Alice Schwarzer schreibt

Geschlecht oder Freiheit?

© Adam Ferguson
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Es ist noch Frühling, aber ich weiß schon jetzt, was mein Buch des Jahres ist, nämlich: „Afghanistans verborgene Töchter“ von Jenny Nordberg. Die in New York arbeitende Schwedin hat sich für zwei Jahre nach Afghanistan begeben – und ein Buch veröffentlicht, das eine mitreißende Mischung ist aus Reportage, Studie und Essay – und eine Quelle der Erkenntnis.

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Nordberg widmet ihr Buch „jedem Mädchen, das herausgefunden hat, dass es in Hosen schneller laufen und höher klettern kann“. Solche Mädchen gibt es sogar in Afghanistan, dem Land, in dem die Frauen ans Haus gekettet sind und in der Öffentlichkeit unsichtbar unter der Burka. Allerdings müssen diese Mädchen für die Freiheit zu laufen und zu klettern die Seite wechseln: Sie müssen als Jungen leben.

In Amerika nennt man sie Tomboy, in Frankreich Garçon manqué

„Bacha Posh“ werden solche Jungen auf Zeit in Afghanistan genannt. In Amerika nennt man sie Tomboy und in Frankreich Garçon manqué (verpasster Junge). Nur in Deutschland, dem Land der Gretchen und ihrer Töchter und Enkelinnen, gibt es bezeichnenderweise noch nicht einmal einen Namen für die Geschlechtsrollen-Wechslerinnen.

Doch ist es auch in Afghanistan keineswegs so, dass die Bacha Posh ein bekannter Begriff wären. Man muss schon so unerschrocken und behutsam zugleich recherchieren, wie die kühne Schwedin es getan hat, um ihnen auf die Spur zu kommen. Und siehe da, wo eine Bacha Posh ist, da ist noch eine und noch eine. Oft ahnen oder wissen es auch Nachbarn oder LehrerInnen, doch es wird toleriert, was die Familie des Tomboys entschieden hat.

Denn es sind die Familien, genauer gesagt die Väter, die diese Töchter ausbrechen lassen in die Freiheit der Söhne. Die Mütter alleine hätten gar nicht die Macht dazu. In Afghanistan ist es in der Regel ein Ausbruch auf Zeit, bis zur Pubertät, zum Schock der ersten Periode. Will ein Mädchen dann nicht zurückkehren in das Gefängnis der Frauenwelt, sondern weiterhin in der Welt der Männer leben, wird es schwierig. Sehr schwierig.

Die Motive von Mehran, Nadar, Shukris oder Shuhud, als Junge zu leben, sind unterschiedlich. Mal braucht die Familie nach einer Reihe von verachteten Mädchen-Geburten einfach dringlich einen Sohn, zu ihrer Ehrenrettung. Mal muss eines der in der Regel vier bis acht Kinder im Laden des Vaters mitarbeiten, damit die Familie genug zu essen hat – aber das darf nur ein Junge. Mal ist das Mädchen selber auch von Anfang an auffallend wild und selbstbewusst, und man lässt es gewähren. Oder ein aufgeklärter Vater hatte früher einfach selber Spaß an einer intelligenten Tochter und ermutigte sie, sich als Mann auf Zeit Freiheiten zu nehmen, die sie als Frau selbst im einst modernen Kabul nicht gehabt hätte. Das war in der Zeit der Sowjets in Afghanistan, die darauf drangen, dass die Mädchen die gleiche Bildung und Frauen die gleichen Chancen erhielten.

Die Reporterin spürt die Bacha Poshs auf, nähert sich ihnen mit Respekt und beobachtet sie sehr genau. Ihre Studien dieses „Doing Gender“, wie die Genderforschung das Erlernen der Geschlechtsrollen nennt, stellt Hunderte von akademischen Studien in den Schatten. Nordberg studiert sowohl den Schritt vom biologischen Mädchen hin zum sozialen Jungen – als auch den vom „Jungen“ zurück zur „Frau“. Die Stimmen der Jungen sind tief, ihre Schritte sind groß, ihre Bewegungen sind ausladend, egal welchen biologischen Geschlechts sie sind. Die Stimmen der Mädchen sind kaum hörbar und hell, ihre Schritte trippelnd, der Kopf ist gesenkt. Die Autorin selbst, die in New York lebende Schwedin, wird unter der Burka für einen Mann gehalten: zu aufrechter Gang, zu große Schritte, zu raumgreifende Bewegungen.

Ganz en passant vermittelt Nordberg uns gleichzeitig nicht nur die so wechselvolle Geschichte von Afghanistan, sondern auch das quasi geheime Wissen um die Welt der Frauen. Denn die findet bis heute in keinem Geschichtsbuch, keiner wissenschaftlichen Studie, kaum einem Artikel einen Niederschlag. Die Frauenwelt in Afghanistan ist eine No-Go-Area für AusländerInnen.

Und auch die jüngere Geschichte Afghanistans ist überraschend. Wer weiß schon, dass König Amanullah Khan bereits in den 1920er Jahren versuchte, die Gleichberechtigung in Afghanistan einzuführen und Königin Soraya sich damals demonstrativ öffentlich das Kopftuch vom Kopf riss? Wer erinnert sich, dass König Mohammed Zahir Shah 1964 in Afghanistan die Gleichberechtigung und das Frauenwahlrecht einführte und privilegierte Afghaninnen zum Studium ins Ausland geschickt wurden? Und es ist ja noch nicht so lange her, dass in der „russischen Zeit“, in den 1980er Jahren, die Afghaninnen sich so frei bewegen konnten wie die Männer, dass sie studierten und Liebesheiraten eingingen.

Allerdings war die Modernisierung immer beschränkt auf die Städte, auf dem Land tickten die Uhren weiterhin anders. Das afghanische Patriarchat war dort unerschüttert. Die Frauen blieben Besitz des Vaters oder Ehemannes, und innerhalb der Familien regierten mit harter Hand die Schwiegermütter.

Immer wieder macht Nordberg auch Ausflüge in die Geschichte des Westens, wo noch vor wenigen Generationen ähnliche Verhältnisse herrschten, und es ebenfalls noch nicht so lange her ist, dass Frauen, die lernen und frei sein wollten, Männer sein mussten. Auch im Westen kam damals nicht selten erst beim Tod der tapferen Piratin oder Kriegerin heraus, dass unter der Uniform ein Busen steckte.

Im heutigen Afghanistan begleiten wir zusammen mit der Autorin den Lebensweg von Azita, die in der „russischen Zeit“ vom Vater, einem Universitätsprofessor, zum Studium ermutigt, im nahenden Krieg jedoch an einen analphabetischen Cousin zwangsverheiratet wird und Mutter von vier Töchtern. Darunter Mehran, die Jüngste, die sie zum Bacha Posh macht, wie sie es einst selber war. Azita schafft es, trotz widrigster Umstände, Abgeordnete zu werden. Doch sie fällt einem Wahlbetrug zum Opfer – und zurück in die harten Hände ihres schwachen, grausamen Mannes. Was wohl wird aus Mehran werden, ihrer jüngsten Sohn-Tochter?

Und wir folgen Nadar und Shahud, Informatikerin und Polizistin, die nicht mehr zurück wollen in die Enge der Frauenrolle und es nun, mit Mitte dreißig, fast geschafft haben. Denn wenn eine afghanische Frau erstmal nicht mehr heiratbar, weil nicht mehr gebärfähig ist, lässt man sie gewähren. Sie darf weiterhin ein Männerleben führen.

Ihrem Kapitel über die „Väter“, für Jenny Nordberg Schlüssel zur Frauenemanzipation, stellt die Autorin folgendes Motto voran: „‘Du kannst, wenn du willst.‘ – Ein Vater zu seiner Tochter in den achtziger Jahren auf einer Skipiste in Schweden.“ Anzunehmen, dass Jennys Vater diesen Satz gesagt hat. Und der ist auf sehr fruchtbaren Boden gefallen.

Mal ganz abgesehen davon, dass Nordberg eine brillante Autorin ist (und zu recht Pulitzer-Preisträgerin), ist sie auch eine unerschrockene Reporterin, die die luxuriösen Ausländer-Gettos in Kabul, auch der NGOs, mit Verachtung schildert. Sie wagt es, das Alltagsleben der Menschen in Afghanistan zu teilen.

Ein Buch, das keine und keiner verpassen sollte. Und schon gar nicht die Bacha Poshs dieser Welt.

Alice Schwarzer

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Jenny Nordberg: „Afghanistans verborgene Töchter. Wenn Mädchen als Söhne aufwachsen“. Übersetzung: Gerlinde Schermer-Rauwolf/Robert A. Weiß (Hoffmann und Campe, 22 €)

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Sie wagen den Widerstand

Shamsia (Mitte) geht weiter zur Schule - trotz der Bedrohung. - © Danfung Dennis
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Shamsia Husseini und ihre Schwester Atifa sind auf dem Weg zur Schule, als plötzlich zwei Männer auf einem Motorrad neben ihnen stoppen. "Geht ihr zur Schule?" fragt der auf dem Rücksitz – und noch bevor die Mädchen antworten können, reißt er Shamsia die Burka vom Leib und schüttet ihr ätzende Säure ins Gesicht.

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Das war im November 2008. Seither ist Shamsias linke Gesichtshälfte schwer entstellt und sie sieht schlecht, kann kaum lesen. Doch das kann sie nicht hindern, weiterhin Tag für Tag über die schlammigen Straßen zur örtlichen Mädchenschule zu gehen, an der Seite von Atifa. Ihre Eltern ermutigen sie. "Meine Eltern haben gesagt, ich soll weiter zur Schule gehen – selbst wenn Lebensgefahr droht", sagt die 17-jährige Shamsia nicht ohne Stolz. Ihre Mutter kann, wie die meisten Frauen in der Region, weder lesen noch schreiben. Und die Tochter hat verstanden: "Die Menschen, die mir das angetan haben, wollen nicht, dass Frauen lernen. Sie wollen, dass wir dumme Dinger bleiben."

Shamsia ist nicht die Einzige, die es getroffen hat. Insgesamt 15 Schülerinnen und Lehrerinnen sind auf dem Weg in die Mirwais-Schule attackiert und verunstaltet worden. Und das Wunder ist: Fast alle der 1.300 Schülerinnen gehen heute wieder zur Schule. Sie trotzen ihrer Angst – und den Taliban.

In den fünf Jahren, seit die Mirwais-Schule für Mädchen in Kandahar von der japanischen Regierung gebaut wurde, scheint so etwas wie eine soziale Revolution stattgefunden zu haben. Selbst als die Taliban ihre Schlinge immer enger um die Region Kandahar ziehen, strömen die Mädchen jeden Morgen zur Schule. Viele von ihnen laufen täglich über drei Kilometer von ihren Ziegelhäusern in den Bergen bis hinunter ins Tal. Wenn die Mädchen dann auf den von Mauern umgebenen Schulhof stürmen, werfen die meisten von ihnen ihre alles verhüllenden Gewänder ab, hüpfen und albern herum auf eine Art, die draußen, außerhalb des Schulgebäudes unvorstellbar ist, für Mädchen und Frauen jeden Alters.

In Mirwais gibt es keine Elektrizität, kein fließendes Wasser und keine befestigten Straßen. Frauen sieht man nur selten in der Öffentlichkeit, und wenn, sind sie in Burkas gehüllt, die ihre Körper formlos und ihre Gesichter unsichtbar machen. Und so war es besonders bedrohlich, als am 12. November vergangenen Jahres sechs Männer begannen, zu zweit auf Motorrädern rund um die Schule zu kreisen. Eines der Teams verwendete eine Spraydose, ein anderes eine Spritzpistole, das dritte einen Krug – gefüllt mit Säure. Sie verletzten insgesamt elf Mädchen und vier Lehrerinnen; sechs von ihnen mussten ins Krankenhaus. Shamsia traf es am schlimmsten.

Die Angriffe scheinen das Werk der Taliban zu sein, der fundamentalistischen Bewegung, die die Regierung und die amerikanisch-geführte Koalition bekämpfen. Die Verbannung von Mädchen aus der Schule war eines der ersten Akte der Taliban-Herrschaft, bevor sie im November 2001 entmachtet wurden. Neue Schulen zu bauen und sicherzustellen, dass Kinder – und vor allem Mädchen – sie besuchen, war darum eines der Hauptziele der neuen afghanischen Regierung und der Nationen, die zu Afghanistans Wiederaufbau beigetragen haben. Manche Schülerinnen der Mirwais-Schule sind um die zwanzig. Sie gehen zum ersten Mal in ihrem Leben zur Schule.

Gleichzeitig mit der Ausbreitung des Guerilla-Krieges in Süd- und Ostafghanistan machten die Taliban Schulen zu ihren besonderen Angriffszielen. Doch wer genau hinter den Säureattacken steckt, ist unbekannt. Die Taliban bestreiten, daran beteiligt zu sein. Die Polizei inhaftierte acht Männer und kurz danach veröffentlichte das Innenministerium ein Video, in dem zwei Männer die Tat gestanden. Einer behauptete, er sei von einem Polizisten bezahlt worden, der ihn im Namen des pakistanischen Geheimdienstes beauftragt hätte, das Säure-Attentat auszuführen. Auf einer nachfolgenden Pressekonferenz sagte Präsident Hamid Karzai jedoch, es gäbe keine Anzeichen für eine pakistanische Einmischung.

Eines jedoch ist sicher: In den Monaten vor dem Überfall waren die Taliban in das Gebiet um Mirwais und andere Außengebiete der Provinz Kandahar, ihrer ehemaligen Hochburg im Süden Afghanistans, vorgerückt. Und mit ihnen tauchten die Poster in den örtlichen Moscheen auf, mit dem Aufruf: "Lasst eure Töchter nicht zur Schule gehen!"

In den ersten Tagen nach dem Angriff stand die Mirwais-Schule für Mädchen leer, die Eltern wagten es nicht, ihre Töchter nach draußen zu lassen. Da schritt der Schulleiter, Mahmood Qadari, zur Tat. Nachdem er vier Tage in den leeren Klassenräumen gestanden hatte, berief er eine Versammlung der Eltern ein. Hunderte kamen – Väter und Mütter – und Qadari appellierte an sie, ihre Töchter wieder zur Schule zu schicken. Nach zwei Wochen kamen die ersten zögernd zurück.

Also erbat Mr. Qadari, dessen eigene drei Töchter im Ausland leben, die Unterstützung der örtlichen Regierung. Der Gouverneur versprach, mehr Polizisten patroullieren zu lassen, eine Fußgängerbrücke über eine verkehrsreiche nahe gelegene Straße zu bauen und einen Bus einzusetzen, der die Mädchen zur Schule bringen sollte. Qadari berief ein weiteres Treffen ein und sagte den Eltern, dass es nun keinen Grund mehr gäbe, ihre Töchter zu Hause zu halten. "Ich erzählte ihnen, wenn ihr eure Töchter nicht zur Schule schickt, gewinnt der Feind", erklärte der Schulleiter. "Ich bat sie, nicht der Dunkelheit zu erliegen. Bildung ist der Weg, unsere Gesellschaft zu verbessern."

Diese Worte erreichten die Eltern von Mirwais. Auch wenn weder der Bus, noch die Polizeistreifen, noch die Brücke in die Tat umgesetzt wurden, tauchten die Mädchen trotzdem wieder in der Schule auf. Nur wenige blieben ganz weg, darunter drei, die bei den Attentaten verletzt worden waren. "Ich will nicht, dass die Mädchen herumsitzen und ihr Leben wegwerfen", sagt Ghulman Sekhi, ein Onkel von Shamsia und deren Schwester Atifa, die auch verätzt wurde.

Trotz der Bedrohung vor ihren Mauern pulsiert in der Schule jetzt das volle Leben. Die 40 Klassenräume sind so voll, dass der Unterricht auch noch in vier Zelten im Hof, gespendet von Unicef, abgehalten wird. Jetzt lässt der afghanische Bildungsminister ein festes Gebäude bauen.

Kürzlich wurden in der Schule einige Prüfungen abgehalten. In einem Klassenraum, einer Geographieklasse, stellt eine Lehrerin Fragen, die Schülerinnen hören zu und schreiben ihre Antworten auf Papier. "Wie heißt die Hauptstadt von Brasilien?" fragt die Lehrerin Arja, während sie im Klassenraum auf und ab geht. Oder: "Wie viel mal ist Amerika größer als Afghanistan?"

An einem Pult in der vordersten Reihe sitzt Shamsia, das Mädchen mit dem verätzten Gesicht. Sie hält die hohle Hand über ihre Narbe. Aus Scham. Die Ärzte haben Shamsia, deren Name "Sonnenschein" bedeutet, gesagt, dass ihr Gesicht operiert werden muss, um die Narben verschwinden zu lassen. Ein ferner Traum: Shamsias Dorf hat noch nicht einmal Elektrizität, ihr Vater ist arbeitslos.

Nach der Unterrichtsstunde mischt sich Shamsia unter die anderen Mädchen, sie stehen herum, lachen und scherzen. Sie wirkt unbefangen, trotz ihres entstellten Gesichts, bis sie beginnt, von ihrem Leidensweg zu erzählen. "Die Leute, die das getan haben", sagt sie, "fühlen nicht den Schmerz von anderen."

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