Wie die Berichterstattung die Ereignisse zunehmend verschleiert

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Am 11. März um 11 Uhr kommt die erste Meldung in den Nachrichten des Deutschlandfunks (DLF): "In einer Realschule im baden-württembergischen Winnenden hat es einen Amoklauf gegeben." Wenig später hatten die überwiegend männlichen Gatekeeper des deutschen Mediensystems die Sicherungen weitgehend entfernt: für das Megaspektakel "Amok". Held: Tim K., ein mordender Jungmann. Wie nicht anders zu erwarten, zierte der Täter die Titel von Bild und Der Spiegel – als netter Junge von nebenan. Spätestens seit dem Mediengau von Gladbeck 1988 wissen wir, wie auch bei ARD und ZDF alle professionellen Sicherungen durchknallen, wenn Gier nach dem Hype Einzug hält. Das geschah diesmal ebenfalls, unter fortwährender Anrufung von "Amok" und des "Unfassbaren".

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Die verantwortliche Mannschaft des Deutschlandfunk stand in diesen Tagen den Herren des Boulevards in nur wenig nach. Als überregionaler öffentlicher Nachrichtensender hat der DLF im inter-media-agenda-setting seriöser Themensetzung besondere Bedeutung.

Doch die Beantwortung der sechs journalistischen Ws – Wer? Wann? Wo? Wie? Wen? Warum? Und was sind die möglichen Folgen? –, nach denen in seriöser Nachrichtengenerierung so genannte Gatekeeper ausgewählte Fragmente der Ereignisse in den Stand von Nachrichten befördern, geriet beim DLF ebenfalls dürftig.

In allen ab 12 Uhr folgenden Nachrichtensendungen wird der Täter am Tag der Tat zum "Wer", zum Hauptakteur, während die Ermordeten unsichtbar bleiben. Bis 16 Uhr erwähnen die DLF-Nachrichten nur "Schüler" und "Lehrer", dann tauchen in den Folgesendungen bisweilen "drei Lehrerinnen" auf. Nicht ein einziges Mal wird in den bis einschließlich 15. März gesendeten DLF-Nachrichten die Gruppe der Hauptbetroffenen genannt: die der "Schülerinnen".

Da die weiblichen Opfer also als das "Wer" semantisch vernichtet, ausgeschaltet sind, muss nicht mehr nach dem "Warum" gefragt werden: "Warum" der Täter mit gezielten Kopfschüssen Frauen und Mädchen exekutiert hat. Unerwähnt bleiben außerdem die Fakten für das "Wie" in den DLF-Nachrichten: die schwarze Bundeswehr-KSK-Montur, die Unmengen mitgeführter Munition, die gezielten Kopfschüsse. Alles eindeutige Belege für sorgfältige Planung, die gegen einen (unbesonnenen) "Amoklauf" sprechen.

Neben den eher formalen Kriterien der sechs Ws sind die Faktoren "Sensation", "Prominenz" und "Negativismus" für die Art der Inszenierung entscheidend. Denn Nachrichtenentscheidungen sind abhängig von durch Machtverhältnisse geprägte Sichtweisen. Im Fall der Nachrichtengenerierung ist also ganz allgemein zu fragen: In welchem Umfang gerät der Machtkonflikt zwischen Männern und Frauen sowie dessen gewalttätige Dimensionen in die Nachrichten, also wie wird er konkret auf Basis welcher Recherche dargestellt?

11 von 12 gezielt Getöteten in der Realschule von Winnenden sind weiblich (fünf überlebten). Doch entscheidend ist der gesellschaftliche Status. Einen hohen Status haben Frauen und deren Lebenswelten jedoch in aller Regel nicht. Wäre dies so, müsste Frauen als Opfer real existierender männlicher Gewalt tagtäglich die Seite eins jeder Zeitung, jedes Aufmachers in den Nachrichtensendungen vorbehalten sein. Denn mindestens ein Drittel der auf diesem Planeten lebenden Frauen erfahren – nach konservativen Schätzungen – männliche Gewalt. Begeht jedoch ein einzelner Mann in spektakulärer Weise ein Verbrechen, in dem Frauen zu Opfern werden, dann wird das zur Sensation, im Sinne eines diffusen "Negativismus".

Im Fall des Mädchen- und Frauenmordes von Winnenden entwickelten sich statt des zentralen Themas umgehend folgende Teilthemen im Mediensystem: die angebliche Benachteiligung von Jungen, sowie der angebliche "Bekennerbrief", gefolgt vom Rätseln über Depressionen und therapeutische Behandlung. Und immer wieder erklang Geraune über das "Unerklärliche".

Doch zurück zum Deutschlandfunk. Bereits am 12. März hatte sich der Sender in die Kombination "Täter war in psychiatrischer Behandlung und kündigte Pläne im Internet an" verbissen. Und das in einer Ausführlichkeit, die sonst nur aus der Berichterstattung zum 11. September, über Hurrikans, Wahl des US-Präsidenten etc. bekannt ist. So wurde am 12. März um 14 Uhr als Aufmacher eine Meldung verlesen, die einen Umfang von 947 (!) Zeichen hat. Gegen Ende heißt es: "Die Staatsanwaltschaft Stuttgart teilte mit, er habe sich mit Gewaltspielen beschäftigt – so wie viele Jugendliche in diesem Alter. Der Amokschütze hatte gestern insgesamt 15 Menschen getötet, darunter neun Schüler. Anschließend erschoss er sich."

Diese Nachricht lief mehrfach, ohne Recherche, ohne Beantwortung der journalistischen Ws, ohne einen einzigen Hinweis auf die Opfer. Merkwürdigerweise wurde eine Information des Staatsanwaltes vollständig unterdrückt: die Sicherstellung von "Pornobildern". Warum diese Zensur von Fakten?

Am Wochenende bekam die Kaltschnäuzigkeit des Vaters von Tim K. Nachrichtenstatus. Unter Androhung juristischer Schritte wollte er etwas klarstellen. Auch der Deutschlandfunk bot ihm ein Forum. So war am 14. März noch in den 22 Uhr-Nachrichten zu hören: "Das Motiv ist weiter unklar. Die Eltern des Täters bestritten unterdessen, dass ihr Sohn psychotherapeutisch behandelt wurde. Die Ermittler hatten zuvor von mehreren Besuchen in einer Spezialklinik gesprochen."

Am selben Tag präzisierte der Staatsanwalt den Fund der "Pornobilder", die er drei Tage zuvor ohne jegliche Kritik in den Medien als "normal" bewertet hatte: 200 seien es, davon 120 "Bondage". Doch das verschwiegen die DLF-Nachrichten. Warum? Schon eine kleine Recherche hätte ergeben: Die Eingabe von "Bondage" bei Google zeigt 41.800.000 Treffer an. Jedes Kind hat unter "Bondage" sofort Zugang zu sexualisierten Gewaltexzessen und Folter von Frauen.

Unbeantwortet bleibt auch die Frage: Warum hatte Tim K. 120 "Bondage"-Bilder auf dem PC gespeichert? War ihm der Zugriff im Netz nicht schnell genug? Wie hat er die Bilder abgespeichert, in einer Datei und wenn ja, mit welcher Ordnung? Oder stammen die "Bilder" von außerhalb des Netzes besorgten DVDs? Enthält das "Bondage"-Material vielleicht sogar Bestandteile von Snuff (das Töten von Frauen)? Warum unterließen dazu bis heute alle Medien und auch ein öffentlicher Sender wie der DLF jegliche Recherche?

Dürfen wir bei den 120 Bondage-Bildern des Tim K. und knapp 42 Millionen Treffern im Internet wirklich keine Verbindung zum allgegenwärtigen Frauenhass ziehen? Warum wurde keine einzige Forscherin, kein Forscher zum Frauenhass in den DLF-Nachrichten zitiert?

Stattdessen bekamen die HörerInnen am Sonntag in der Sendung "Information und Musik" vom 15. März pure Herrenphantasie von Rüdiger Safranski geboten. Der Ex-Maoist und "Experte für das Böse" qualifizierte sich 1994 in dem sexistisch-nationalistischem Manifest "Die selbstbewußte Nation" mit dem Beitrag "Destruktion und Lust". Seither ist er als Jäger der "Political Correctness" in rechtskonservativen Medien ein gefragter Mann. Im Deutschlandfunk durfte der Dämonologe am 15. März gleich zwei Mal innerhalb der Sendung mit jeweils knapp sieben Minuten Sendezeit seine persönlichen Thesen von der "Entriegelung" zum Fall Winnenden darlegen: über Gewalt, die sich normalerweise in der Phantasie aufhalte, was normal sei, bis dann der Riegel fällt, usw. etc.

Dabei sind junge Massenmörder, die Schulen heimsuchen, um überwiegend Mädchen und Frauen zu töten, schon länger in der Forschung ein Thema. So hat zum Beispiel der US-Medienwissenschaftler Douglas Kellner, einer der prominentesten Vertreter der "Cultural Studies", 2008, die vielbeachtete Untersuchung "Guys and Guns Amok: Domestic Terrorism and School Shootings" vorgelegt. Eingehend analysiert der Forscher darin konkrete Fälle von Massenmorden sowie die Hilfsfunktion der Medien bei der Konstruktion männlicher Identitäten. Für Kellner wurzeln solche Verbrechen, die er "Inlandsterrorismus" nennt, "in einer umfassenderen Krise der Maskulinität, die sich in jeglicher Form manifestiert: ob im Töten von MitschülerInnen über die sich pandemisch ausbreitende Gewalt gegen Frauen – und nicht zu vergessen im eskalierenden Militarismus und seiner Effekte auf allen Ebenen der Gesellschaft". Sehr klar arbeitet der US-Forscher die Mitverantwortung der Medien heraus: am Trend zum "Infotainment" sowie an den Möglichkeiten neuer Medien, solche Massenmorde als Spektakel zu inszenieren.

Tag sieben nach Winnenden: Der Deutschlandfunk treibt eine neue Sau durchs mediale Dorf: das "Unfassbare" von Amstetten. Im DLF-Morgenmagazin des 16. März überschlägt sich der Moderator, stößt immer wieder "unfassbar" aus. Der wegen Mordes, Versklavung und Vergewaltigung in mehr als 3.000 Fällen angeklagte Josef Fritzl wird ganz im Jargon des Boulevards zum "Monster von Amstetten". Das Martyrium einer jungen Frau, mit zweieinhalb Jahrzehnten Folter, Sklaverei, Vergewaltigung mehr als 3.000 Mal, wird in den Schlagzeilen der DLF-Nachrichten als "Inzestfall" euphemisiert.

Und: als am 7. April ein Mann im Landgericht von Landshut eine Frau öffentlich hingerichtet hat, gleitet der erste Satz der DLF-Nachricht ins vernebelnde Passiv: "Bei einer Schießerei im Landgericht Landshut sind zwei Menschen getötet worden." Wer (ein Mann) hat wen (eine Frau) getötet? Das wird keinesfalls im ersten, also wichtigsten Satz einer Nachricht beantwortet.

In ihrer Nachlese zum medialen Treiben über den Mädchen- und Frauenmord in Winnenden stellt die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch die Abwesenheit kollektiver Scham bei Männern fest. In der Tat: Männern in diesem Land fehlt kollektive Scham; nicht nur darüber, wie der Täter Frauen und Mädchen geplant und gezielt hingerichtet hat, sondern auch darüber, wie sich tagtäglich Millionen von Männern und Jungen in diesem Land mit Gewaltpornografie voll pumpen.

Statt kollektiver Scham erleben wir kollektive Verleugnung. An der Abwehr konkreter Zusammenhänge beteiligen sich nicht nur sexistische Boulevardmedien, sondern auch die so genannte seriöse Presse. Mitte April lagen dem Deutschen Presserat bereits 60 Beschwerden zu Winnenden vor. Da Springer und Spiegel entscheidungsmächtig in der Beschwerdekommission vertreten sind, wird sich Kritik in Grenzen halten. Doch das sollte öffentliche Funk- und Fernsehanstalten nicht davon abhalten, ihre RundfunkrätInnen damit zu beschäftigen. Sie werden schließlich nicht nur von Bürgern, sondern ebenfalls von Bürgerinnen finanziert.

Die Medienwissenschaftlerin promovierte über "Macht Medien und Geschlecht", ist Verfasserin mehrerer inter-media-agenda-setting-Studien und unterrichtet an der Universität Klagenfurt.

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