Alice Schwarzer schreibt

Gewalt & Macht

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Seit einigen Jahren existieren in westlichen Demokratien Zentren für Folteropfer, in denen Menschen aus politischen Diktaturen an Leib und Seele behandelt werden. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind oft naheliegend. Wurde zum Beispiel ein Mensch mit zahnärztlichen Techniken gefoltert – Ärzte sind unverzichtbare Kollaborateure der modernen Folter – wird er niemals mehr eine Zahnarztpraxis betreten können, ohne mit Wucht in sein Trauma zurück geschleudert zu werden.

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Was nun bedeutet das für Frauen, die Opfer sexistischer Folter sind? Ihre Folterkammern sind keine fernen Bunker, sondern die eigenen Wohnungen, ist die eigene Küche oder das Schlafzimmer. Und das Leid, das ihnen in Köln oder Kabul, in London oder Lagos zugefügt wird, widerfährt ihnen nicht durch Fremde, sondern durch Vertraute: Es sind die eigenen Väter, Brüder, Ehemänner, die es ihnen antun.

Sicher, die Lage von Frauen in den westlichen Demokratien ist heute unvergleichlich besser als die in so manchen archaischen Männergesellschaften Asiens, Arabiens oder Afrikas. Doch auch im Westen kennt jede dritte bis zweite Frau Gewalt aus eigener Erfahrung; werden Frauen geschlagen, missbraucht, vergewaltigt – kurzum: gefoltert. Auch im Westen kann die „verletzte Männerehre“ eine Frau das Leben kosten. Und in der ganzen Welt ist laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Männergewalt die Todesursache Nr. 1 von Frauen, noch vor Krebs oder Aids.

Es hat lange gedauert, bis diese bitteren Wahrheiten öffentlich wurden. Als wir Feministinnen sie vor rund 30 Jahren wieder einmal aussprachen (so wie vor uns schon die Erste Frauenbewegung im 19. Jahrhundert), da wurden wir ausgelacht. Private Gewalt? Missbrauchte Kinder? Vergewaltigung in der Ehe? Lächerlich. Hysterische Fantasien. Nackter Männerhass. Doch inzwischen kennen wir sie alle: die Bilder, die Statistiken, die überfüllten Frauenhäuser. Und dabei beginnen wir erst allmählich, das ganze Ausmaß der Zerstörung zu ahnen, nach innen wie nach außen.

Es hat keinen Zweck, länger die Augen davor zu verschließen: Wir Frauen sind das gefolterte Geschlecht.

Dass diese allgegenwärtige, globale Gewalt gegen Frauen überhaupt möglich ist, hat etwas mit der Macht der Männer und der Ohnmacht der Frauen zu tun und ihrer Entwertung. Denn „so etwas“ machen Menschen nicht mit Menschen. „So etwas“ machen Menschen nur mit Untermenschen. Mit Schwarzen. Oder Juden. Oder Frauen. Je nachdem, wer vom Stärkeren gerade zum Minderwertigen erklärt wird. Eine Sorte Mensch allerdings ist seit Jahrtausenden weltweit vom Faustrecht betroffen: die Frauen.

Die Demütigung der Frauen kommt von weit her. Manche Frauen bricht sie ganz, andere überschattet, wieder andere belauert sie. Denn auch die Frau, die selber keine Foltererfahrung hat, hat eine gefolterte Mutter oder Großmutter. Und auch sie kann an jedem Tag, in jeder Stunde ihrem Vergewaltiger begegnen. Die Wurzeln der Folgen dieses kollektiven Traumas reichen tief: In jeder Frau lauert das Wissen, dass es möglich ist. Und auch die stärkste, stolzeste Frau kann gegen ihren Willen in diese inneren Abgründe zurückfallen oder zurück gestoßen werden.

Women are powerful! So lautete ein stolzer Slogan beim Aufbruch der Frauen in den 1970er Jahren. Das stimmt. Aber Frauen sind auch schwach. Weil verletzt, weil gedemütigt, weil zweifelnd. Für die modernen Frauen gilt es, den aufrechten Gang zu gehen, ohne den lauernden Abgrund zu übersehen; die helle Seite zu leben, ohne die dunkle zu leugnen.

Dies ist heute leichter und schwerer zugleich als für unsere Mütter. Denn einerseits gibt es mehr Rechte und eine größere Selbstständigkeit. Gleichzeitig aber gibt es den Backlash, rüsten die Gegner der Gleichberechtigung auf. In Demokratien wie Diktaturen propagieren Machos und ihre Komplizinnen den sexualisierten Frauenhass, sprich: die Pornografie. Inzwischen hat die schleichende Pornografisierung – also die Verknüpfung sexueller Lust mit der Lust an Erniedrigung und Gewalt – Mode, Medien, ja die gesamte Kultur erfasst. Verharmlost oder zur „Kunst“ erhöht schwimelt sie längst nicht mehr unter dem Ladentisch, sondern ist allgegenwärtig und vergiftet das Begehren der Männer.

Fortgeschrittenen Kulturen droht der Rückschritt, und hinter ihnen drängen archaische und militarisierte Gesellschaften, die im Namen einer „gerechten Sache“, einer Tradition oder Religion die Gewalttätigkeit der Männer und Friedfertigkeit der Frauen predigen. Dass diese brachialen Männergesellschaften im 21. Jahrhundert in Wahrheit verunsicherte Gesellschaften sind und ihr Konzept der männlichen Überlegenheit längst ins Wanken geraten ist, macht es nicht besser: Denn nichts ist tödlicher für Frauen als verunsicherte Männlichkeit. Individuell wie kollektiv. Und je rigider die Geschlechterrollen sind, je strikter die gesellschaftliche Trennung von Frauen und Männer ist, je stärker die Differenz zwischen den Geschlechtern betont wird – umso größer ist die Gewalt gegen Frauen.

Umso bemerkenswerter, dass der Welt größte Menschenrechtsorganisation, amnesty international (ai), gerade jetzt eine internationale Kampagne gegen die Gewalt gegen Frauen ausruft. Damit übt amnesty erstmals einen historischen Schulterschluss mit den Feministinnen. Was auch, aber nicht nur, mit der neuen Spitze zu tun hat. Für die kosmopolitische ai-Präsidentin Irene Khan – geboren in Bangladesch, studiert in England, verheiratet mit einem Deutschen – ist Gewalt gegen Frauen der „empörendste Menschenrechtsskandal unserer Zeit“ und „durch nichts zu rechtfertigen“. Schon gar nicht durch eine „Unterschiedlichkeit der Sitten“ oder „kulturelle Differenz“. Für die Muslimin sind die Menschenrechte der Frauen „universal und unteilbar“: „Alle Menschen haben Anspruch auf alle Menschenrechte. Weder Kultur noch Tradition machen die Verletzungen grundlegender Menschenrechte der Frau entschuldbar.“

Solche Töne wären bis vor kurzem noch undenkbar gewesen bei amnesty. Denn auch ai hielt, wie die Mehrheit der Linken, lange starr an einem Politikverständnis fest, nach dem „politische Opfer“ nur die Opfer von Staaten sind – Bürgerkriegsopfer und die familiärer Gewalt jedoch „Privatsache“. Was kein Missverständnis war. Schließlich schlägt auch so mancher selbstgerechte Menschenrechtler zu Hause seine Frau. Da kam die Verschleierung der Frauenrechte im Namen des Islam im Orient für den emanzipations-strapazierten Mann im Okzident gerade recht. Erlaubt die ihm doch mindestens den Hinweis zu Hause, dass es den Frauen woanders noch ganz anders gehe ...

Umso begrüßenswerter ist die Entschlossenheit, mit der amnesty international sich jetzt diesem Tabuthema zuwendet. Die MenschenrechtlerInnen können dabei auf das weltweite Engagement von Feministinnen außerhalb wie innerhalb ihrer Organisation aufbauen: Die Informationen über das Ausmaß der Männergewalt in den Schlafzimmern und auf den Schlachtfeldern liegen vor. Die Analysen über die Brutalisierung von Männern in militarisierten oder gar kriegführenden Staaten – vom Iran über Russland bis Amerika – und deren Auswirkungen auf Frauen und Kinder sind gemacht. Das Wissen, dass Männer, die in Kriegen oder Bürgerkriegen „für die gerechte Sache“ gekillt haben, zu Hause nicht aufhören, in eigener Sache zu wüten, ist da. Auch darüber, dass zwar die ganzen Familien Opfer dieser Männer werden, aber die Töchter sich mit den Opfern identifizieren – und die Söhne mit den Tätern. So wird nicht nur das Opfersein von Frauengeneration zu Frauengeneration weiter getragen, sondern auch das Tätersein von Männergeneration zu Männergeneration.

Es ist also existenziell, dass auch Männer sich solidarisch und offensiv dem Kampf gegen die Männergewalt anschließen. amnesty fordert nicht nur Konsequenzen auf globaler, internationaler, nationaler und lokaler Ebene, sondern wendet sich auch ganz explizit an jeden Einzelnen, vor allem an die Männer.

Ohne Gleichberechtigung keine Gewaltfreiheit; ohne Ächtung der sexuellen Gewalt keine Ächtung der allgemeinen Gewalt; ohne Ende des Geschlechterkrieges kein Ende der Kriege.

Es wird ein langer Weg sein. Denn die Gewalt ist der harte Kern der Macht. Ohne Gewalt, ohne ihre Ausübung bzw. Androhung, kann es keine Machtverhältnisse geben. Das gilt zwischen den Völkern oder Kulturen ebenso wie zwischen den Geschlechtern. Die Gewalt von Männern gegen Frauen ist das Fundament, auf dem alle anderen Machtverhältnisse stehen. Wird dieses Fundament ernsthaft erschüttert, stürzt das ganze Terrorgebäude in sich zusammen wie ein Kartenhaus – und sind Küche und Schlafzimmer endlich auch für Frauen und Kinder keine Orte des Horrors mehr, sondern Horte des Friedens.

www.amnesty.de – Zum Weiterlesen: Judith L. Herman „Die Narben der Gewalt“ (Junfermann) und Alice Schwarzer „Der große Unterschied“ (Fischer, 9.90 €).

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