Cybermobbing gegen alle

© Highwaystarz-Photography
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Oft hat Lea (Name geändert) nachts wachgelegen und gegrübelt: „Wer macht so etwas?“ Und: „Was habe ich falsch gemacht?“

Am Anfang glaubte das Mädchen noch an einen bösen Scherz, als sie sich bei schülerVZ einloggte und dort plötzlich in ihrem Profil las: „Du bist so hässlich!“ -Jemand hatte das Passwort für ihren Account geknackt. Kurz darauf folgten massive Drohungen. „Ich war total schockiert“, erzählt Lea.
Die damals 13-Jährige sprach mit ihrer Vertrauenslehrerin, die das Mädchen zu den Eltern schickte und diese an die Polizei verwies. Es stellte sich heraus: Die Übeltäterin war ein Mädchen, das im selben Sportverein aktiv war. Heute weiß die inzwischen 16-Jährige: „Wir fanden beide den gleichen Jungen toll, damit konnte sie nicht umgehen.“

Im Zeitalter von Facebook, WhatsApp & Co. hat sich Cybermobbing zu einem ernsthaften Problem an Schulen entwickelt: Studien gehen davon aus, dass jeder dritte Jugendliche schon einmal im Netz beleidigt oder bloßgestellt wurde.

Lea erzählt von ihrer Freundin Sophie, die ihrem Freund ein Nacktfoto von sich aufs Handy geschickt hatte: „Das machen viele Mädchen.“ Entweder wollen sie zeigen, wie toll sie aussehen – oder sie geben dem Druck ihres Freundes nach. Als Sophie später Schluss machte, war der Junge gekränkt, wollte sich rächen: Er postete das Nacktbild auf Facebook und verschickte es über WhatsApp. „Die ganze Schule hat es gesehen“, sagt Lea. „Darunter einige Lehrkräfte, auch Leute aus dem Nachbarort.“ Sophie wurde als „Schulschlampe“ abgestempelt und sei bei allen „unten durch“ gewesen.

Sophie fing an, mit einem Messer die Haut zu ritzen. Lea konnte ihre Freundin überreden, sich den Eltern anzuvertrauen. Jetzt macht die 16-Jährige eine Therapie.

Die Jugendliche kennt noch weitere Beispiele aus ihrer Gesamtschule in Hessen: In einer 8. Klasse sei ein Mädchen im Netz zuerst massiv beleidigt und dann ausgegrenzt worden. Die gemobbte Schülerin wurde aus der WhatsApp-Klassengruppe ausgeschlossen, auf Facebook lud jemand zu einer „Abrissparty“ bei ihr Zuhause ein: Abends standen mehrere Jugendliche vor ihrer Haustür, klingelten oder riefen auf ihrem Handy an.

Auch Lehrkräfte sind Opfer von Cybermobbing-Attacken. Immer wieder kommt es vor, dass sie im Internet beschimpft, verunglimpft und gedemütigt werden. So finden sich auf YouTube wacklige Videos, die Jugendliche heimlich mit ihrem Handy im Klassenzimmer gefilmt haben. Beispiel: Eine Lehrerin marschiert schnurstracks auf einen Schüler zu, beugt sich über den Tisch und brüllt aus voller Kehle: „Das Handy kommt weeeeeeg!“ Der kurze Film wurde 28.500 Mal angeklickt, darunter standen beleidigende Kommentare. Das Prinzip ist oft ähnlich: Schülerinnen und Schüler provozieren ihre Lehrkräfte so lange, bis diese ausflippen, machen davon Fotos oder Videos – und stellen diese ins Netz.

In Leas Klasse wurde der Physiklehrer im Netz lächerlich gemacht. Wenn er im Unterricht „komisch“ guckte, machten Mitschüler heimlich peinliche Schnappschüsse. Die Bilder, von blöden Sprüchen begleitet, gingen über WhatsApp an die gesamte Klasse. Einige fanden das witzig, andere -reagierten nicht. Bis sich Lea und einige andere ein Herz fassten und ihre Klassenlehrerin informierten. Es kam zur Aussprache, die Jugendlichen wurden aufgefordert, sämtliche Fotos auf ihren Handys sofort zu löschen. Außerdem mussten sich alle Schülerinnen und Schüler bei dem bloßgestellten Lehrer entschuldigen. „Er war sehr verletzt“, sagt Lea, „und richtig wütend.“

Sozialpsychologin Catarina Katzer vom „Bündnis gegen Cybermobbing e. V.“ sagt: „Das große Publikum macht die psychischen Ausmaße so dramatisch.“ Früher hätten nur die Klassenkameraden mitbekommen, wenn ein Schüler gehänselt wurde. Heute könne jeder das Nacktfoto einer Mitschülerin auf Facebook sehen. „Mobbing in der Schule ist schlimm“, so die Sozialpsychologin, „aber es hat ein Ende.“ Das sei beim Cybermobbing anders: Selbst wenn ein cybergemobbtes Mädchen in seiner Not die Schule wechselt, reicht es, wenn die neuen Mitschüler den Namen googeln: Die brüskierenden Fotos tauchen wieder auf, der Ruf ist ruiniert: „Die Betroffenen werden das Stigma des Opfers nicht los.“

Auch Lügen werden häufig online in die Welt gesetzt – zum Beispiel, dass -„Julia auf bestimmte Sexpraktiken steht“, „Lisa in ihren Lehrer verknallt“ oder „Leon schwul ist“. Die Software macht es auch leicht, Bilder mit ein paar Klicks zu fälschen. Davon betroffen sind auch Lehrkräfte. Sie werden im Netz zum Beispiel als Nazis dargestellt, ihre Fotos mit rechten Parolen unterlegt. Das Opfer gerät in die schwierige Situation, sich rechtfertigen zu müssen. Das Problem: „Es bleibt immer etwas hängen.“

Das gilt auch für Denunziationen und Verleumdungen auf Bewertungsportalen; etwa, dass ein Lehrer „seine Schüler schlägt“ oder „Mädchen angrabscht“. „Das kann einen Pädagogen in Verruf bringen.“

Im Internet stößt man auch auf Fälle von Schülern, die das Bild ihres Lehrers in ein Videospiel einfügen und ihn so virtuell töten. Oder das Foto einer Lehrerin in einen Pornofilm montieren. Die Hemmschwelle, so Expertin Katzer, sei bei Mobbing im Netz sehr niedrig. Vor allem, weil die Folgen nicht direkt zu spüren sind: „Es geht easy, schnell und anonym.“

In der Realität sind Lehrkräfte meist überfordert, wenn sie es mit Cybermobbing zu tun haben. Viele Kolleginnen und Kollegen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, sagt das GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann. Das gelte übrigens auch, wenn sie selbst im Netz beleidigt oder gedemütigt werden. Ein Problem sei, dass sie sich schämen, mit anderen offen darüber zu reden, so die Gewerkschafterin: „Es ist fast ein Tabuthema.“ Viele Lehrkräfte hätten Angst davor, als schlechte Pädagogen dazustehen. Von den Schülerinnen und Schülern gemobbt zu werden, widerspreche auch dem eigenen Idealbild. „So etwas verletzt zutiefst.“

Die GEW-Expertin kritisiert, dass es zu wenig Beratungsangebote für Lehrkräfte gibt. Auch in der Aus- und Fortbildung müsse der Umgang mit Cybermobbing stärker berücksichtigt werden. „Es tut sich etwas, doch es reicht noch nicht.“ Themen wie Datenschutz oder Persönlichkeitsrechte müssten im Unterricht eine größere Rolle spielen, ebenso wie soziales Lernen. Die Schulen bräuchten konkrete Anleitungen, wie sie Schritt für Schritt bei einem Cybermobbing-Fall vorgehen können.

Auch die pädagogische Leiterin der EU-Initiative Klicksafe, Birgit Kimmel, sieht hier große Defizite. Inzwischen gebe es zwar einiges Präventionsmaterial, doch für den Ernstfall fehle ein Interventionskonzept: Was macht man zuerst? Wer übernimmt welche Aufgaben? Wie werden Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen eingebunden? Müssen strafrechtliche oder zivilrechtliche Schritte eingeleitet werden?

„Eigentlich müsste man ein Notfalltelefon einrichten“, fordert die Medienpädagogin, „damit die Schulen schnell Erste Hilfe leisten können. Doch es gibt viele Fallstricke“, warnt Kimmel. So sei es zum Beispiel nicht ratsam, die Eltern von Täter und Opfer zu früh zusammenzubringen. Meist gehe es dabei nur um Schuldabwehr, das eigentliche Problem gerate in den Hintergrund. Auch werde oft zu schnell die Polizei eingeschaltet, „wenn eigentlich ein pädagogisches Vorgehen notwendig wäre“. Viel wichtiger sei in so einem Fall, gemeinsam mit der Klasse zu überlegen, wie der Täter seine Tat wiedergutmachen könnte.

Häufig sei der Fokus stärker darauf gerichtet, die Täter zu bestrafen, als den Opfern zu helfen. Dabei ist das Wichtigste, dass das Mobbing sofort aufhört. Ist zum Beispiel ein Oben-ohne-Foto im Umlauf, sei zuallererst das betroffene Mädchen zu schützen. Außerdem müssten die Lehrkräfte so schnell wie möglich Kontakt zum Webanbieter aufnehmen – und sich darum kümmern, dass das rufschädigende und verletzende Bild aus dem Netz entfernt wird. Bei Facebook sei das möglich, bei Whats-App nicht. In so einem Fall führe kein Weg daran vorbei, alle Schülerinnen und Schüler explizit aufzufordern, die Bilder auf ihren Smartphones zu löschen. Es gelte, die Jugendlichen für die Verletzlichkeit des Einzelnen zu sensibilisieren – und an ihre Verantwortung zu appellieren.

Diese Erfahrung hat auch Marco Fileccia vom Elsa-Brändström-Gymnasium in Oberhausen gemacht. Als vor Jahren in seinen Klassen die ersten Lehrer- und Schüler-Beleidigungen auf schülerVZ auftauchten und böse SMS versendet wurden, war dem Oberstudienrat schnell klar: „Darum müssen wir uns kümmern.“ Die erste Regel laute: Rede darüber! Ein guter Klassenlehrer merke im Prinzip, wenn in der Klasse etwas schieflaufe oder Mädchen und Jungen gezielt fertiggemacht werden, glaubt Fileccia. Trotzdem kann er gut verstehen, dass Schülerinnen und Schüler ihren Lehrern nicht alles anvertrauen wollten. Gerade wenn es sich um Nacktfotos oder peinliche Gerüchte handelt. „Als Lehrer muss ich Noten -geben, bin hierarchisch in einer ganz -anderen Position.“

Deshalb werden an seiner Schule seit Jahren Jugendliche zu Medienscouts ausgebildet, mit sehr guten Erfahrungen. Die Acht- und Neuntklässler ziehen durch die Klassen, klären auf, geben Tipps – und stehen als Ansprechpartner bereit. „Dadurch ist die Hemmschwelle nicht so hoch.“

Die Schülerinnen und Schüler können die Scouts auf dem Schulhof ins Vertrauen ziehen – ohne dass gleich Lehrkräfte, Eltern oder Polizei etwas davon erfahren. Wichtig sei in jedem Fall, unterstreicht Fileccia, erst einmal Beweise zu sichern und den Zugriff der Täter auf das Opfer zu blockieren, zum Beispiel durch eine neue Handynummer. Darüber hinaus entscheiden die Jugendlichen gemeinsam, wem der Vorfall gemeldet werden muss.

„Die Cybermobbing-Fälle in den vergangenen Jahren haben wir auf diese Art gut gelöst“, berichtet der Pädagoge.

Der Text erschien zuerst in der GEW- Zeitschrift Erziehung und Wissenschaft.

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