Die hat ja nichts dagegen gehabt!

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Der Mann hatte sich an seine behinderte Arbeitskollegin angeschlichen. Die bemerkte nichts von der Gefahr – sie ist nahezu gehörlos. Dann stürzte sich der Angreifer von hinten auf die Frau und vergewaltigte sie. Es war ihr nicht möglich, „Nein!“ oder „Hilfe!“ zu schreien – sie kann nicht sprechen. Bei der Gerichtsverhandlung fragte der Richter: „Ja, wie haben Sie Ihrem Kollegen denn deutlich gemacht, dass Sie den Geschlechtsverkehr nicht wollten?“ Tja, wie hätte der Mann auch ahnen können, dass seine Kollegin nicht von ihm vergewaltigt werden wollte?

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In diesem Fall wurde der Täter verurteilt. Die gehörlose und sprachbehinderte Frau hatte die Richter davon überzeugen können, dass sie ihren Unwillen durch Gestikulieren deutlich gemacht hat. „Aber ich kenne Fälle, wo sprachbehinderte Frauen Opfer waren“, erzählt Ulrike Scheen, die in der Düsseldorfer Frauenberatungsstelle seit fünf Jahren behinderte Frauen berät, „da wurde das Verfahren gar nicht erst eröffnet.“
 
Laut Strafgesetzbuch gibt es sogenannte „widerstandsunfähige“ Opfer – zum Beispiel solche, die im Koma liegen oder stark alkoholisiert sind. Behinderte Frauen werden von RichterInnen oft als „widerstandsunfähig“ betrachtet – wie das Opfer mit seiner Hör- und Sprachbehinderung. Auch  geistig behinderte Frauen und Mädchen gelten in der Regel als Opfer, die dem Täter – angeblich – keinen deutlichen Widerstand entgegensetzen können. Und da macht das Gesetz einen Unterschied: Wer eine „widerstandsunfähige Person“ vergewaltigt oder missbraucht, wird – nein, nicht härter bestraft, weil es sich um eine besonders perfide Tat handelt – der Gesetzgeber sieht den Fall vielmehr umgekehrt: Wer eine „widerstandsfähige Person“ vergewaltigt oder missbraucht, begeht ein „Verbrechen“ – wer sich an einer „widerstandsunfähigen Person“ vergeht, macht sich nur eines „Vergehens“ schuldig. Bis zum Sommer 2003 wurden die Täter weniger hart bestraft: Der § 179 des Strafgesetzbuchs sah für die Vergewaltigung einer „Widerstandsunfähigen“ eine Mindeststrafe von einem Jahr vor, bei „normaler“ Vergewaltigung laut § 177 drohen dem Täter mindestens zwei Jahre Gefängnis.

„Das Gesetz ging davon aus, dass der Täter in diesem Fall weniger kriminelle Energie aufwenden muss“, erklärt Ulrike Scheen. Aus dem bekannten Grundsatz „Eine Frau meint Ja, wenn sie Nein sagt“ wurde im Falle behinderter Frauen: „Eine Frau meint Ja, wenn sie nicht Nein sagen kann.“ Jahrelang waren behinderte Frauen gegen diese Ungeheuerlichkeit auf die Barrikaden gegangen.

Nachdem man die behinderten Frauen bei der Reform des Sexualstrafrechts 1998 schlicht vergessen hatte und die Angleichung des Strafmaßes auch unter Rot-Grün vier Jahre lang auf dem Abstellgleis gelandet war, brachte die neue SPD-Justizministerin Brigitte Zypries schließlich eine Gesetzesreform auf den Weg. Seit Juli 2003 gilt: Die Mindeststrafe für Vergewaltigung liegt bei zwei Jahren – egal, ob das Opfer behindert ist oder nicht. Einziger Wermutstropfen: Die Vergewaltigung bleibt ein „Vergehen“. Und: Das Strafmaß für sexuellen Missbrauch liegt bei „Widerstandsunfähigkeit“ nach wie vor niedriger, nämlich bei sechs Monaten – statt einem Jahr.

Die WHO geht davon aus, dass behinderte Frauen und Mädchen doppelt so häufig Opfer sexueller Gewalt werden wie nicht behinderte. Am schlimmsten betroffen sind geistig behinderte Frauen. Eine österreichische Studie, bei der Frauen in Behinderteneinrichtungen nach ihren Gewalterfahrungen befragt wurden, ergab: Zwei Drittel der überwiegend geistig behinderten Frauen hatten sexuelle Belästigung und Gewalt erlebt.

Kein Wunder – die Opfer stehen in der größtmöglichen Abhängigkeit zum Täter: Sie leben im Heim, müssen sich von ihm versorgen lassen – auch körperlich. Sie sind es gewohnt, dass man sie nicht ernst nimmt. Und bei ihnen rechnen sich die Täter das geringste Risiko aus: Wo eine geistig behinderte Klägerin, da kein Richter. Wer glaubt „so einer“ schon?

„Geistig behinderte Frauen sind manchmal körperlich sehr zugewandt und umarmen zum Beispiel ihre Betreuer häufig“, weiß Ulrike Scheen. „Und die behaupten nach einem Missbrauch dann: ‚Die hat das doch gewollt!’ Aber wir machen die Erfahrung, dass auch die Frauen mit geistiger Behinderung sehr wohl wissen, was sie wollen und was nicht.“ Im Beratungszimmer von Ulrike Scheen erzählen sie „von ihren Alpträumen und von ihrer immensen Angst vor den Betreuern.“

Behinderte Frauen sitzen zwischen den Stühlen. In den Behinderten-Beratungsstellen finden sie kaum Fachfrauen für sexuelle Gewalt – die Frauenberatungsstellen sind dagegen selten barrierefrei und nicht auf (geistig) behinderte Klientinnen eingestellt. Eine der wenigen Ausnahmen: Die Frauenberatungsstelle Düsseldorf.

Vor vier Jahren verwandelte eine Baukolonne die Beratungsstelle in einen Ort, den auch Frauen im Rollstuhl oder an Krücken ohne fremde Hilfe aufsuchen können. Und es gibt dort eine spezielle Ansprechpartnerin – bis zum Jahreswechsel war das die selbst gehbehinderte Ulrike Scheen, demnächst wird es eine neue, ebenfalls behinderte Fachfrau sein. Der Bedarf ist groß: „Die Frauen kommen aus ganz Nordrhein-Westfalen.“ 80 Prozent ihrer Klientinnen, schätzt die Expertin, haben sexuellen Missbrauch erlebt. „Sie kommen oft zunächst wegen anderer Probleme zu mir und erzählen dann später davon.“ Aber auch Behinderten-Einrichtungen wenden sich immer öfter an die Fachfrau, um sich Ratschläge für ein Präventionskonzept in ihrer Tagesstätte oder ihrem Heim zu holen. „Es tut sich langsam was.“

Auch auf Gesetzesebene gibt es weitere Erfolge zu verzeichnen. So müssen beispielsweise Gerichte seit Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes im Sommer 2002 für behinderte Zeuginnen auf Staatskosten Gebärdensprachdolmetscher bereitstellen oder Schriftstücke in Blindenschrift übersetzen. Und das Sozialgesetzbuch IX sieht seit zwei Jahren vor, dass ÄrztInnen behinderten Frauen (und Männern) „Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins“, sprich: Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurse verschreiben dürfen.

Gerade geistig behinderte Frauen, beobachtet Ulrike Scheen, werden von ihren Eltern auch als Erwachsene wie unmündige Kinder behandelt. Das macht das „Nein“ sagen nicht leichter. Selbstverständlich siezt Ulrike Scheen ihre Klientinnen. „Ich spreche sie als gleichwertige, erwachsene Frauen an. Und dann werden sie ganz groß.“ So wie die sechs Mädchen, die jetzt einen Betreuer verklagten, der sie während einer Jugendfreizeit missbraucht hatte. Trotz ihrer geistigen Behinderung konnten sie der Polizei erklären, dass ihnen Gewalt angetan wurde. Diesmal wurde das Verfahren eröffnet. Und die sechs behinderten Mädchen treten gerade den Beweis an, dass sie sehr wohl fähig sind zum Widerstand.

C.L., EMMA 2/2004

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