Emine Özdamar: Die übers Meer geht
Sie streift über die letzte türkische Insel vor Lesbos. Da sind vor über hundert Jahren die seit Generationen dort beheimateten „türkischen Griechen“ von dem aufstrebenden Nationalstaat vertrieben worden. So wie die „griechischen Türken“ von den gegenüberliegenden Inseln. Die Kerzen in der orthodoxen Kirche brennen noch, als sie auf eine Reise gehen, von der sie „nicht zurückkommen werden“.
Fünfzig Jahre später strandet die Schauspielerin aus Istanbul auf der Insel, hört die Stimmen der Vertriebenen, sieht ihre Schatten. Sie ist jetzt selbst eine Vertriebene, flieht in den 1970er Jahren vor der türkischen Militärdiktatur. Auf dieser „letzten türkischen Insel vor Lesbos“ nimmt sie Abschied und schreitet in zielstrebigen Schritten über das Meer, bis nach Berlin. Dort wird man ihr, wie prophezeit, zunächst nur Stellen oder Rollen als türkische Putzfrau anbieten.
Wieder fünfzig Jahre später kehrt sie zurück auf ihre Insel, die ihre Fantasie aus dem Meer auftauchen lässt. Wieder sind auf dem Meer Vertriebene. Und inzwischen ist die in Sichtweite liegende Insel Lesbos für freiheitsliebende Türken kein Sehnsuchtsort mehr, sondern ein Ort des Grauens.
In ihrem jüngst erschienenen fantastischen, surrealen Roman nimmt die Schriftstellerin und Theatermacherin Emine Sevgi Özdamar uns mit auf die Reise ihres Lebens: in das ungeliebte Berlin, in das geliebte Paris und ans Avantgarde-Theater in Bochum; in eine Welt der europäischen Bohème, die sich einst am Bosporus so frei und schillernd tummelte wie an der Seine.
Ihre Muttersprache hat sich verwestlicht, ihr Deutsch hat sich orientalisiert
Özdamar spielt auf der Bühne oder gestaltet dahinter und – sie beginnt zu schreiben. 1992 veröffentlicht Emine ihren ersten Roman, getränkt von ihren Erfahrungen als Kind in der Türkei: „Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, in der einen kam ich rein, in der anderen ging ich raus.“
War das die erste „deutsch-türkische Stimme“? Ja und Nein. Es war vor allem ihre Stimme, die von Emine Sevgi Özdamar.
Die EMMA-Rezensentin schrieb 2002 über Özdamars erste Bücher: „Sie ist in die deutsche Sprache eingewandert mit ihrem ganzen türkischen Sprachgepäck und hat sich darin eingerichtet. Ihre türkische Muttersprache hat sich verwestlicht, ihr Deutsch hat sich orientalisiert. Erst indem sie sich die Fremdsprache zu eigen macht, findet sie zu einer unerhörten Eigensprache.“
Vier Jahre später erschüttert eine Kontroverse das Feuilleton und Özdamar zutiefst. Ihr Landsmann Feridun Zaimoğlu veröffentlicht einen Roman, „Leyla“, und behauptet, das Vorbild für seine Protagonistin sei die eigene Mutter. Die war ganz wie Emine zwischen 16 und 18, Arbeiterin in Berlin bei Siemens gewesen. So weit, so banal. Doch Özdamar protestiert, spricht von „Plagiat“.
Erdogan lässt jeden schreien. Und das Ausland hört weg
Denn Zaimoğlus Roman gleicht dem von Özdamar nicht nur inhaltlich, sondern auch in der „Poesie, Metaphorik, Bilderwelt“, schreibt Monika Maron, und nicht nur sie sieht das so. Literaturkritiker schließen sich an. Zaimoğlu schlägt hart zurück und behauptet nun, in Wahrheit sei es Özdamar, die die Geschichte seiner Mutter geklaut habe, mit der sie gleichzeitig im Wohnheim gewesen sei. Dieser Zaimoğlu sagt nicht zum ersten Mal Erstaunliches über schriftstellernde Frauen, besonders Feministinnen. Die Bücher von Ayaan Hirsi Ali oder Necla Kelek zum Beispiel bezeichnet er als islamfeindliche „Denunziationsfibeln“.
Heute lebt Emine Özdamar mit ihrem deutschen Ehemann zwischen Berlin und der Türkei. „Ich bin nur noch mit der türkischen Politik beschäftigt“, sagt sie. Denn: „Erdoğan lässt jeden schreien. Und das Ausland hört weg.“
Sicher, sie hätte damals über die Zaimoğlu-Attacke lachen können. Aber es ist einem eben nicht immer nach Lachen. Özdamar machte weiter Theater – doch verstummte für anderthalb Jahrzehnte als Schriftstellerin. Jetzt legt sie mit ihrem hoch poetischen und tief realistischen Roman quasi ihr Lebenswerk vor. Und sie lädt uns ein, mit auf die Reise zu gehen. Eine Reise ohne Ankunft.
Weiterlesen: Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum (Suhrkamp). Alle früheren Bücher von Özdamar erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.