Stillen: Ja oder Nein?

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Wir sehen die allercoolste Stadt des Planeten (Berlin) aus der Vogelperspektive. Die Kamera zoomt rein, durch die Straßen des Prenzlauer Bergs, bis an das Schaufenster eines Cafés. Am Fenster sitzt eine attraktive Blondine. Sie scheint aufgebracht, aber wir hören nicht, was sie sagt. Sie steht auf, sie entflieht der Caféhaus-Szene. Da erst bemerken wir: Sie hat ein Baby. Aber was zur Hölle ist bloß passiert?! 

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Das entnehmen wir kurz darauf dem Internet. Die Blondine heißt Johanna Spanke. Via Online-Petition sammelt sie Unterschriften für ein Gesetz, das das Recht stillender Mütter garantieren soll, „ihre Kinder an öffentlichen Orten wie Cafés und Restaurants zu stillen, ohne des Ladens verwiesen zu werden!“ Aus der Zeitung erfahren wir: Der Besitzer des Cafés hatte die Frau gebeten, ihr Kind nicht direkt am Schaufenster zu stillen, sondern etwas diskreter im hinteren Bereich. Diskriminierung! findet die Mutter vom Prenzlauer Berg. 

Sie startet eine Online-Petition. Die ist nach nur acht Wochen von 20.272 Personen unterzeichnet worden. Sie alle fordern: Wir wollen öffentlich stillen! Überhaupt sind so manche Mütter zurzeit mal wieder empört. Zum Beispiel die Verfasserinnen der Streitschrift „Die Abschaffung der Mutter“, Alina Bronsky und Denise Wilk. Zusammen haben die Schriftstellerin und die „Doula“ (das ist eine Frau, die Mütter vor, während und nach der Geburt begleitet) zehn Kinder großgezogen, „die Stiefkinder nicht mitgezählt“. Der deutsche Durchschnitt liegt bei 1,47 Kindern.

Macht Stillen eigentlich zur
besseren Mutter?

Die beiden sind alarmiert, weil „Müttern etwas Lebenswichtiges geraubt wird!“ Nämlich, dass sie „als Bezugsperson ihres Kindes weder entbehrlich noch ersetzbar sind“. Und für diese Unersetzbarkeit gibt es ja einen unfehlbaren Indikator: die Muttermilch! 

Wir erfahren: Stillen mag gesund für das Baby sein – für die Mütter ist es ein ewiger Kampf. Sogar „in öffentlichen Verkehrsmitteln können sich Stillende nicht sicher fühlen!“ Die Frauen werden beleidigt, begafft, bedroht, mitten in Deutschland. Ein Vorreiter im Kampf fürs öffentliche Stillen ist für diese Demo-Mütter Papst Franziskus. Der habe Mütter schließlich „mehrmals ermutigt, ihre Kinder an Ort und Stelle zu stillen, und sei es im Gottesdienst!“ Ganz in der Tradition von Mutter Maria. 

Einen Säugling mit der Brust zu ernähren, das sei auch im 21. Jahrhundert „die Norm für unsere Spezies“, finden die ­Supermütter Bronsky und Wilk. Ginge es nach ihnen, würden Frauen über die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen sechs Monaten hinaus stillen. Denn: „Die Ernährung an der Brust verliert ihre Vorteile für Mutter und Kind auch dann nicht, wenn der Säugling zu laufen und zu sprechen beginnt!“ 

Mit ihrer Still-Euphorie sind die Autorinnen komplett in line mit dem aktuellen gesellschaftlichen Konsens, der in Deutschland sogar institutionalisiert wurde. 1994 rief das Robert-Koch-Institut die „Nationale Stillkommission“ ins Leben. Inzwischen gehört die zum „Bundesinstitut für Risikobewertung“, dessen Präsident Andreas Hensel übrigens von Hause aus Tiermediziner ist. 

Das Institut berät unter anderem die Bundesregierung, mit dem Ziel „die Entwicklung einer neuen Stillkultur in der Bundesrepublik Deutschland zu unterstützen und dazu beizutragen, dass Stillen zur normalen Ernährung für Säuglinge wird.“ In dem Info-Blatt an die „Liebende werdende Mutter“ steht: „Stillen bedeutet mehr, als Ihrem Kind Muttermilch als gesunde Nahrung zu geben. Stillen ist auch Nahrung für die Seele für Sie und Ihr Kind und setzt in einzigartiger Weise die in der Schwangerschaft begonnene Beziehung zwischen Ihnen und ihrem Kind fort.“ 

Die „lieben werdenden Väter“ werden gar nicht erst angesprochen. Wäre ja auch kontraproduktiv für die Still-Propaganda! Worum geht es wirklich, wenn von der so engen und zwingenden „Mutter-Kind-Bindung“ via Stillen geschwärmt wird? Es geht um die Fesselung der Frau an die Rolle der Hausfrau und Mutter. 

Angesprochen werden auf der Webseite der „Nationalen Stillkommission“ die nicht stillenden Mütter, die ihr Kind mit „industriell hergestellter Säuglingsnahrung“ ernähren, also ein bisschen anormal sind. Doch auch diese Frauen müssten „in ihrer Entscheidung respektiert werden.“ 

Kann die
Flasche dem
Baby wirklich schaden?

Bloß: Stillen ist für Frauen nicht immer selbstverständlich. Es gibt Frauen, die können einfach nicht stillen. Weil es zu schmerzhaft ist. Weil sie nicht genügend Milch produzieren. Weil sie einfach nicht stillen wollen. Und selbst wenn eine Frau einfach so entscheidet, ihr Kind mit der Flasche zu ernähren: So what?!

Aber was ist mit den gesundheitlichen Vorteilen? Die kanadische Politikwissenschaftlerin Courtney Jung ist Mutter von zwei Kindern. Sie hat beide gestillt, Tag für Tag. Jung hoffte, dass sich dieser Einsatz auszahlen würde: „Ich wollte alles in meiner Macht Stehende tun, damit meine Kinder sicher sind und gesund bleiben!“ Denn dass Muttermilch nicht nur gegen Krankheiten schützt, sondern auch schlau macht, das gilt als „wissenschaftlich belegt“. 

Eines Tages traf die stillende Politikwissenschaftlerin beim Kinderarzt eine Mutter, bei der es nicht so gut lief: Sie produzierte nach einer Frühgeburt nicht ausreichend Milch und fütterte ihr Kind mir der Flasche. Als die Frau ihr das erzählte, brach sie in Tränen aus. Jung: „In diesem Augenblick habe ich begriffen, wie viel Scham und Verzweiflung Frauen empfinden, wenn sie nicht stillen.“

Auch bei EMMA zählt zu den meist diskutiertesten Artikeln ein Kommentar unserer Grafikerin Irina Rasimus über ihre Entscheidung, nicht zu stillen. Ihrem Sohn ging (und geht) es prächtig. Irina aber geriet umgehend in „Rabenmutter-Verdacht“. 

Ähnlich erging es Hanna Rosin. 2009 polemisierte die Mutter in The Atlantic über den „Still-Faschismus“ in ihrem Umfeld. Aus Spaß hatte sie auf dem Spielplatz erzählt, dass sie nach einem Monat abstillen wolle. Auch Rosin fand sich prompt in einer Ecke „mit Müttern, die ihr Baby mit pürierten Chicken McNuggets füttern“.

In Amerika ist Stillen im 21. Jahrhundert zur Patriotinnen-Pflicht erklärt worden. Im Jahr 2010 definierten die dem Gesundheitsministerium unterstellten „Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention“ zusammen mit der „Amerikanischen Akademie für Kinderheilkunde“ und dem Sanitätsinspekteur der Vereinigten Staaten das Stillen als gesundheitspolitischen Thema, das nicht die individuelle Frau, sondern die gesamte Gesellschaft betrifft. Die Politiker stellten das Füttern mit künstlicher Babynahrung auf eine Stufe mit Rauchen und ungeschütztem Geschlechtsverkehr. 

Das Fachjournal Pediatrics rechnete hoch, dass das „Versagen“ beim Stillen den Staat jährlich 13 Milliarden Dollar koste. Da ist es nicht mehr weit bis zu einem Gesetz, das Topmodel und Mutter Gisele Bündchen schon in einem Interview forderte: Frauen weltweit dazu zu verpflichten, ihr Kind sechs Monate zu stillen. Ein solches Gesetz gibt es schon. Allerdings nur in Saudi-Arabien. 

In den USA
ist das Stillen 
patriotische 
Pflicht!

Bei der stillenden Politologin Jung ist aus ihrem Zweifel ein Buch geworden: „Lactivism“. Ein Wortspiel aus „lactation“ (Stillphase) und „activism“ (Aktivismus). Die Botschaft der LaktivistInnen lautet: Stillen ist alternativlos! 

Courtney Jung hat sich die meist zitierten Studien über Muttermilch vorgeknöpft – die übrigens auch schon mal von Milchpumpen-Herstellern gesponsert werden. Die Liste der angenommenen gesundheitlichen Vorteile des Stillens ist lang: vom verstärkten Schutz des Kindes vor Mittelohrentzündungen, Durchfallerkrankungen und Lungenentzündungen über die Verhinderung von Asthma, Allergien und plötzlichem Kindstod bis hin zum Vorbeugen von Bluthochdruck, Diabetes 2, Fettleibigkeit und Leukämie. Stillen soll sogar die Intelligenz steigern.

Bloß: Auf jede Studie, die einen dieser Effekte bewiesen haben will, folgt eine weitere, die den Effekt widerlegt. Experten sind inzwischen von der Überzeugung abgerückt, dass Stillen Allergien verhindere. Die „S3-Leitlinien Allergieprävention“ der „Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie“ und der „Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin“ empfehlen deshalb das Einführen von „Beikost“ schon ab dem vierten oder fünften Monat. Denn: „Es gibt Hinweise, dass längeres ausschließliches Stillen auch mit einer Risikoerhöhung für Allergien verbunden sein kann.“

Und was ist eigentlich mit den Müttern beim Stillen? Hanna Rosin formulierte es so: „Ich möchte jedem, der behauptet, Stillen sei ‚gratis‘, mit einem Holzbalken eins überziehen!“ Denn: Muttermilch ist nur solange gratis, wie die Zeit der Frauen nichts wert ist.

In Wahrheit ist es, das fand Betty Friedan schon in den 1960ern in ihrem legendären Buch „Der Weiblichkeitswahn“ heraus, folgendermaßen: Immer dann, wenn die Frauen im Beruf gebraucht werden, wie in der Kriegs- und Nachkriegszeit, gilt es als total ungesund, zu stillen. Immer dann, wenn die Frauen wieder zurück ins Haus und an den Herd sollen, gilt es als total gesund, zu stillen. Friedan war nicht die einzige, die diesen Zusammenhang zwischen Still-Propaganda und Berufs­tätigkeit der Mütter durchschaute.

Wer ein halbes Jahrhundert später nachmittags durch die großstädtischen Cafés streift, trifft heute ausgerechnet die hippen, die gut ausgebildeten Frauen, die Stillen als Ausdruck ihres Lebensstils definieren. „In einer Linie mit Yoga, Bio-­Gemüse, Fair-Trade-Kaffee, Stoffwindeln und Hybridautos“, lästert auch Courtney Jung. Die passende Still-Garderobe lassen diese Frauen sich was kosten. Selbst Milchpumpen werden inzwischen mit dem Slogan „Pumpen mit Stil“ verkauft. 

Für wie bescheuert
haltet ihr uns eigentlich?

In dieser Welt ist die Muttermilch zur Ware geworden. Sie wird in so genannten „Muttermilch-Börsen“ im Internet verkauft. 

Die Sozialen Online-Netzwerke sind voll mit „Brelfies“ (Breast + Selfie), die stolze Mütter beim Stillen zeigen. Wenn in Großbritannien eine stillende Mutter aus einer Hotel-Lobby geworfen wird, erscheinen am nächsten Tag dutzende Mütter und stillen aus Protest. Solche „Nurse-Ins“ gibt es inzwischen weltweit. Organsiert von Frauen, die ganz wie zu Betty Friedans Zeiten wieder sehr laut verkünden, die Mutterschaft samt Stillen gebe ihnen Selbstbewusstsein und ihrem Leben einen Sinn. 

Und auch das wusste Friedan schon: Keine Regierung der Welt wird es schaffen, bei steigendem Bildungsgrad und wachsender Mobilität, die Frauen auf ewig via Gesetze zu domestizieren. Aber die Ideologie, die schafft das sehr wohl. Die Überzeugung, dass die Hausfrauen- und Mutterrolle nicht eintönig und begrenzend ist – sondern etwas wert. Mindestens so viel wert wenn nicht mehr wert als die Jobs und die politischen Ämter der Männer. 

Als Friedan über den „Weiblichkeitswahn“ der Hausfrauen in den amerikanischen Vorstädten der 1950er und 1960er Jahre schrieb, war der Staubsauger das Symbol für „das Problem, das keinen Namen hat“. Im Jahr 2016 ist es die Muttermilch. 

Kurz vor Friedans Analyse der amerikanischen Hausfrau wurde auch noch genau das Gegenteil gepredigt: Stillen war eher von gestern. Entgegen dieses Zeitgeistes gründeten 1956 sieben katholische Frauen in Illinois die so genannte „La Leche Liga“, inspiriert von einer Statue der stillenden Maria in Florida. Ihre Mission: Frauen wieder vom Stillen zu überzeugen. Die Leche-Liga stand und steht für ein eher konservatives Mutterbild. 1958 veröffentlichten die Frauen ihr erstes „Handbuch für die stillende Mutter“, in der sie die Vollzeitmutter zum Ideal erklärten. 

Aus der kleinen Gruppe katholischer Mütter wurde rasch eine weltweite Organisation mit Vertretungen in über 70 Ländern. Nach Deutschland kam die Leche-Liga 1976. Heute sitzt sie in der „Nationalen Stillkommission“ und wird auf Stillberatungs-Webseiten als Expertin empfohlen.

Unterstützerinnen fanden die Leche-Frauen in den 1960er und 1970er Jahren ausgerechnet bei Feministinnen. Auch so manche Frauenrechtlerin verstand unter der Selbstbestimmung über den eigenen Körper auch das Recht auf die „natürliche Geburt“ und das Stillen. Eine im Ausland nicht ganz ohne Ironie betrachteter Klassiker wurde die stillende, strickende Mutter in deutschen Frauenzentren. 

Muttermilch ist zur Ware geworden.

Auf dem Höhepunkt der europäischen Frauenbewegung richtete sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit plötzlich auf das Thema Säuglingssterblichkeit in Entwicklungsländern. In Lateinamerika, Afrika und Asien starben Millionen Säuglinge an Unterernährung und Durchfallerkrankungen. Als eine der wesentlichen Ursachen wurde rasch das sehr verbreitete und von Firmen wie Nestlé breitflächig beworbene Stillen mit Babymilchpulver ausgemacht. 

Doch diese Mütter hatten keinen Zugang zu sauberem Wasser, um das Pulver zu mischen und die Flaschen zu reinigen. Und Analphabetinnen konnten die Anleitung gar nicht erst lesen. Die Bilder von großäugigen, ausgehungerten Kindern ging um die Welt, die Welt war empört und Rufe zum Boykott von Nestlés Milchpulver wurden laut. 1981 erließ die WHO eine neue Richtlinie für die Vermarktung der industriell hergestellten Säuglingsnahrung und erklärte im gleichen Zug das Stillen zur wesentlichen Strategie im Kampf gegen die Kindersterblichkeit. 

Irgendwann wurde es leiser im Still-Krimi. Es wurde nicht mehr ganz so scharf geschossen. Tatsächlich schien der paradiesische Zustand einer echten freien Wahl eingetreten zu sein: Eine Mutter stillt oder auch nicht, das ist ihre ganz persönliche ­Angelegenheit. Doch damit ist jetzt wieder Schluss. Denn … genau! Die Mütter sollen wieder raus aus dem Beruf bzw. sich auf die stillfreundliche Teilzeitarbeit beschränken. 

Sagt mal: Für wie bescheuert haltet ihr uns eigentlich?

Alexandra Eul

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Mehr als eine Stil(l)frage

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Ich hielt es für eine höchstpersönliche Entscheidung, aber es kam einem ­Coming Out gleich: Ich stille nicht. Noch schlimmer: es ist nicht so, dass ich nicht konnte. Ich wollte nicht. Schon immer war mir der bloße Gedanke daran unangenehm – und dieses Gefühl veränderte sich auch im Laufe der Schwangerschaft nicht. Daher schien es mir besser für beide Beteiligte, statt verkrampfter Versuche mein Kind gleich entspannt per Flasche zu ernähren.

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Das „Abstillen“ war denkbar einfach. Am Tag der Geburt bekam ich zwei Tabletten. Mein Sohn bekam das Fläschchen, wurde von Anfang an satt, nahm gleichmäßig an Gewicht zu und schlief ab der zehnten Lebenswoche durch. Bis heute – er ist nun ein halbes Jahr alt – ist er ­äußerst ausgeglichen, hatte weder Koliken noch Krankheiten.

Dennoch geriet ich rasch in Rabenmutter-Verdacht, inklusive Mütter-Mobbing. „Sehr schade!“ quittierte eine Hebamme rügend meinen Entschluss, nachdem sie vergeblich versucht hatte mich umzustimmen, während ich das neugeborene Kind im Arm hielt. „Da kommt ja das Flaschenkind!“ wurde ich in Mütterrunden begrüßt. In der Folge wurde jede Unpässlichkeit oder auch die ungewöhnliche Größe meines Kindes bedacht mit „Das kann von der Flaschennahrung kommen“ oder „Du stillst ja auch nicht“.

Expertenwissen überall: „Natürlich ist Muttermilch das Beste“ – so beginnen nicht nur Babynahrungshersteller ihre Werbespots, sondern gerne auch junge Väter ihre Diskussionen mit mir. Selbst die (kinderlose) Nachbarin will wissen, ob ich „die Brust gebe“, und insistiert auf mein Nein hin: „Warum denn nicht, das ist doch so wichtig!“

Dabei ist Säuglingsnahrung heute hochwertig, Milchpulver und Thermoskanne machen flexibel, und natürlich ­entstehen auch beim Fläschchengeben Körperkontakt und emotionale Bindung (Wie ja stets pflichtschuldig versichert wird, wenn Mütter gerne stillen würden, aber nicht können).

Im Oktober ruft gar alljährlich die „Weltstillwoche“ dazu auf zu stillen. Motto: „Stillen ist lebenswichtig! Bist Du dabei?“ In Gegenden ohne Zugang zu sauberem Wasser und Säuglingsnahrung mag Stillen alternativlos sein. Hierzulande aber sollte sich jede Frau frei und selbstbestimmt dafür oder dagegen entscheiden können. Meine ich.

Doch das scheint nicht selbstverständlich zu sein. Die Kommentare hinter vorgehaltener Hand reichen von „Cool, dass du dich das traust“ über „Ich hätte beim zweiten Kind gern früher abgestillt, aber meine Hebamme hat mich angehalten, dranzubleiben“ bis hin zu „Hätte mir ­jemand gesagt, wie schmerzhaft das sein kann, hätte ich es lieber gelassen.“ Resultat: Eine heikle Mischung aus Perfek­tionsanspruch, Unersetzlichkeit und totaler Erschöpfung der Mütter. Und die Väter? Die können durchschlafen. Denn sie könnten zwar die Flasche geben, aber nicht die Brust. Auch praktisch.

Der Vater meines Kindes konnte sich vom ersten Tag an ebenso intensiv um seinen Sohn kümmern wie ich. Wir haben uns auch in den Nächten abgewechselt, was meinen Nerven (und damit auch der Beziehung zu meinem Kind) ­sicher gut getan hat. Brustentzündung, Milchstau oder zu wenig Milch, Stillhütchen und Quarkpackungen blieben mir erspart. Ich genieße es, unterwegs zu sein, ohne auf Abruf parat stehen oder Milch abpumpen zu müssen. Ich kann arbeiten und weiß mein Kind zwischenzeitlich gut versorgt von Vater oder Oma.

Gerade langes Stillen – die WHO empfiehlt mindestens sechs Monate, mit Beikost bis zu zwei Jahre und länger – fördert eben auch eine klassische Rollenaufteilung und längere Auszeiten aus dem Beruf. Zumal die geforderten „stillfreundlichen“ Arbeitsplätze – wie auch immer die aussehen sollen: Baby dabei? Alle paar Stunden nach Hause? – ja wohl noch ­weniger in Sicht sind als eine flächen­deckende, flexible Kinderbetreuung.

Was wird nicht alles bemüht, um die ­Vorzüge der Muttermilch zu preisen: Schutz vor Allergien, vor Übergewicht und Verwahrlosung sowie höhere Intelligenz. Diese Heiligsprechung passt in eine Zeit, in der die exklusive Mutter-Kind-Beziehung wieder überhöht und biologistisch verklärt wird. Da macht es misstrauisch, wenn von zwei Optionen eine gleich wieder kassiert wird. Weil sie schon im Geburtsvorbereitungskurs unter den Tisch fällt. Weil sie gleichgesetzt wird mit mangelnder Fürsorge, Bequemlichkeit und Egoismus. Weil man sie nicht aussprechen kann, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.

Daher nochmal für alle: Nein, ich stille nicht. Und das ist auch gut so.

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