Drei Wossis bei EMMA

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EMMA: Anja und Bianca, ihr beide habt uns geschrieben: „Ich bin zwar schon etliche Jahre im Westen, aber eigentlich nie wirklich dort angekommen.“ Lydia, du bist erst ein Jahr im Westen, empfindest ihn aber schon als eine Art „Heimat“. Erzählt doch mal von euren Erfahrungen als „Wossis“.
Anja Lunze „Nicht angekommen“ ist vielleicht etwas hart formuliert. Aber ich würde mich immer noch als Ossi beschreiben. Da leg ich irgendwie Wert drauf. Meine Mutter sagt allerdings immer, ich wäre schon sehr verwestlicht.

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Was meint sie damit?
Anja Das geht bei Kleinigkeiten los. Zum Beispiel, wenn ich bei der Uhrzeit „viertel vor“ oder „viertel nach“ sage.

Was sagt ihr denn?
Anja Nur „viertel“ oder „dreiviertel“. Und ich war sehr froh, als ich entdeckt habe, dass die Bayern das auch machen. Naja, oder dass ich es normal finde, Tomaten auch im Winter zu kaufen. Das käme meiner Mutter nie in den Sinn. Und sehr deutlich wird es auch immer, wenn sich Leute darüber ­unterhalten, was sie früher als Kinder im Fernsehen geguckt haben. Da kann ich bei den Wessis halt nicht mitreden, weil wir erst 1990 Westfernsehen bekommen haben. Bei uns gab es zum Beispiel die Serie „Spuk im Hochhaus“ …

Bianca Kliese Die war toll!

Anja … aber Wessis gucken dann immer ganz ratlos. Oder „Hase und Wolf“ oder „Der kleine Maulwurf“.

Den kennen wir auch! Der kam immer in der „Sendung mit der Maus“. Wir haben also einen gesamtdeutschen Maulwurf.
Bianca Im Osten gehört es sich auch, dass man zur Begrüßung allen die Hand gibt. Nur „Hallo“ oder „Guten Tag“ zu sagen, wird als unhöflich empfunden. Überhaupt fehlt mir im Westen ein bisschen die Herzlichkeit. Ich weiß da oft nicht, woran ich bin. Wenn man von einem Wessi überschwänglich begrüßt wird, weiß man nie: Ist det jetzt ehrlich jemeint oder nicht? Wenn im Osten jemand freundlich zu mir ist, dann weiß ich: Der meint das so. Und wenn der mich nicht mag, dann zeigt der mir das, und zwar sehr deutlich.

Anja An der Uni in Dresden redete man miteinander, wenn man sich kannte und ansonsten ignorierte man sich. Und als ich dann in Heidelberg studiert habe, hab ich mich gewundert, dass morgens immer alle fragten: „Wie geht’s?“ Diesen Smalltalk zu lernen, das fand ich ziemlich mühsam.

Lydia Maras Aber gerade das finde ich hier sehr befreiend. Dass nicht immer gleich tiefgreifende Kontakte entstehen müssen, auch wenn man das gar nicht möchte. In Chemnitz liefen immer alle mit runter­gezogenen Mundwinkeln durch die Straßen, und hier sind alle total freundlich und lachen einen an der Supermarktkasse an.

Es könnte sein, dass wir es hier nicht nur mit einem Unterschied zwischen Ost und West zu tun haben, sondern auch mit dem zwischen dem Rheinland, wo du jetzt lebst, Lydia, und dem Rest der Republik. Und du hast ja – im Gegensatz zu den ­anderen beiden – das geteilte Deutschland und die alten Gemeinschaften im Betrieb oder im Freundeskreis auch gar nicht mehr erlebt.
Lydia Nein, und ich habe zuerst auch gar nicht nach Ossi oder Wessi differenziert. Deshalb ist es mir relativ leicht gefallen, von der einen Welt in die andere zu wechseln. Über die Unterschiede habe ich mir erst Gedanken gemacht, als ich 2003 meinen Freund kennen gelernt habe, der Wessi ist und aus Kerpen kommt.

Anja Diese so viel gelobten Gemeinschaften waren aber auch zweischneidig. Sie waren enger, aber da war auch so ein Beäugen.

Bianca Da hat man sich schon belauert und sich nicht so recht getraut, was zu sagen, weil man dachte: Wer trägt det jetzt weiter? Seine eigene Meinung hat man eher im Verborgenen ausgetauscht.

Aber ist das nicht ein Widerspruch? Die Herzlichkeit einerseits, das Misstrauen andererseits?
Bianca Wenn die Ostalgie-Welle wieder hochschlägt, was sie ja gerade bei unserer Eltern-Generation tut, und die wieder sagen: „Wir waren herzlicher“, dann sag ich immer: Ja, aber das war oftmals aus der Not heraus geboren, dass man enger zusammenrutschte. Nach dem Motto: Eine Hand wäscht die andere.

Was empfindet ihr denn am Westen als ­ärgerlich?
Lydia Ich ärgere mich zum Beispiel, wenn ich Comedy-Shows gucke. Da hab ich öfter das Gefühl: Jetzt ist euch nix anderes eingefallen, dann reißt ihr halt einen Ossi-Witz. Aber man muss halt lernen, damit umzugehen. Es bringt ja nichts, sich dann beleidigt in die Ecke zu stellen.

Bianca Ich finde dreist, wie mit der Linken umgegangen wird. Man kann ja von der Linken halten, was man will. Aber wenn 20 Prozent der Leute im Osten diese Partei wählen, dann kann man die doch nicht einfach kriminalisieren. Damit krimina­lisiert man ein Fünftel der Ostdeutschen. Und ich finde es immer noch schade, dass sich der Westen damals wie eine Siegermacht positioniert hat. Zum Beispiel schrie nach dem PISA-Schock alles auf und man pries Finnland als det große Beispiel, ohne dabei zu bemerken, dass die Finnen das Schulsystem der DDR übernommen haben. Die Praxistage, die die Schulen heute wieder anstreben, waren ja im Rahmen der polytechnischen Ausbildung bei uns gang und gäbe.

Anja Wir hatten Technisches Zeichnen und „Einführung in die sozialistische Produktion“. Da hat man gelernt: Was ist ein Walzvorgang? Was ist Gießen? Alles, was man in einem Betrieb so macht, damit ein Produkt rauskommt.

Bianca Die Polytechnische Oberschule war wirklich klasse. Und dann kam der Westen und hat alles radikal umjekrempelt, ohne mal nach rechts und links zu gucken. Die ganzen Runden Tische, die sich über diese Fragen Gedanken gemacht haben, wurden ignoriert. Und jetzt, 20 Jahre später, stellt man fest: Och, det war ja nicht alles so schlecht. Die flächendeckenden Kinder­gärten zum Beispiel.

Davon träumen wir …
Anja Als ich das erste Mal gehört habe, dass es Kindergärten gibt, die mittags schließen, war ich geschockt.

In deinem Jura-Studium hast du im Westen so absurde Dinge kennen gelernt wie das so genannte „Kranzgeld“ oder das „Taschengeld“ für Ehefrauen.
Anja Auch das war ein Schock. Ich habe das Jurastudium 1995 in Dresden begonnen, also vor der Familienrechtsreform 1998, und da wehte im Bürgerlichen ­Gesetzbuch ja der Geist des 19. Jahrhunderts. Ich dachte: Oh Gott, in welcher ­Gesellschaft bin ich hier gelandet? Auch die Diskussionen um das Elterngeld finde eigentlich krass. Soll man jetzt jedem Vater ein lautes Hurra entgegen rufen, nur weil er sich mal zu zwei Monaten Elternzeit durchringt?

Aber dass Väter zu Hause blieben, war doch auch in der DDR nicht üblich.
Bianca Als ich mein erstes Kind bekommen habe, haben wir geguckt: Wer verdient mehr? Da bin ich arbeiten gegangen, weil ich mehr verdiente. Und beim zweiten war es umgekehrt. Bei aller Gleichberechtigung in der DDR muss man aber sagen: Die Männer waren insgesamt einfach besser bezahlt. Und Frauen sind dort auch an eine gläserne Decke ­gestoßen. Meine Mutter wollte zum ­Beispiel sehr gern einen Meisterlehrgang ­machen, aber da wurden immer die ­Männer vorgezogen.

Was machen eure Eltern beruflich?
Anja Meine Eltern sind beide Mathematiker. Mein Vater war Assistent an der Uni und meine Mutter hat als Programmiererin gearbeitet. Nach der Wende haben sie sich drei, vier Jahre durchgewurschtelt, bis sich alles wieder gefunden hatte. Mein Vater hat sich dann auf eine Professorenstelle beworben und die auch bekommen. Meine Mutter war kurzzeitig arbeitslos, hat dann Computerkurse gegeben und ­arbeitet heute als Dozentin für Mathematik an einer Berufsakademie. Ich würde sagen, die ist in diesem Job aufgelebt.

Lydia Meine Mutter hat in einer Weberei ­ge­arbeitet und nach der Wende auf Physiotherapeutin umgeschult. Mein Vater kam aus der Slowakei zum Studieren in die DDR. Er ist Ingenieur und heute beim Bund.

Bianca Meine Eltern waren beide Kranführer im Stahlwerk.

Die legendäre Kranführerin aus der DDR! Die fanden wir im Westen immer sehr ­beeindruckend …
Bianca Naja, in bestimmten Regionen war die Berufswahl einfach vorbestimmt. Ich komme aus Brandenburg, da gab es ein Getriebewerk und zwei riesige Stahlwerke, und dann ging man eben ins Stahlwerk, Männer wie Frauen. Die Mädchen, die Friseuse wurden, konnte man an einer Hand abzählen. Aber viele dieser wirklich hoch qualifizierten Frauen sind heute arbeitslos.

Und wie verkraften diese Frauen die ­Arbeitslosigkeit?
Bianca Ganz schwer. Dieses Nicht-­gebraucht-werden, das ist für die ganz, ganz schlimm. Aber Frauen poltern damit ja nicht so rum, wie Männer das tun. Die ziehen sich eher zurück. Die sind einfach deprimiert. Meine Mutter wurde nach der Wende auch arbeitslos und hat sich von dieser Ausmusterung nicht mehr erholt. Sie ist vor zwei Jahren gestorben. Und sie ist nicht die einzige. Im Zuge der Wende wurden viele Existenzen zerstört.

Deine Mutter ist wirklich daran zerbrochen?
Bianca Ja.

Wie seht ihr denn die Entwicklung der letzten 20 Jahre? Haben sich Ossis und Wessis in dieser Zeit eher angenähert oder eher auseinander entwickelt?
Bianca Der größte Unterschied macht sich für mich immer noch in dieser Un-Diskus­sion über die Mutterrolle fest. Man kann es ja nur falsch machen. Entweder ist man eine Rabenmutter, wenn man arbeiten geht. Oder man bleibt zu Hause, dann ist man das Muttelchen. Und diese Diskussion, die ich ganz schlimm finde, die ist im Osten erst mit dem Westen aufgekommen. In dem Projekt, in dem ich heute in Brandenburg arbeite, gibt es immer wieder Mädchen, die sich ins Muttersein flüchten. Die sagen: „Ich hab eh keine Arbeit, dann werd ich jetzt halt schwanger und bleibe zu Hause.“

Anja Was mir sehr auffällt, ist der Unterschied im Auftreten. Als Ossi ist man eher zurückhaltend. Wessis können oft sehr viel besser reden und haben ein einnehmenderes Wesen. Und wenn man im Westen gesehen werden möchte und halbwegs beruflich erfolgreich sein will, dann muss man das eben auch machen. Das musste ich richtig lernen. Insofern waren die letzten 20 Jahre für mich eine ständige Anpassung.

Bianca Wir mussten uns ja auf eine neue Gesellschaftsordnung einstellen. Wir waren ja die, die lernen mussten. Die aus dem Westen mussten nicht umlernen.

Anja Wessis müssen sich im Osten nicht anpassen. Ich finde es immer sehr verblüffend, wenn man in Dresden anruft und am anderen Ende mit „Grüß Gott“ begrüßt wird. Das würde ich mich in einer Münchner Behörde nicht trauen, da am Telefon auf Sächsisch loszureden. Aber Wessis haben da echt keine Hemmungen.

Anja und Lydia, habt ihr euch bewusst das Sächseln abgewöhnt?
Anja (zögert) Ja, schon. Das ist wie ein Schalter, den man im Kopf umlegt. Man will ja nicht immer der Ossi vom Dienst sein. Aber dann ist es mir früher oft passiert, dass Leute erst nach Monaten zufällig merkten, dass ich ein Ossi bin und total geschockt waren. So nach dem Motto: Die ist ja ein ganz normaler Mensch! Inzwischen ist es eher so, dass die Leute politisch korrekt sein wollen. Die fragen dann nach: Wie war das denn damals so? Ich antworte dann schon immer sehr nett, aber manchmal nervt die Fragerei auch, weil man sich in so einem Smalltalk-Zusammenhang ja gar nicht mit jedem so persönlich unterhalten will.

Bianca Zwanzig Jahre danach immer noch diese Trennung: Kommst du aus dem Osten oder aus dem Westen? Gerade in unserer Generation müsste das doch egal sein!

Das ist der Anspruch. Aber in Wahrheit ist es offensichtlich doch nicht egal … Und es ist ja doch ein Stück andere Lebenserfahrung, ob man nun im Osten oder im Westen geboren ist.
Bianca Aber oft wird diese Unterscheidung eben wertend gemacht.

Anja Manchmal kommt auch der Spruch „Oh, du kommst aus Dunkeldeutschland?“

Dunkeldeutschland?
Anja Ja. Oder auch das Klischee, dass im Osten alle rechtsradikal sind. Gern in Kombination mit den Kinderkrippen. Dann sag ich immer: „Ich war auch in einer Kinderkrippe und bin trotzdem ganz normal. Und meine Eltern mag ich auch noch.“

Bianca Ich muss ehrlich sagen, dass ich fast erleichtert war, als die Meldungen über Mütter, die ihre Kinder getötet haben, auch mal aus dem Westen kamen. Und beim letzten Amoklauf dachte ich auch: Gott sei Dank im Westen … Das ist schrecklich, aber uns werden die Klischees dermaßen um die Ohren gehauen, dass man an diesen Punkt kommt.

Habt ihr das Gefühl, dass ihr als Ossis in eurem Job diskriminiert werdet?
Bianca + Anja Nö.

Lydia Im Job nicht, aber bei der Wohnungssuche. Als mein Freund und ich uns getrennt haben, habe ich eine neue Wohnung gesucht. Und wenn dann in den ­Bewerbungsunterlagen steht „geboren in Chemnitz“, dann wird da schon immer nachgefragt. „Chemnitz, wo liegt das nochmal genau? In Sachsen? Oh je, das ist ja ganz weit im Osten.“ Es hat dann auch gedauert, bis ich eine Wohnung bekommen habe. Und das auch nur, weil sich eine Nachbarin für mich eingesetzt hat.

Seid ihr denn mit Ostmännern oder mit Westmännern liiert?
Bianca Der Vater meiner Kinder ist ein Ostmann und mein jetziger Freund auch.

Anja Mein Ex-Freund ist ein Türke aus Bochum. Der davor war ein Schweizer.

Lydia Mein Ex-Freund ist aus Kerpen und der neue aus Köln.

Bei vielen „gemischten“ Paaren scheint die klassische Konstellation Ostfrau-Westmann zu sein. Wieso eigentlich?
Anja Das frag ich mich auch.

Alle lachen

Anja Naja, zunächst ist es vielleicht eine statistische Frage. Es gehen ja mehr Ostfrauen in den Westen als Ostmänner.

Lydia Genau, man lernt ja im Westen keine Ost-Männer kennen. Ich habe meinen Ex-Freund, den Kerpener, im Urlaub kennen gelernt. Mir hat gefallen, dass er so aufgeschlossen und fröhlich war. Der hat mich mit seiner Begeisterung total mitgerissen. Statt so runter gezogene Mundwinkel zu haben wie die Leute in Chemnitz, ist der immer mit Superlaune in den Tag gestartet.

Anja Die Westmänner sind lockerer, aufgeschlossener, haben mehr Lebenslust. Und am Anfang war’s halt spannender. Die kannten die Welt schon ein bisschen und können mehr erzählen. Ich will ja keinen haben, der aus seinem Dorf aus der Oberlausitz nicht rauskommt. Genauso wie ich allerdings auch keinen aus dem Odenwald haben will.

Dabei ist ja eigentlich der Ostmann ­tendenziell emanzipierter.
Lydia Ja, der Westmann ist interessanter, aber unemanzipierter. Der ist es gewohnt, dass Mutti immer zu Hause war und sich um ihn gekümmert hat.

Die Frauen in der DDR waren real emanzipierter: Sie waren häufiger und qualifizierter berufstätig und das selbstverständlich auch in Männerberufen. Aber der öffentliche Diskurs über patriarchale Strukturen wurde von den Westfrauen ­geführt.
Bianca Ich hab es Anfang der 90er so erlebt, dass sich die Diskussionen mit den West-Feministinnen darin erschöpften, ob man jetzt Studentinnen oder Studenten sagt. Aber wenn es dann darum ging, ein Regal aufzubauen, dann säuselten die einen Mann an: „Kannst du mir nicht helfen?“ Da dachte ich: „Nee, also, da bin ick emanzipierter. Ich krieg wenigstens einen Dübel in die Wand.“

Uns sind von den Ostfrauen aber auch eine Menge Klischees entgegengebrandet. An erster Stelle das von der „Männerfeindlichkeit“ der Westfeministinnen. Da sind die Ostfrauen doch auch der Propaganda aufgesessen.
Bianca Das hatte eine Schutzfunktion. Wenn da jemand kommt und einem erklären will, man wäre nicht emanzipiert, und sagt: „So, du kleines Ost-Puttelchen, jetzt nehmen wir dich mal an die Hand und zeigen dir, wie wir die Dinge handhaben“, dann reagiert man erstmal mit Abwehr. Heute, mit Abstand, sehe ich vieles auch anders. Mir ist inzwischen die weibliche Form in der Sprache sehr wichtig, da achte ich auch bei meinen Töchtern drauf.

Anja Mit der Wende haben sich so viele existenzielle Dinge schlagartig geändert – die sozialen Systeme, Schule, Ausbildung, Beruf.

Manche Debatten erschienen euch also ­luxuriös?
Anja Für meine Mutter haben diese weiblichen Bezeichnungen heute noch keine Bedeutung. Als ich eine Bewerbung von ihr gegengelesen habe, hab ich immer korrigiert: Mathematikerin, Programmiererin … Aber sie hat das nicht verstanden, es war für sie einfach nicht wichtig.

Das ist ja auch bei uns eine Debatte über Jahre gewesen.
Bianca Viele dieser Debatten sind ja an uns vorbeigegangen. Die gab es bei uns nicht. Wir sind quasi von oben emanzipiert worden. Die Frauen mussten arbeiten, weil die wichtig für die Volkswirtschaft waren. Und die Kinder gingen halt in den Kindergarten.

Anja In meiner Kindergartengruppe war nur eine Mutter, die zu Hause blieb.

Bianca Bei mir auch. Und die wurde dann schon komisch angeguckt. Und es kamen so Sprüche wie: „Der Mann leitet nen ­Betrieb. Na, die können sich’s ja leisten …“

Ihr seid ja alle drei EMMA-Leserinnen. Wie kamt ihr denn zur EMMA?
Lydia Es lief ein Interview im Fernsehen mit dir, Alice, und da pochte meine Mutter vom Wohnzimmer an meine Zimmerwand und rief: „Lydia, komm mal rüber, das ist was für dich!“ Dann haben wir diese Sendung geguckt und uns am nächsten Tag zusammen die erste EMMA geholt. Die haben wir gelesen und festgestellt: „Das können wir alles unterschreiben!“ Und dann haben wir sie abonniert.

Anja Die EMMA ist die einzige Frauenzeitschrift, die sich mit gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzt und nicht die typischen Frauenthemen bringt: ­Re­zepte, Diäten, Mode, Schießmichtot. Das ist ja furchtbar. In der ersten EMMA, die ich mir gekauft hab – das muss so 2001 gewesen sein – war eine Reportage bei H&M, da ging es um Kleidergrößen. Das war ein wahnsinnig spannender Artikel.

Bianca Ich hab damals alle bunten Zeitschriften ausprobiert und die erste EMMA 1993 an einem Kiosk am Alexanderplatz gekauft. Ich fand sie ganz toll und hab sie sofort abonniert. Allerdings ist mir schon aufgefallen, dass die Ost-Themen ganz doll zu kurz kommen. Trotzdem: Es macht einfach Spaß, mit der EMMA zu provozieren. Zum Beispiel, wenn man sie in der S-Bahn liest.

Anja In der ersten Klasse der Deutschen Bahn ist es auch super.

Lydia Ich hab auf meinem Terminkalender einen PorNo-Aufkleber. Und damit hatte ich in meiner Klasse am Kolleg sofort am ersten Tag den Stempel weg. Aus dem Osten und EMMA-Leserin – oh je! Aber ich hab mich da ganz mutig durchgekämpft.

Anja Im Westen hat man diesen Stempel aber schneller weg als im Osten. Da ist die Reaktion eher: „Was ist das denn für ne Zeitung?“ und dann wird halt mal drin geblättert. Meine Mutter liest sie inzwischen auch sehr gern. Trotz allem war die westdeutsche „Siegermentalität“, wie Bianca sagt, eine Kränkung für euch. Wie geht ihr heute damit um? Verdrängt ihr das? Habt ihr ­Rachefantasien?

Lydia Man muss halt irgendwie damit umgehen. Man muss ja auch in anderen Punkten kritikfähig sein. Aber es ist schon eine Genugtuung, wenn ein blöder Ossi-Witz kommt und mir fällt eine Super-­Retourkutsche dazu sein.

Anja Ich finde es schon mal eine gute Rache, dass wir eine Ossi-Frau als Kanzlerin haben. Die macht aber kein Gewese daraus, dass sie ein Ossi ist.

Bianca Das finde ich gerade gut. Sie ist als Frau und Ossi einfach anerkannt und ist ein Beispiel dafür, dass die aus dem Osten nicht blöd sind.

Es gibt also noch ein „ihr“ und ein „wir“?
Bianca Ich ärgere mich immer, wenn ­andere diese Unterscheidung in Ost und West machen, aber ich ertappe mich doch selber immer wieder dabei, dass ich von „ihr“ und „wir“ spreche.

Lydia Für mich persönlich gibt es kein „wir“ und „ihr“ mehr. Meine Generation ist ja komplett mit der Einheit aufgewachsen. Aber bei der Elterngeneration spürt man es. Wenn man mit den Eltern redet, dann wird schon klar, dass die das anders empfinden.

Bianca Diese ganze Aufgeregtheit wegen der Krise zum Beispiel, die ist bei der älteren Generation im Osten gar nicht da. Die sagt: „Die Krise, die hatten wir im Osten schon. Bei uns wurden damals Kombinate mit Zehntausenden Arbeitern geschlossen. Und da ist kein Staat in die Bresche gesprungen. Also wat regt ihr euch auf?“

Anja Wenn ich in Düsseldorf bin, vergesse ich es. Da hab ich auch Ossi- und Wessi-Freundinnen. Aber wenn ich mal wieder in Dresden war, dann sind die Unterschiede wieder präsenter. Wenn ich da ankomme, dann lese ich immer als erstes die Super-Illu in der Badewanne.

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