Esmahan Aykol: Türkinnen ins Exil?

Krimi-Autorin Esmahan Aykol
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Viki kenne ich seit der Zeit, als ich als Journalistin arbeitete. Sie war damals meine Chefin in der Auslandsredaktion. Eine nette Chefin, mit der ich mich sofort anfreundete. Viki liebte Istanbul und ihre kleine Wohnung mit Blick auf den Bosporus. Deshalb war ich überrascht, als sie mir erzählte, sie wolle die Türkei verlassen. Sie habe vor einigen Monaten die spanische Staatsbürgerschaft beantragt. Viki ist sephardische Jüdin. Ihre Vorfahren wurden im Jahr 1492 aus dem katholischen Spanien vertrieben und fanden im Osmanischen Reich Zuflucht. In Spanien ist kürzlich ein Gesetz verabschiedet worden, das die Nachfahren sephardischer Juden berechtigt, spanische Staatsbürger zu werden. Diese Chance will Viki nun nutzen. Ihre kleine Rente würde in Spanien zum Leben nicht reichen, zumal sie dort auf sich allein gestellt wäre, aber ein EU-Pass würde ihr die Möglichkeit geben, nach Lyon zu ziehen, wo ihre Tochter mit ihrem französischen Mann lebt.

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Auch Pelin kenne ich schon lange. Wir haben zusammen Jura studiert. Nach dem Studium hat sie als Managerin gearbeitet, dann ihre eigene Firma gegründet. Sie ist eine erfolgreiche und kluge Geschäftsfrau, die den Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahrzehnte genutzt hat. „Hier fühle ich mich nicht mehr wohl“, hat sie im ­Februar nach der Ermordung der jungen Özgecan Aslan gesagt. „Wie soll ich in einem Land Geld investieren, wenn ich nicht weiß, ob wir in fünf Jahren hier überhaupt noch leben können?“ Pelin dachte einen Monat lang nach, wo sie sich wohl fühlen könnte. Im Mai fliegt sie nach London, um dort eine Wohnung zu kaufen. Dadurch bekommt sie leichter ein Visum.  

Meine Familie, meine Freunde und Bekannten, die wissen, dass ich deutsche Staatsbürgerin bin, fragen auch mich, was ich hier noch verloren habe, und warum ich noch nicht nach Deutschland gegangen bin. Die Zeiten haben sich geändert. Es sind nicht mehr die armen Schweine aus dem tiefsten Anatolien, die sich in Europa ein besseres Leben erhoffen, es sind wir, die gebildeten, emanzipierten, alleinlebenden Frauen.

In einem sind sich in der Türkei derzeit alle einig: Die Parlamentswahlen am 7. Juni werden unser Schicksal bestimmen. Recep Tayyip Erdoğan, der im August zum Staatschef gewählt worden ist, nachdem er zwölf Jahre Ministerpräsident war, hofft auf einen klaren Wahlsieg der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung). Erdoğan will die Verfassung zugunsten eines Präsidialmodells nach amerikanischem Vorbild ändern und damit noch größere Machtbefugnisse erhalten. Dafür braucht er eine Zweidrittelmehrheit, 367 Sitze im Parlament (von 550). Umfragen zufolge liegt die AKP derzeit mit rund 40 Prozent immer noch vorne, ist aber weit von der absoluten Mehrheit entfernt. 

Die Vorstellung, dass Erdoğan und seine islamisch-konservative AKP noch mehr Macht bekommen könnten, ist ein Horrorszenario für alle, die auf eine Demokratisierung der Türkei hoffen. Aber für uns, die gebildeten, emanzipierten Frauen, ist es eine veritable Katastrophe.

Seit seinem Machtantritt 2002 propagiert der bekennende Islamist Erdoğan ein reaktionäres Frauenbild. Mehrfach hat er die türkischen Frauen aufgefordert, früh zu heiraten und mindestens drei – inzwischen fünf – Kinder zur Welt zu bringen. Auf Konferenzen von Frauenorganisationen erklärt der Ehemann einer verschleierten Frau und Vater verschleierter Töchter, er glaube nicht an die Gleichberechtigung von Mann und Frau; Gott habe die Frauen den Männern anvertraut. Er verspricht Gesetze, die Müttern Vorteile bringen sollen; heiratswillige Schülerinnen und Studentinnen erhalten Stipendien und Frauen, die aufhören zu arbeiten, um zu heiraten oder Kinder zu kriegen, bekommen eine Belohnung. Und er kritisiert Feministinnen, die bei Protestkundgebungen singen und tanzen: So etwas sei der türkischen Religion und Kultur fremd. 

Auch andere Politiker, wie etwa der ­Vizeregierungschef und Mitgründer der AKP Bülent Arınç, sind nicht frei von Frauenfeindlichkeit. So forderte Arınç die Frauen auf, in der Öffentlichkeit nicht mehr laut zu lachen und wieder „zu einem Symbol der Keuschheit“ zu werden.

Es gibt im Türkischen ein Sprichwort, das lautet: Der Fisch stinkt vom Kopfe her. Wenn der Staat und seine höchsten Repräsentanten ein solches Frauenbild haben, braucht man sich nicht zu wundern, wenn Diskriminierung und sexuelle Gewalt Tag für Tag zunehmen. Laut der OECD nimmt der Zugang der Türkinnen zur Arbeitswelt jedes Jahr weiter ab, die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern vertieft sich. Auf dem Global Gender Index des Weltwirtschaftsforums belegt die Türkei von 135 Ländern den 124. Platz. 

Im Jahr 2010 berichtete das Justizministerium, die Zahl der Morde an Frauen in der Türkei sei im Vergleich zum Jahr 2002 um das 14-fache angestiegen: allein 2009 wurden 1126 Frauen umgebracht. Da die Gesellschaft auf diese Zahl schockiert reagierte, veröffentlicht das Ministerium seither keine Statistiken mehr. Wir wissen nicht mehr, wie hoch genau die Zahl der ermordeten Frauen ist, aber es ist unübersehbar, dass die Morde immer brutaler werden. 

Das aktuellste Beispiel ist der Mord an Özgecan Aslan Mitte Februar. Die 20-jährige Psychologiestudentin aus dem südtürkischen Mersin war auf dem Nachhauseweg von der Uni, als ein Minibusfahrer versuchte, sie zu vergewaltigen. Als sie sich wehrte, stach er mit einem Messer auf sie ein und tötete sie mit einem Schlag auf den Kopf. Danach trennte er ihre Hände vom Körper ab, damit keine DNA-Spuren in den Fingernägeln gefunden werden können und verbrannte die Leiche mit Hilfe seines Vaters und eines Freundes.  

Die Initiative „Wir werden die Frauenmorde stoppen!“ wurde 2010 gegründet, nachdem Münevver Karabulut ebenso barbarisch ermordet worden war wie Özgecan Aslan in diesem Jahr. Mit kargen Mitteln – sie finanzieren sich durch Spenden und Mitgliederbeiträge – stehen die Aktivistinnen den Familien der ermordeten Frauen bei und bieten ihnen Rechtsbeistand. Laut der Initiative wurden allein in den ersten 65 Tagen dieses Jahres 55 Morde an Frauen begangen. Fadik Temizyürek, eine der Gründerinnen: „Tayyip Erdoğan braucht nur zu sagen, Frauen und Männer seien nicht gleich, und schon wird erneut eine Frau ermordet. Das neue Ausbildungssystem und die ­Gesetzesänderungen zielen darauf ab, die Frau wieder ins Haus zurück zu verbannen.“ Aber, sagt Fadik, „gleichzeitig durchläuft die Gesellschaft einen Modernisierungsprozess. Die Frauen wollen frei sein. Die Frauen lernen, solidarisch zu sein. Zwar gibt es immer noch Morde. Aber: Am häufigsten bringen Männer ihre Frauen um, weil die sich scheiden lassen wollen. Der zweite Grund für Frauenmord ist, dass sie arbeiten gehen wollen. Das heißt: der Widerstand der Frauen steigt.“ „Als unsere Initiative gegründet wurde, haben wir in Gruppen von fünf bis zehn Frauen jeden Samstag am Taksim-Platz mit unseren lila Plakaten mit der Aufschrift ‚Wir werden die Frauenmorde stoppen!‘ demonstriert“, erzählt Fadik. „Seither sind fünf Jahre vergangen, und inzwischen nehmen hunderte Frauen an unseren Demonstrationen teil.“

Während des Gesprächs klingelt das Telefon. „Die Frauen, die bei uns mitmachen wollen, finden meine Telefonnummer auf unserer Website. Gleich kommt eine neue, die kann ich Ihnen ja vorstellen“, erzählt Temizyürek. So lerne ich Nimet kennen, eine Kurdin um die 50, geschieden. Ihre beiden Töchter hat sie allein großgezogen. Erst vor ein paar Monaten ist sie aus Kars, einer Stadt im Nordosten der Türkei, nach Istanbul gekommen, weil eine der Töchter die Zulassung zur Universität bekommen hat. „Ich bin die erste in meiner Familie, die sich hat scheiden lassen. Was ich an Druck bekommen habe … Nicht nur von der Familie, sondern auch von Freunden und Nachbarn. Ich möchte meinen Töchtern das ersparen, was ich durchgemacht habe. Schon in Kars wollte ich bei Frauenorganisationen mitmachen, aber ich bin nicht allein, ich habe ja die Kinder. ‚Nachher bleiben sie womöglich allein zurück‘, drohten meine Verwandten“, erzählt Nimet und lacht dabei bitter. „Was heißt das: Nachher bleiben sie womöglich allein zurück?“, hake ich nach. „Na, sie verlieren mich eben. Man verschwindet, und noch nicht mal die Leiche wird gefunden.“ Nimet zündet sich eine Zigarette an und fragt: „Sind die Polizisten bei Demonstrationen sehr agressiv? Ich habe ein Herzproblem, ich kann nicht rennen.“ Fadik antwortet: „Ja, agressiv sind sie schon. Aber mach dir keine Sorgen. Wir marschieren untergehakt. Wenn sie uns angreifen, ­bringe ich dich weg.“

In diesen Zeiten hält es die Türkinnen nicht mehr an ihrem angestammten Platz. Die einen gehen ins Ausland, die anderen demonstrieren auf dem Taksim-Platz. Ich verabrede mich mit Nimet und Fadik für den nächsten Montag zum Treffen von „Wir werden die Frauenmorde stoppen!“ und gehe.

Esmahan Aykol

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Karen Krüger: Frühe Warnung

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Als der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan im vergangenen Jahr in die Länder des Arabischen Frühlings reiste, wurde er empfangen wie ein Popstar. Plakate wurden entrollt, Hunderte schwenkten die türkische Flagge. Der Beifall in Kairo, Tunis und Tripolis war überwältigend, denn sehr früh hatte Erdogan sich auf die Seite der Proteste gestellt. Doch nicht nur deshalb jubelten die Leute ihm zu: Für sie ist Erdogan einer von ihnen; ein frommer Mann aus dem Volk, der sich gegen das alte türkische Establishment durchgesetzt hat und nun an der Spitze eines modernen muslimischen Staates steht.

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Und so war es nicht verwunderlich, dass die frommen Muslime in den Reihen der „Revolutionäre“ auf die Türkei verwiesen, als alle Welt sie nach dem Sturz der Despoten fragte, wie es denn nun weiter gehen solle mit der Arabellion. Die west­lichen Beobachter gaben sich mit der Antwort zufrieden, sehr zufrieden sogar. In ihren Augen erbringen Erdogan und seine Partei AKP den Beweis, dass Moderne und Islam vereinbar seien. Und weil die Umstürzler merkten, dass man unbequeme Diskussionen schnell beenden kann, indem man auf die Türkei als Vorbild zeigt, wurde die Antwort zum Selbstläufer. Zu einer Beruhigungspille für den Westen.

Diese Pille wirkt sogar noch im Sommer 2012, als die Türkei an der Grenze zu ­Syrien Truppen aufmarschieren ließ, obwohl eine Intervention einen politischen Flächenbrand für die gesamte Region bedeuten würde. Ungefragt schlüpfte Erdogan in die Rolle des Vermittlers, als die ­syrische Revolte begann. Und dann schüttelt er die Fäuste, weil er bei seinem ehemaligen Freund Baschar al-Assad auf taube Ohren stieß. Erdogan, der einfache Mann aus dem Volk fühlt sich von dem Großbürger al-Assad gedemütigt. Das ist die Basis seiner Politik. Kann so einer tatsächlich ein Vorbild für den Nahen Osten sein?

Dass die arabischen Frauen die Türkei nicht für ein Modell halten, machten sie schon vor einem Jahr, nach dem Wahlsieg der islamistischen Ennahda-Partei in Tunesien, deutlich. Obwohl bzw. weil ihnen die neuen Machthaber türkische Verhältnisse in Aussicht stellten, protestierten die Frauen damals weiter. Es stellt sich die Frage: Warum? Wie steht es um die Rechte der Frauen in der Türkei? Mehr noch: Wie ­demokratisch ist die Türkei überhaupt?

Schon die Zahlen sprechen für sich: Auf dem Index der Pressefreiheit ist die Türkei auf Platz 148 von insgesamt 179 Staaten abgerutscht, liegt jetzt hinter ­Indonesien und Russland. Von den 119298 Beschwerden, die dem Europä­ischen Gerichtshof für Menschenrechte vorliegen, stammen 33568 aus der Türkei. Zivilgesellschaftliches Engagement, etwa von Frauenorganisationen, wird nieder­gewalzt. Dabei gehört das zu den wenigen demokratischen Errungenschaften, die das Land seit dem Beginn der Regierung ­Erdogan vorweisen kann.

In echten Demokratien schützt die Justiz die freie Meinungsäußerung und das freie Denken. In der Türkei verhindert sie beides. Für die Justiz sind die seit sechs Jahren andauernden Ermittlungen gegen die Terrororganisation Ergenekon, die einen Umsturz der Regierung geplant haben soll, längst zu einem Persilschein geworden, um all jene zum Schweigen zu bringen, die sich der Ideologie der Regierung widersetzen. Auch Äußerungen zur Kurdenfrage dienen als Vorwand, um kritische Intellektuelle mundtot zu machen. Etwa fünftausend Menschen wurden so mundtot gemacht. Unter ihnen auch BüŞra Ersanli, Professorin für Internationale Politik an der Istanbuler Marmara Universität. Ihr „Vergehen“ besteht darin, eine Meinung in der Kurdenfrage vertreten zu haben, die mit Ansichten der ­Regierung kollidiert. Sie hatte an der Politischen Akademie der von Kurden dominierten linken Partei BDP, die auch mit Sitzen im türkischen Parlament vertreten ist, Vorträge gehalten. Jetzt drohen der Professorin zwischen 15 und 22 Jahren Haft.

Auch die Juristin Emine Ülker Tarhan (Foto re) hat beobachtet, dass Richter und Staats­anwälte immer mehr „zu Handlangern der Regierung Erdogan“ werden. Die blonde, hochgewachsene 51-Jährige war bis März 2011 Richterin am Obersten Gerichtshof in Ankara. Die schleichenden Veränderungen im Justizapparat bekam sie am eigenen Leib zu spüren. Über Jahre habe sie für die berufliche Gleichstellung von Frauen gekämpft, erzählt sie. Und musste nun einsehen, dass es für Frauen nicht einfacher, sondern immer schwieriger wurde, sich bei gleicher Qualifikation gegen Männer durchzusetzen. In Verwaltungsgerichten lag der Anteil der Frauen bis 2010 noch bei 36 Prozent – heute sind es weniger als zwei Prozent. Innerhalb von nur einem Jahr wurden die Frauen in der Justiz quasi eliminiert.

Früher war es in der Türkei ein absolutes Tabu, bei Gericht mit dem Koran zu argumentieren. Es gab eine strikte Trennung zwischen Staat und Religion. Inzwischen aber hat der türkische Ministerpräsident die Richter aufgefordert, vor der Urteilsfindung die Meinung von ­Islamgelehrten einzuholen. Einer folgte dem Rat des Ministerpräsidenten, es ging um Vergewaltigung. Die Antwort, die er von dem Islamgelehrten bekam, war: Eine Frau mit zu tiefem Dekolleté habe es verdient, vergewaltigt zu werden.

Als bei der Justizreform ein neues ­Gesetz verabschiedet wurde, demzufolge Richter und Staatsanwälte für Amtsmissbrauch nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können, und außerdem die Gremien neu gemischt wurden, welche Richter und Staatsanwälte ernennen, protestierte Emine Ülker Tarhan öffentlich. Die Reform, so ihr Vorwurf, bevorzuge Kandidaten, die der Regierung genehm sind. Sie legte ihr Amt nieder, ging in die Politik. Bei den vergangenen Parlamentswahlen kandidierte Tarhan für die Oppositionspartei CHP und sitzt jetzt im Parlament in Ankara.

Tatsächlich häufen sich die Anzeichen, dass Erdogan in seiner dritten Amtszeit eine Wende anstrebt und seine islamisch-konservativen Wertvorstellungen der ganzen Gesellschaft überstülpen will. Er forciert jetzt ein Programm, das die gesellschaftliche ­Stellung der Frauen enorm schwächen wird.

Als die AKP im Jahr 2002 an die Macht kam, war das noch anders, damals zeigte Erdogan sich scheinbar fest entschlossen, die Türkei nach Europa zu führen. Forderungen aus Brüssel wurden schnell erfüllt, auch jene nach mehr Frauenrechten. Gesetze, die Frauen diskriminieren, wurden abgeschafft, neue Gesetze, die Frauen vor Diskriminierung und Gewalt bewahren sollen, verabschiedet: Auch die Vergewaltigung in der Ehe wurde unter Strafe gestellt, bei Ehrenmord droht inzwischen lebenslange Haft. Zuletzt wurde ein Gesetz zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auf den Weg gebracht, das Staatsanwälten und Polizisten alle Rechte gibt, um Frauen, die sich bedroht fühlen, umfassend zu schützen, auch vor den eigenen Angehörigen. – War dieser Reformeifer ein Täuschungsmanöver für den Westen? Hatte Erdogan, der 1998 als Oberbürgermeister von Istanbul noch zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden war wegen militanter gottesstaat­licher Propaganda, nur Kreide gefressen?

Schaut man sich nur die türkischen Gesetze an, hat sich die Stellung der Frau verbessert. Ihr Alltag jedoch sieht ganz ­anders aus. Die Fälle häuslicher Gewalt steigen. Laut der Menschenrechtsgruppe „We will Stop Women’s Murder“ wurden allein 2011 mindestens 160 Frauen von Familienangehörigen getötet, das sind mehr als doppelt so viele wie 2010. Schon in den ersten drei Monaten dieses Jahres sind 47 Frauen von ihren Ehemännern ermordet worden. Seit Jahren werden die meisten Morde an Frauen in Istanbul und in der Ägäis-Region verübt, dort prallen Modernisierung und patriarchale Strukturen am heftigsten aufeinander.

Das Problem sind also nicht die Gesetze, das Problem sind die Sitten, ist die verkrustete türkische Mentalität – ihr zufolge ist eine Frau weniger wert als ein Mann. Diese Mentalität herrscht auch in Justiz und Polizei. Anstatt alles zu tun, um die Opfer zu schützen, behandeln Richter und Polizisten Fälle von Gewalt gegen Frauen als Bagatellen. Es kommt vor, dass Frauen, die sich in eine Polizeistation geflüchtet haben, von den Polizisten aufgefordert werden, zu ihren Familien zurückzugehen. Im Februar vergangenen Jahres wurde in Istanbul Arzu Yildirim von ihrem Mann ermordet. Mit acht Schüssen, auf offener Straße. Sie hatte bei Gericht um polizeilichen Schutz gebeten. Den Brief fand man in ihrem blutverschmierten Portemonnaie.

Auch in den Frauenhäusern zeigt sich, wie geduldig Papier in der Türkei ist. Das Gesetz schreibt vor, dass jede Stadt, die mehr als 50000 Einwohner zählt, ein Frauenhaus hat. Im ganzen Land gibt es aber nur 63 Frauenhäuser, bei 79 Millionen EinwohnerInnen. Und alle werden privat finanziert und von Frauenorganisationen betrieben. Der Staat weigert sich, Geld zu geben, so lange die Leitung der Häuser nicht den Behörden überlassen wird. Das aber lehnen die Frauenorganisationen ab. Denn sie kennen den Geist der AKP: Bei einem Besuch in Ankara musste sich die Vertreterin einer Frauenorganisation von einem AKP-Funktionär sagen lassen, Frauenhäuser seien schlecht für die Gesellschaft. Denn sie ermutigten Frauen dazu, ihre Familien zu verlassen.

Fest steht: In der Türkei zählt im Alltag die Familie immer noch mehr als die ­Persönlichkeitsrechte einer Frau. Und ­Erdogan tut nichts, um das zu ändern. Im Gegenteil. Hört man ihn reden, wird deutlich, dass er Frauen noch stärker an der Teilhabe am öffentlichen Leben hindern will. In seiner Weltsicht zählt nur die Mutterschaft. Folgerichtig hat er das Frauen­ministerium jetzt dem Familienministerium einverleibt. Engagement für Frauen sei ­„feministische Propaganda“, und „Verhütung ein Mittel der Feinde, mit dem die Türkei geschwächt werden soll“.

Wenn es nach Erdogan geht, hat jede Türkin drei Kinder – nicht höchstens, sondern mindestens. Im Jahr 2008 formulierte er seinen Baby-Traum zum ersten Mal, ausgerechnet am Weltfrauentag. Danach tauchten in den Straßen Istanbuls Banner feministischer Organisationen auf mit den Worten: „Mach sie dir selbst, deine eins, zwei, drei kleinen Türken.“ In der Provinz meldete sich ein Gouverneur und AKP-Mitglied zu Wort. Jede Braut, die verspreche, drei Kinder zu gebären, bekomme ihr Hochzeitskleid von seiner Behörde geschenkt, erklärte er und schaffte es damit in die Schlagzeilen.

Die türkischen Frauenorganisationen kämpfen seit Jahrzehnten dafür, traditionelle Familienstrukturen zu verändern. Zwölf Millionen Kinder zählt das Land, jedes neunte geht nicht zur Schule, obwohl es im schulfähigen Alter ist. Stattdessen tragen 125000 Kinder tagtäglich zum Einkommen ihrer Familien bei. 37 Prozent der Mädchen heiraten, bevor sie volljährig sind. Es dürften bald noch mehr werden, denn ein neues Gesetz hat jetzt die Schulpflicht auf zwölf Schuljahre angehoben, erlaubt aber, dass Kinder nach acht Schuljahren zu Hause unterrichtet werden können. Eltern könnten dies als Vorwand nutzen, um ihre Töchter zu Hause zu behalten und früh zu verheiraten, fürchten Frauenrechtlerinnen.

Die AKP will die traditionellen Geschlechterrollen. Eine institutionalisierte Kinderbetreuung gibt es nicht, Frauen die Karriere machen wollen, sind auf die Hilfe der Großfamilien angewiesen. Die aber funk­tioniert nicht mehr überall. Die türkischen Frauen reagieren. Im Durchschnitt bringen sie heute noch 2,2 Kinder zur Welt – und haben laut einer Studie der Istanbuler BahçeŞehir Universität damit immer noch mehr Nachwuchs, als sie sich wünschen.

Die Wut, mit der Tausende von Frauen jetzt auf Erdogans Vorstoß zur Reglementierung der Abtreibung reagieren, ist verständlich: „Hände weg von meinem Körper, AKP“ und „Abtreibung ist meine eigene Wahl, die Methode der Männer ist Mord“ lauten die Slogans, mit denen sie seit Wochen demonstrieren. Im Jahr 2005 hatte die AKP das bestehende ­Abtreibungsrecht, dem zufolge ein Schwangerschaftsabbruch bis zur zehnten Woche legal ist, noch bestätigt. Nun aber ist Abtreibung für Erdogan plötzlich „Mord“, er will sie gesetzlich verbieten. Sie soll nur noch zugelassen werden, wenn die Schwangerschaft das Leben der Frau bedroht. Sogar Vergewaltigung soll nicht mehr als Grund gelten.

Die Schriftstellerin Elif Shafak brachte das Dilemma der türkischen Frauen in der Zeitung Habertürk auf den Punkt: In der Türkei seien Inzest, Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen in der Ehe weit verbreitet, und immer würden die Männer ihre Hände in Unschuld waschen, während die Frauen stigmatisiert, in den Selbstmord getrieben oder umgebracht werden. „In einem Land, in dem all diese Dinge passieren, in einer Kultur, in der immer und immer wieder die Frauen für alles zu bezahlen haben, würde ein Gesetz gegen Abtreibung nicht bedeuten, dass tatsächlich nicht mehr abgetrieben wird. Ganz im Gegenteil, die Abtreibungen würden nur in den Untergrund abgedrängt werden.“ Das Recht auf Abtreibung zu annullieren bedeute, Frauen Schritt für Schritt zu töten.

In der Arabischen Welt haben die meisten Politiker inzwischen begriffen, dass sich das türkische Modell nicht einfach auf ihre Länder übertragen lässt. Die Abwesenheit von Demokratie und Pressefreiheit spielen dabei allerdings genauso wenig eine Rolle, wie die Rechte der Frauen. Im Gegenteil: Die Türkei ist diesen Kräften immer noch zu säkular, darum geht es. Doch Erdogan ist dabei, aufzuholen. Wenn Entdemokratisierung und Islamisierung in der Türkei in dem Tempo weitergehen, wird sie bald wirklich ein Modell sein. Für die ­Gottesstaatler.

Die Autorin ist Redakteurin der FAZ und spezialisiert in den Regionen Afrika und Naher Osten.

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