Freie, kopftuchfreie Schulen

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Vor den Sommerferien 2008 ging Luisa zum ersten Mal mit Kopftuch in ihre Klasse. "Ich wollte mal ausprobieren, wie das so ist", sagt die 18-jährige Tochter einer deutschen Mutter und eines marokkanischen Vaters, von dem sie die milchkaffeefarbene Haut und wohl auch die vollen dunklen Haare geerbt hat, die sich auch durch ihren Pferdeschwanz kaum bändigen lassen. Das Ergebnis des Experiments: "Es war, ehrlich gesagt, Scheiße!"

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Erstens kochte Luisa im Juli der Kopf unter dem Tuch. Zweitens guckten die Leute auf der Straße blöd. Und drittens "hat man als Mädchen nicht mehr so viele Rechte, wenn man das Kopftuch aufsetzt." Selbst wenn man, so wie sie, freiwillig zu den Eltern geht und sagt, dass man ab jetzt Kopftuch tragen will: "Man muss sich komplett umstellen, weil man ja dann quasi den Islam repräsentiert. Man darf dann nicht mehr mit Jungen abhängen und so." Bei Luisas Freundinnen, die angefangen haben, ein Kopftuch zu tragen, sei das jedenfalls "immer so". Abends könnten sie jetzt nichts mehr zusammen unternehmen. "Die müssen immer um sechs zu Hause sein." Luisa nicht. Sicher muss sie auch im Haushalt mit anpacken, aber das müssen ihre jüngeren Brüder auch. "Die müssen eigentlich sogar mehr machen als ich", sagt sie und grinst.

Dass es an der Zeit wäre, jetzt auch selber ihre Haare unterm Kopftuch zu verbergen, auf diese Idee kam Luisa vor allem deshalb, weil ihre beste Freundin plötzlich eins trug. Luisa vermutet, "dass das vom Vater kam. Ihre Schwestern sind nämlich richtig verhüllt". Sie selbst jedenfalls beendete ihre Kopftuch-Phase nach ein paar Wochen und erschien nach den großen Ferien wieder mit offenen Haaren in der Schule.

Imran ist zwölf und trägt auch kein Kopftuch. Ihre Mutter und ihre 20-jährige Schwester, die Zahnmedizin studiert, tragen eins, aber: "Ich muss das nicht." Einige ihrer Freundinnen, die in der Klasse über ihr sind, kommen inzwischen mit Kopftuch in die Schule. Und wie Luisa hat auch Imran beobachtet, dass diese Mädchen "nicht so viel Freiheit haben". Zum Beispiel "dürfen sie nicht das anziehen, was sie wollen. Und wenn ich sie frage, ob sie mit mir ins Kino gehen, dann sagen sie, dass ihre Eltern das nicht erlauben würden".

Trotzdem kann sich das deutsch-türkische Mädchen mit dem wachen, kecken Blick durchaus vorstellen, dass sie "irgendwann mal" das Kopftuch tragen wird, zum Beispiel "nach dem Heiraten". Oder, sagt sie nachdenklich, wenn "es in meiner Umgebung blöd ist, wenn man es nicht macht".

Es sind Schülerinnen wie Luisa und Imran, die Rektor Bernd Hinke zu der Überzeugung gelangen ließen, dass Kopftücher an seiner Schule nicht wünschenswert sind. Von den 480 Schülerinnen und Schülern der Düsseldorfer Anne-Frank-Realschule kommt jedeR fünfte aus einer muslimischen Familie, doch nur fünf der 60 muslimischen Mädchen kommen mit Kopftuch in die Klasse. Dennoch, oder gerade deshalb, will der Pädagoge "den Anfängen wehren".

Hinke möchte gar nicht erst an den Punkt kommen, an dem so manche Schule, die dem Trend zur weiblichen Verhüllung im Namen des Islam nichts entgegensetzt, schon jetzt ist: "Ich weiß von Hauptschulen, die überhaupt keine Klassenfahrten mehr machen können, weil so viele Mädchen nicht mitfahren dürfen", klagt er. Das will Schulleiter Hinke ebenso verhindern wie den Druck, unter den Mädchen wie Imran oder Luisa geraten könnten, wenn immer mehr Kopftücher in den Klassen signalisieren, dass sie, die keins tragen, nicht zu den "anständigen Mädchen" gehören. "Wir möchten die Mädchen zu mündigen Frauen in dieser Gesellschaft erziehen", sagt der Pädagoge. "Und da halte ich das Kopftuch für ein falsches Signal." 

Wer in die Ackerstraße einbiegt, der übersieht zunächst glatt, dass das Gebäude mit der Nummer 174 eine Schule beherbergt. Nahtlos fügt sich die sandfarbene Altbaufassade in die Häuserreihe ein. Der Schulhof liegt mitten im Wohnblock. Wer will, könnte das als Symbol betrachten: Die Anne-Frank-Realschule bemüht sich um Integration – und das nicht nur äußerlich.

Düsseldorf-Flingern ist, obwohl das Viertel nur ein paar Kilometer östlich der schicken Stadtmitte liegt, ein, wie es politisch korrekt heißt, "Stadtteil mit Erneuerungsbedarf". Das heißt: Zwar haben sich in einigen Häusern der Altbaustraßen inzwischen hippe Designläden angesiedelt, dafür fehlen in anderen die Haustüren. Das heißt auch: "Viele Kinder kommen aus ‚broken homes‘. Da kann man nicht davon ausgehen, dass zu Hause jemand fragt: ‚Was hast du denn heute auf?’", erzählt Rektor Hinke. Das gilt auch für deutsche Familien, die oft nicht minder zerbrochen sind als ausländische, nur gibt es bei letzteren manchmal weitere Probleme.

Zum Beispiel bei denjenigen, die nicht, wie Luisa oder Imran, in Deutschland aufgewachsen sind, sondern die als Asylbewerber oder Aussiedler auf die Schule kommen, oft mitten im Schuljahr. Für diese Kinder, die meist kein Wort Deutsch sprechen, hat die Anne-Frank-Schule eine sogenannte Seiteneinsteiger-Klasse, kurz: SE-Klasse eingerichtet. Ein Jahr lang bekommen die rund 20 SchülerInnen zunächst ausschließlich Deutschunterricht. Danach gehen sie in die Regelklassen, pauken aber zusätzlich an zwei Nachmittagen den Konjunktiv, die indirekte Rede und andere Feinheiten der deutschen Sprache. Weil sie Englisch nicht, wie die anderen, ab der fünften Klasse belegen konnten, dürfen sie stattdessen die Prüfung in ihrer Heimatsprache ablegen; egal, ob auf Türkisch, Persisch, Polnisch oder Russisch. Das Ergebnis ist beachtlich: Fast alle Anne-Frank-SchülerInnen, nämlich genau 97 Prozent, schafften 2008 den Realschulabschluss; jedeR zweite von ihnen sogar die Qualifikation fürs Gymnasium. Und das, obwohl die Schule in der Ackerstraße 174 laut Schulverwaltungssprache zum "Standorttyp 2" gehört, will heißen: städtisch, geringer Akademikeranteil bei den Eltern, hoher Anteil von SchülerInnen mit "Migrationshintergrund".

Einen Migrationshintergrund hat an der Anne-Frank-Realschule jedeR zweite. Dass viele dieser Migrantenkinder offenbar dennoch mitten in Deutschland angekommen sind, ist – auf die eine oder andere Art und Weise – auch den Pinnwänden im Foyer vorm Rektorenzimmer zu entnehmen. Zum Beispiel der Urkunde über den Sieg der Schule im städtischen Tischtennis-"Milchcup". Die stolzen Sieger heißen: Ilias El Morabiti, Hubert Budzinski, Rocco Wittenberg und Jamal Moussa. Auf Stellwänden präsentiert die 8b ihre "Stadtgedichte": "Komm wir gehen ein Stück, siehst du die Düssel dort? Das ist meine Stadt, das ist Düsseldorf" rappt Kayef.

Eine Puppe präsentiert in blauem Kapuzenpulli und orangefarbenem AF-Logo die Schulkleidung, die die Anne-Frank-Schule vor zwei Jahren per Schulabstimmung eingeführt hat, um zu verhindern, dass die Kinder ausgegrenzt werden, "deren Eltern sich den adidas-Pulli nicht leisten können". Am Tag der Einführung haben alle Anne-Frank-Schülerinnen eine blau-orange Menschenkette um den Wohnblock gebildet. Noch läuft das Projekt Schulkleidung auf freiwilliger Basis, aber mit dem nächsten neuen Fünfer-Jahrgang soll das Outfit Pflicht werden. Damit der Zusammenhalt wächst.

Und an der Wand gegenüber noch eine Urkunde: Das NRW-Schulministeriums besiegelt, dass die Anne-Frank-Realschule "im Fach Englisch zu den zwei Prozent erfolgreichsten ihres Standorttyps" gehört.

Irgendwas scheinen Rektor Hinke, der die Anne-Frank-Realschule seit 20 Jahren leitet, und sein Kollegium also richtig zu machen. Trotzdem bekam der erfahrene Pädagoge, als er in einem Elternbrief erklärte, dass Kopftücher – genau wie Basecaps oder Handys – im Unterricht unerwünscht sind, den Ärger seines Lebens. Mit Islamisten. Und mit dem nordrhein-westfälischen Schulministerium. "Das Kopftuch wird von uns als Symbol der Unterdrückung der Frau und fehlender Gleichberechtigung betrachtet", hatte der Schulleiter geschrieben. "Es widerspricht somit nicht nur den entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes, sondern auch den Werten, die wir unseren Schülerinnen und Schülern vermitteln wollen und die in unserem Schulprogramm verankert sind." (Schülerinnen - Neuer Kopftuchstreit, EMMA 6/2008)

Das gleiche hatte Hinke bereits ein Jahr zuvor in seinem Elternbrief geschrieben. Diesmal aber wurde die Sache öffentlich. Wohl nicht zufällig. Der Schulleiter ahnt, welcher Vater den Passus an die Presse weitergab. Jedenfalls prangerte zunächst eine türkische Abonnentenzeitung den Fall an, dann begannen "die ersten E-Mails der geharnischten Sorte einzutröpfeln". Zuerst waren es "überzeugte Islamisten", die den Rektor wüst beschimpften. Dann schrieben die "Gutmenschen, die im Rahmen der Religionsfreiheit für das Kopftuch plädierten".

Aber es gab auch Zuspruch. Viele Menschen bedankten sich bei dem Düsseldorfer Schulleiter für seine couragierte Aktion. Sein Kollegium solidarisierte sich, die Elternpflegschaftsvorsitzende schrieb ihm einen zustimmenden Brief. Und seine SchülerInnen erklärten via Unterschriftenaktion: "Ihre Schüler stehen hinter Ihnen!" Hinke hat die gelbe Papptafel mit Hunderten Namen darauf in sein Büro gestellt, gleich hinter seinen Schreibtisch.

Die Initiatorin der Unterschriftenaktion heißt Janine und ist Schülersprecherin der Anne-Frank-Realschule. Demnächst wird die 17-Jährige eine Ausbildung zur Malerin und Lackiererin antreten. Mit ein paar anderen aus der Schülervertretung zog sie mit der gelben Pappe durch alle Klassen und fragte, wer unterschreiben will. Ein paar wollten nicht, weil sie das Verbot ablehnten; andere, weil sie "sich raushalten wollten". "Aber letztlich haben fast alle unterschrieben", sagt Janine zufrieden. Für sie ist das Kopftuch "schon Ausdruck einer Ungleichbehandlung und dafür, dass Frauen überhaupt keine Bedeutung haben".

Doch nachdem sich auch RTL und Sat1, Focus und Spiegel Online auf die Causa Kopftuch gestürzt hatten, pfiff das Schulministerium den Schulleiter zurück. Schließlich verkündete die Bezirksregierung via Pressemitteilung, dass es an der Anne-Frank-Realschule "kein Kopftuch-Verbot" geben werde. Dies habe man dem Schulleiter in einem Gespräch klargemacht. Der Schulleiter bedaure "die nicht zutreffende Wortwahl in dem Elternbrief". Und Spiegel Online vermeldete gar, Hinke habe offenbar "einen Blackout" gehabt.     
   
Dabei ist das Gedächtnis von Bernd Hinke gänzlich ungetrübt. Zum Beispiel erinnert er sich sehr gut an die 16-jährige türkische Schülerin, die eines Tages mit Kopftuch im Unterricht erschien und kurze Zeit später "mit einem Landsmann aus Gelsenkirchen verheiratet wurde". Natürlich macht er sich jetzt Sorgen, wenn nach den Sommerferien wieder ein Mädchen verhüllt im Klassenraum sitzt. "Dann frage ich mich: Ist die womöglich jemandem ‚versprochen‘ worden?" Und noch eins fragt sich der Schulleiter: "Viele Schülerinnen, die plötzlich mit Kopftuch auftauchen, sind erst 14 oder noch jünger. Wie soll sich denn so ein junges Mädchen gegen seine Eltern durchsetzen?"

Ginge es nach der Handreichung für LehrerInnen, die der NRW-Integrationsbeauftragte Thomas Kufer 2008 herausgegeben hat, wären Hinkes Sorgen quasi unbegründet. Denn da heißt es: "Für manche Eltern ist es selbstverständlich, dass ihre Töchter schon früh (vor Einsetzen der Pubertät) an das Kopftuch gewöhnt werden. Das Motiv, dass dahintersteckt, ist nicht etwa, das Kind zu unterdrücken, sondern vielmehr die Liebe und Fürsorge der Eltern und ihr Wunsch, gottgefällig zu leben, um den Qualen der Hölle zu entkommen."

Verfasst wurde die Handreichung von Lamya Kaddor, die am Centrum für Religiöse Studien der Uni Münster eine Professur für Islamische Religionspädagogik hat und dem ehemaligen Lehrer für Evangelische Religion, Jörgen Nieland, der heute in der Bezirksregierung Düsseldorf für den Bereich Schulaufsicht zuständig ist. "In muslimischen Familien spielen die Kleidungsvorschriften eine relativ große Rolle", erklären die AutorInnen kategorisch, ohne die Existenz der vielen modernen und aufgeklärten Muslime, denen die "Qualen der Hölle" nicht zu schaffen machen, zu erwähnen. Deshalb gelte: "Wenn muslimische Jugendliche – besonders Mädchen – ihre besondere Rolle und Eigenständigkeit sowie ihre religiöse Bindung durch Kleidung oder Kopftuch ausdrücken wollen, ist dies anzuerkennen und den Mitschülern gegenüber zu vermitteln."

Rund 50 Kilometer süd-westlich von Düsseldorf sitzt Guido Sattler in seinem hellen Büro der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in Leverkusen-Rheindorf und schüttelt über solche Sätze den Kopf. Seit zehn Jahren leitet der Pädagoge die Gesamtschule, die, genau wie die Anne-Frank-Schule, in einem "Stadtteil mit Erneuerungsbedarf" liegt. Sattler wurde damals geholt, um die Schule zu sanieren, deren typisches 80er-Jahre-Schuhkarton-Gebäude ebenso verwahrlost war wie die Gepflogenheiten, die in ihm herrschten. Im Eingangsfoyer, durch das SchülerInnen aller Hautfarben hasten, zeigt heute eine Fotowand die Verwandlung vom maroden, düsteren zu einem modernen, farbenfrohen Haus mit Lichthof und Lehrerarbeitsplätzen. Es wurden Sprachkurse für die Mütter von Migrantenkindern eingerichtet und zwei griechische und sieben türkische LehrerInnen ins Kollegium geholt. Auch Rektor Sattler setzt, ganz wie sein Düsseldorfer Kollege Hinke, auf ein offensives Integrationskonzept. Den "ziemlich bunten Haufen, der wir hier sind", erleben er und sein Kollegium als "äußerst belebend". Er baut gerade eine Schulpartnerschaft zu einer türkischen Schule auf und freut sich über die vielen Impulse, die rund tausend SchülerInnen aus 27 Nationen an seine Schule tragen. Einige dieser Impulse hält der Schulleiter allerdings für problematisch.

Deshalb hat die Käthe-Kollwitz-Gesamtschule einen "Schulvertrag". Den müssen Eltern, die ihr Kind auf der Schule anmelden möchten, unterschreiben. Sie versichern darin zum Beispiel, zu Elternabenden zu erscheinen oder die Hausaufgaben ihres Kindes mindestens einmal wöchentlich zu kontrollieren. Sie verpflichten sich, ihren Sohn oder ihre Tochter am Schwimm- und Sportunterricht teilnehmen zu lassen. Und als letzter Punkt steht dort: "Wir sind eine Schule, die Wert auf angemessene Kleidung legt und das Kopftuchtragen an der Schule nicht wünscht."

Schulleiter Sattler weiß sehr genau, warum er diesen Passus in den Schulvertrag geschrieben hat. Bevor er Direktor der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule wurde, hat er 18 Jahre lang eine Hauptschule in Köln-Höhenhaus geleitet. Dort hatte er tagtäglich gesehen, wie muslimische SchülerInnen gleich nach Schulschluss in die Moschee und in die Koranschulen geschickt wurden. Er hat sich über die "Pascha-Sozialisation vieler junger Herren" geärgert. Und er hat erlebt, dass "das Kopftuch bei 75 Prozent der Mädchen mit Zwang und Indoktrination einherging".

Solche Dinge erwähnt Ebru nicht, als sie erklärt, warum sie seit einem knappen Jahr ein Kopftuch trägt wie ihre Mutter. Die 18-jährige Tochter türkischer Eltern, die in Deutschland aufgewachsen ist, ist eine von rund 20 Schülerinnen, die trotz Schulvertrag mit verhüllten Haaren in die Käthe-Kollwitz-Schule kommt. Ihr Vater geht zum Freitagsgebet in die Moschee und nimmt die Familie dorthin mit. In rasantem Tempo und offenbar nicht zum ersten Mal zählt Ebru ihre Argumente auf. "Ich bin schon immer ein religiöser Mensch gewesen und habe mir dann gesagt: Warum das nicht auch nach außen zeigen?", sagt sie. "Frauen müssen ja im Islam das Kopftuch tragen, denn wir verdecken ja unsere Reize und die Haare gehören dazu." An dem enormen Wulst, der unter dem pinkfarbenen Tuch an Ebrus Hinterkopf sitzt, erahnt man, wie prächtig die Haare des hübschen Mädchens sein mögen. Herr Sattler sage zwar, dass er Religion und Schule trennen möchte. Aber Deutschland sei ja ein demokratisches Land, und sie habe "so was von Glück", dass sie hier lebe und das Kopftuch tragen dürfe. Ein Zeichen für die Unterdrückung der Frau sei das Kopftuch überhaupt nicht. Im Gegenteil: "Im Islam wird die Frau hochgestellt."

Yalda und Eddy, Ebrus MitschülerInnen, haben zu diesem Thema andere Geschichten aus ihren Familien zu erzählen. Eddy ist Kosovo-Albaner. Seine Mutter durfte in ihrer Heimat nur drei Jahre zur Schule gehen. "Und wenn sie einkaufen gehen wollte, musste sie um Erlaubnis fragen." Wenn er heute in den Kosovo kommt, stellt er fest, dass sich für die Frauen einiges geändert hat, zumindest in der Stadt. Die arbeiteten jetzt in Boutiquen und Banken. "Aber in Deutschland versuchen die Kosovo-Albaner, an den alten Traditionen festzuhalten. Das finde ich so schade!", sagt der 18-Jährige, der nach dem Abi gern Journalist oder Event-Manager werden möchte. Gut findet er, dass seine Schwester neue Wege geht. "Die hat eine Ausbildung und einen Führerschein und will auch kein Kopftuch tragen." Als Ebru plötzlich mit ihrem Kopftuch in der Schule auftauchte, war Eddy zunächst irritiert. "Ich habe sie gefragt ob sie das freiwillig macht. Sie hat Ja gesagt. Und dann finde ich es okay."

Wie schnell Freiwilligkeit zum Zwang werden kann, hat Yalda am eigenen Leib erlebt. Sie ist Afghanin. Ihre ersten zwei Lebensjahre hat die 17-Jährige in Russland verbracht. Ihre Mutter, von Haus aus Schuldirektorin, hatte eine Nähfabrik, in der sie die Frauen nach dem Einmarsch der Taliban abends heimlich unterrichtete. Nachdem das entdeckt wurde, musste sie "ganz schnell raus", erzählt Yalda. Die Familie ging zunächst ins russische Exil und dann nach Deutschland. In ihrer Familie, sagt Yalda feixend, "hat meine Mutter die Hosen an. Sie sagt mir auch immer, ich müsste nicht kochen lernen." Nicht, dass Yalda das vorgehabt hätte. Sie möchte Pilotin werden. Oder vielleicht doch lieber Modedesignerin?

Heute trägt Yalda ein Strassherz um den Hals, große Silberohrringe und einen breiten Ledergürtel zum ärmellosen schwarzen Top. Wenn sie sagt, dass auch sie Muslimin ist, hört sie oft den Spruch: "Du siehst aber gar nicht so aus!" Das findet sie "schade". Und bei allem Selbstbewusstsein, dass Yalda ausstrahlt, ist ihr anzumerken, dass sie an diesen Sprüchen zu knapsen hat.

Auch Sahia, die vierte in der Runde, die sich heute morgen in Guido Sattlers Direktorenbüro versammelt hat, um über die Sache mit dem Kopftuch zu reden, scheint sich nicht mehr hundertprozentig wohl zu fühlen damit, dass sie ihre langen braunen Haare offen trägt. "Mächtig Respekt" hat die Tochter marokkanischer Eltern vor Ebrus Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen. Sie selbst fühle sich "noch nicht bereit dazu".

Schulleiter Sattler in Leverkusen-Rheindorf sieht täglich, wie sein Kollege in Düsseldorf-Flingern, wie der Druck auf die Mädchen wächst. Das kann auch Fatma Bläser nur bestätigen. Seit die Kurdin, die im Alter von acht Jahren aus Ostanatolien nach Deutschland kam, 1999 in ihrem Buch "Hennamond" die Geschichte ihrer Befreiung vom despotischen Vater und ihrem Leben zwischen zwei Kulturen erzählt hatte, haben sich Hunderte Frauen und Mädchen hilfesuchend an sie gewandt. Bläser, die heute in Leverkusen lebt, gründete den Verein "Hennamond", berät Polizei, Jugendämter und LehrerInnen und tingelt durch die Schulklassen. Dort erlebt sie, dass "die Ehrvorstellungen in den letzten Jahren immer stärker geworden sind. Schüler setzen Schülerinnen massiv unter Druck, indem sie verbreiten, diese hätten sich unehrenhaft verhalten, sie seien eine ‚Schlampe‘. Als ‚Schlampe‘ gilt auch, wer kein Kopftuch trägt". Druck komme aber nicht nur von den Jungen, sondern auch von den Mädchen. "Auf den Schulhöfen findet Grüppchenbildung statt: Schülerinnen, die Kopftuch tragen, separieren sich von denen, die keines tragen. Da geht ein Mädchen auf ein anderes los, die sich gerade gegen das Kopftuch ausgesprochen hat. Sie beschimpft sie und fragt, ob denn alle das Kopftuch ablegen und so leben sollen wie sie, nämlich wie eine Hure."

Weil er nicht will, dass eine solche Atmosphäre irgendwann auch an seiner Schule herrscht, "möchte ich nicht, dass hier irgendwann die Hälfte der Mädchen mit Kopftuch sitzt", sagt Schulleiter Sattler. Genauso wenig, wie er sich drängen lassen will, Mädchen und Jungen im Sport- oder Schwimmunterricht zu trennen, wie es die Handreichung des NRW-Integrationsbeauftragten im Konfliktfall vorschlägt. Da heißt es: "Beim Schwimmen, aber auch bei anderen Formen des koedukativen Sporttreibens kann bei ausdrücklichen Einwänden von Eltern und Schülerinnen versucht werden, den Sportunterricht durch geschickte Organisation zeitweise anstatt im Klassenverband in geschlechtshomogenen Übungsgruppen durchzuführen." Das kommt für den Schulleiter nicht in Frage. "Die Koedukation ist ein Wert, für den wir viele Jahre gekämpft haben", sagt er. "Gerade wir als Ganztagsschule haben doch die Chance, dass sich die Geschlechter hier ganz normal begegnen können. Diese Chance müssen wir nutzen."

Rechtlich bewegt sich all das in einer Grauzone. Wie sein Düsseldorfer Kollege fühlt sich auch Guido Sattler vom Gesetzgeber alleingelassen. So weiß Sattler von dreien seiner Kopftuch-Schülerinnen definitiv, dass sie es "nicht ganz freiwillig tun". Ändern kann er daran nichts. Denn Schulvertrag hin oder her: "Wenn es hart auf hart kommt, ziehe ich den Kürzeren." Will heißen: Einen Rechtsstreit würde die Schule bei der derzeitigen Rechtslage mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verlieren. Deshalb wünscht sich der Leverkusener Schulleiter eine klare gesetzliche Regelung, wie es das laizistische Nachbarland Frankreich schon 2004 verabschiedet hat: Kopftücher haben in der Schule nichts zu suchen. "Das würde es mir leichter machen", sagt er. "Und es würde vielen Schulleitern aus diesen Zerreißproben helfen."

So, jetzt muss Guido Sattler aber los. Die Delegation der türkischen Partnerschule aus Urdus muss jeden Augenblick eintreffen. Wie viele Lehrerinnen dabei sein werden, weiß er nicht. Eins aber weiß er genau: Keine von ihnen wird ein Kopftuch tragen.

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