus repräsentativen Langzeit-Untersuchungen des Hannoveraner Kriminologen Prof. Christian Pfeiffer wissen wir, dass hierzulande die Hälfte aller Jugendstraftaten von nur sechs Prozent der Täter verübt wird. Zu diesem harten Kern gehört jeder zehnte türkische, aber nur jeder 33. deutsche Junge. Dazu passt, dass jeder vierte türkische Junge Gewalt bejaht (jeder 25. deutsche) – aber nur jedes 20. türkische Mädchen.

Die Gewalt ist in türkischen Familien dreimal so hoch wie in deutschen, die Täter sind Männer, die Opfer Frauen und Kinder. Die Mädchen aber identifizieren sich mit der Opfer-Mutter, die Jungen mit dem Täter-Vater (auch wenn sie selber sein Opfer sind). Doch solange wir uns im Namen eines blauäugigen Rassismus-Vorwurfs das Benennen dieser Tatsachen verbieten lassen, solange werden wir auch nicht an die Wurzeln des Übels kommen.

Denn wie soll ein Junge Achtung vor seinen Nächsten oder gar vor den Repräsentanten des Staates haben, wenn er von Kindesbeinen an lernt, seine Nächste – die eigene Mutter, Schwester, Freundin – zu verachten? Schlimmer noch: Diese Jungen sind überzeugt: Nur ein gewaltbereiter Mann ist ein ‚echter Mann‘! Gewalt ist der Kern der Männerherrschaft in den Gettos. Gewalt ist cool. Gewalt ist das identitätsstiftende Element von ‚Männlichkeit‘ – am begierigsten aufgesogen in Zeiten irritierter, erschütterter Männlichkeit.

Das verführerische Lied der Gewalt wird von Paris bis Köln und Berlin vielstimmig gesungen: Von traditionellen Patriarchen aus Kulturen, die weder durch die Aufklärung, noch durch den Feminismus erschüttert, geschweige denn verändert wurden; von Kriminellen, die die Hoffnungslosigkeit dieser Jungs ausnutzen; und von den mitten in den europäischen Metropolen agitierenden Islamisten. Sie versprechen diesen verlorenen jungen Männern eine neue, stolze Identität inklusive 70 Jungfrauen im Himmel – um den Preis der Erhebung über die eigenen Frauen und Bekämpfung der ‚Ungläubigen‘.

Es sah in den letzten Jahren eigentlich so aus, als hätte Frankreich dieses Problem erkannt. Innenminister Sarkozy, selber Einwandererkind (und Sohn eines adeligen Ungarn und einer jüdischen Griechin), fuhr einen offensiven Integrations-Kurs. Ziel: Die heimliche Macht der Islamisten zu brechen und die Muslime aus den Parallelgesellschaften zu holen. Jüngst geriet der populäre ‚Sarko‘ als Mann der eisernen Faust und kruden Worte zu Recht in Misskredit. Dennoch stellt sich die Frage, ob die Welle der Ablehnung, die dem ehrgeizigen Präsidentschaftsanwärter jetzt von den Wortführern in den Banlieues entgegen schlägt, nicht auch dem Politiker gilt, der in Frankreich bisher der entschlossenste und effektivste Gegner der Islamisten ist. Erst Wochen nach Ausbruch der Unruhen kam einer der Gründe auf den Tisch: Frankreich hatte bisher die Polygamie ihrer Zuwanderer ‚toleriert‘. Auf so manchen 50 Quadratmetern leben zwölf Kinder, fünf Frauen – und ein Mann. Die Folgen sind auch für die Jugendlichen fatal.

Ganz so dramatisch wie in Frankreich sind die Probleme in Deutschland nicht. Aber auch hierzulande steigt die Sympathie vor allem der jungen Männer mit den Fundamentalisten und Gotteskriegern unaufhaltsam. Die neue Regierung wird bald tun müssen, was die alte so sträflich versäumt hat.

Maria Böhmer, die neue Ministerin für Integration, wird – zusammen mit dem Innenminister – alle Hände voll zu tun haben. Denn auch wir dürfen unsere Augen nicht länger verschließen vor dem doppelten Zwei-Klassen-System: dem zwischen Deutschen und Zugezogenen einerseits – und dem zwischen den Männern und Frauen innerhalb der Einwanderer-Gemeinschaft andererseits.

Wollen wir das Problem der brennenden Autos wirklich in den Griff bekommen, müssen wir auch das der brennenden Mädchen angehen (Stichwort: Ehrenmorde); wollen wir das Gesetz der Paten innerhalb der mafiösen Strukturen brechen, müssen wir auch die grenzenlose Autorität der Patriarchen innerhalb der Familien infrage stellen (Stichwort: andere Sitten). Und mindestens ebenso dringend wie der Sprachunterricht ist der Demokratieunterricht – unter deutlichem Hinweis auf Paragraph 3, Absatz 2 des Grundgesetzes: „Frauen und Männer sind gleichberechtigt.“

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Abwesende Väter: Machos am Rockzipfel?

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Es ist schon viel gesagt worden über die abwesenden Väter. Sie berichten von einem Wohnblock mit 50 Wohnungen, wo von 700 Erwachsenen nur 200 Männer sind.
Pascal Jamoulle: Es gibt Ecken, wo die Väter völlig verschwunden sind. Zurück geblieben sind die Frauen und Kinder. Das ist ein weltweites Problem, das in Burkina Faso ebenso existiert, wie in den schwarzen Ghettos von Amerika oder in den Pariser Vorstädten. Die Arbeitslosigkeit erschüttert die männliche Identität. Wenn das Geld vom Sozialamt kommt, wer ist dann der Familienchef? Nicht nur die Migranten sind verunsichert zwischen dem alten Modell des autoritären Vaters und dem neuen eines Vaters, der mit seinen Kindern diskutiert und verhandelt. Diese Väter wenden sich ab, noch nicht einmal das Ausflippen ihrer Kinder kann sie halten.

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Kommen die Mütter nicht besser zurecht als die Väter? Vor allem, da sie die nicht brauchen, um die Kinder zu erziehen …
Die Mütter sind oft selber Opfer männlicher Gewalt und entwickeln ein großes Misstrauen den Männern gegenüber. Sobald sie Sozialhilfe bekommen, gehen sie auf Abstand. Aber so eine omnipräsente Mutter, die keinen anderen Lebensinhalt hat als ihre Kinder, kann erstickend sein. Auch deshalb flüchten diese Jungen auf die Straße und demonstrieren Männlichkeit via Gewalt und Risikobereitschaft.

Was für eine Risikobereitschaft?
Alles, was unberechenbar ist, was andere oder einen selbst in Gefahr bringt. Nicht nur das Anzünden von Autos oder das Provozieren der Polizei, auch der Konsum von Drogen und Alkohol, illegale Geschäfte … Die Mütter wiederum transferieren die Familienautorität auf die Ältesten, die zu den ‚kleinen Männern im Haus‘ werden und ihre Schwestern und Mütter bevormunden. Das gibt’s überall, aber in den Vorstädten in gesteigertem Maße.

Diese Jungen sind also eingeklemmt zwischen ihrer Macho-Fassade und den Röcken ihrer Mütter?
Ja, denn je schlechter der Ruf einer Vorstadt ist, umso stärker wird die zum Ghetto. Die dort Eingesperrten besetzen den öffentlichen Raum der Vorstädte: Treppen, Parkplätze, Rasen. In Wahrheit geht es ihnen darum, sich wichtig zu machen. Es ist auch kein Zufall, dass das Vokabular dieser Banden stark militarisiert ist. Das ist eine sehr hierarchisierte Welt.

Männlichkeit, die um Anerkennung ringt?
Eine Männlichkeit, die sich mit Gewalt behaupten will, nicht zuletzt durch die Kontrolle der jungen Mädchen in den Vierteln … Die Gesellschaft darf einfach nicht einen Teil ihrer jungen Männer ins Machotum abgleiten lassen – und die Mädchen in die Angst und Verachtung für diese Jungen, die sie dominieren wollen. Sie sind in einer Welt, in der das Gesetz der Straße herrscht, in der es nur Beherrschte und Beherrscher gibt. Sie haben sozusagen einen hyper-individualistischen Liberalismus verinnerlicht. Man stellt bei ihnen ein Phänomen fest, dass wir Anthropologen die ‚Anhäufung der Normen‘ nennen. Ein Nebeneinander moralischer Systeme, die opportunistisch und chaotisch sind und keinerlei Berührung miteinander haben. Darum dieses Aufflammen von Gewalt, bei dem das Büro einer Sozialhelferin angezündet oder auf den Lehrer gespuckt wird. Die Jungs benehmen sich wie Elefantenjäger. Wenn man mit einem von ihnen spricht, antwortet er zwar, beäugt aber gleichzeitig die Umgebung: bereit, auf alles zu schießen, was sich bewegt. Das Dringendste ist, diesen Jungs zu zeigen, dass der Staat die Interessen aller schützt; dass sie Teil dieser Gesellschaft sind – und nicht isoliert in irgendwelchen Randgebieten, wo ihnen nur die Auflehnung bleibt.

Pascale Jamoulle: Des hommes sur le fils – La construction de l’identité masculine en milieux précaires (La Decouverte).

EMMA Januar/Februar 2006

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