Gewalt gegen Schülerinnen

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Wenn du als Schlampe, Fotze und Hure beschimpft wirst, geh, wenn es in der Schule ist, erst zu deinen Freunden, dann zum Lehrer, danach zu den Eltern, wenn es sein muss, auch zum Rektor/zur Rektorin. Hilft nicht immer, es gibt Lehrer, denen es egal ist.“

Wie das Mädchen heißt, das diesen Kommentar ans Ende ihres anonymen Fragebogens geschrieben hat, weiß Sabine Maschke nicht. Aber eins weiß die Professorin für Erziehungswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg genau: Die beschimpfte Schülerin ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: 40 Prozent aller Neunt- und Zehntklässlerinnen, die Maschke befragt hat, gaben zu Protokoll: „Jemand hat über mich sexuelle Kommentare, Beleidigungen, Witze oder Gesten gemacht.“ Doch trotz dieser erschreckenden Zahl kann die Professorin den resignierten Kommentar des Mädchens nur bestätigen: „Die Lehrkräfte nehmen das oft nicht als Gewaltform wahr.“

Auch deshalb wurde es Zeit für diese Studie. Denn die sexuelle Gewalt gegen (meist weibliche) Jugendliche durch (meist männliche) Jugendliche ist in Deutschland kaum erforscht. Die Befragung von über 2.700 SchülerInnen an 53 hessischen Schulen ist eine erfreuliche Ausnahme und ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Maschke und ihr Kollege, der empirische Bildungsforscher Ludwig Stecher von der Justus-Liebig-Universität Gießen hatten mit einigem gerechnet, als sie ihre Befragung begannen. Dennoch: „Es hat uns überrascht, wie sehr sexualisierte Gewalt die Lebenswelt der Teenager durchdringt.“

Darüber muss endlich gesprochen werden. Deshalb ist der Titel der Studie über „Sexualisierte Gewalt in der Erfahrung Jugendlicher“ von Maschke und Stecher gleichzeitig ein Appell: „Speak!“ Sprecht!

Nun haben die Neunt- und ZehntklässlerInnen aller Schulformen (mit Ausnahme der Förderschulen, die in einer Folgestudie an der Reihe sein werden) also gesprochen.

Da ist zunächst die „nicht-körperliche sexualisierte Gewalt“.

Zu den 40 Prozent Mädchen, die sexuelle Kommentare und Beleidigungen über sich ergehen lassen mussten, kommen hinzu: Jede dritte, die erklärt: „Ich wurde im Internet (z. B. Facebook, Instagram, Snapchat) sexuell angemacht oder belästigt.“ Jede sechste beklagt: „Jemand hat über mich Gerüchte sexuellen Inhalts verbreitet.“ Und jede siebte sagt: „Jemand hat mich auf eine negative Art als ‚lesbisch‘ bezeichnet.“

Letzteres ist übrigens die einzige Form nicht-körperlicher Gewalt, bei der die Jungen stärker betroffen sind als die Mädchen. Als „schwul“ beschimpft wurde jeder vierte Junge.

Auch die „körperliche sexualisierte Gewalt“ gehört für viele Mädchen zum Alltag. Jede dritte wurde „gegen meinen Willen in sexueller Form am Körper berührt“, sprich z. B. an Brust oder Po „angetatscht“, jede zehnte an der Scheide. Jede sechste sagt: „Jemand hat mich dazu gebracht, sein Geschlechtsteil anzusehen, obwohl ich das nicht wollte.“

Ebenfalls jede zehnte erklärt: „Jemand hat versucht, mich zum Geschlechtsverkehr zu drängen oder zu zwingen.“ Jedes 30. Mädchen berichtet von einem erzwungenen Geschlechtsverkehr, das bedeutet: Den ForscherInnen wurden rund 40 Vergewaltigungen zu Protokoll gegeben.

Natürlich finden nicht alle diese Übergriffe in der Schule statt. Aber doch sehr viele. Bei der nicht-körperlichen Gewalt steht die Schule auf Platz 1. Über die Hälfte der Betroffenen geben an, dass Klassenzimmer und Pausenhof die Orte sind, an denen sie die sexuellen Beleidigungen, Witze und oder Gesten über sich ergehen lassen müssen.

„Sexualisierte körperliche Gewalt“ erlebt jedeR vierte Betroffene an der Schule, sprich: Antatschen, unerwünschte Küsse und Schlimmeres. Damit steht die Schule als „risikoreicher Tatort“ auf Platz Nr. 3 (nach der Straße und Wohnung/Party).

„Wehre dich & lauf nie allein herum. Hab immer Freund/Freundin bei dir (egal wenn du nur zur Toilette möchtest)“, schreibt eine Schülerin ans Ende ihres Fragebogens. Fast dreimal so viele Mädchen (29 %) wie Jungen (12 %) geben an, mit Trauer, Scham und Misstrauen unter den Folgen der erlebten Gewalt zu leiden, manchmal monatelang.

Umso überraschender, man könnte auch sagen: bedrückender, dass die SchülerInnen sich in ihrer Not nicht an diejenigen wenden, die am Tatort sind: an ihre Lehrerinnen und Lehrer. Zwar hat über die Hälfte der betroffenen Schülerinnen über die erlebte Gewalt gesprochen, nur eben nicht mit denen, die vor Ort helfen und eingreifen könnten – und müssten. Erziehungswissenschaftlerin Maschke sieht eine Ursache dafür in der Ignoranz der Lehrkräfte. „Die sehen diese Übergriffe teilweise schon“, weiß die Forscherin. „Aber sie sagen dann: ‚Na ja, die gehen halt ein bisschen rauer und derber miteinander um.’ So eine Haltung gibt einem die Möglichkeit, wegzuschauen. Aber es ist wichtig, in Zukunft hinzuschauen!“

Das findet auch die Schülerin, die in ihrem Fragebogen fordert: „Ich finde, dass die Lehrer besser aufpassen müssen, was manche Schüler sagen. Von einer Schülerin wurde ich oft als Lesbe beleidigt und von einem Jungen (Schüler) angetatscht. Das soll aufhören.“

„Die Sensibilität muss sich erhöhen“, fordert auch Erziehungswissenschaftlerin Maschke. Und dann müssen Taten folgen. „Die Schule erreicht alle jungen Menschen. Gerade darin liegt ihre Chance, in der Präventionsarbeit die zentrale Rolle zu übernehmen.“ Schließlich habe die Schule wie kein anderer Ort die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Zum Beispiel auf die „Geschlechterbilder, die solchen sexuellen Übergriffen zugrunde liegen“.

So schreibt eine Schülerin: „Aufgefallen ist mir, dass gerade in der Schule Mädchen beigebracht bekommen, nicht vergewaltigt zu werden – anstatt Jungen beigebracht wird, nicht zu vergewaltigen.“

Ein Faktor, der die Wahrscheinlichkeit für sexuelle Übergriffe messbar erhöht, ist: ein hoher Pornokonsum. Auch das ist ein klares Ergebnis der Studie: „Die -Jugendlichen, die als Aggressoren in -Erscheinung treten, gehören signifikant häufiger als andere zu der Gruppe von -Jugendlichen, die sich öfter Pornos -anschauen.“

Natürlich ist das Geschlechtergefälle beim Pornokonsum enorm: Während zwei von drei Mädchen nie Pornos schauen (und jeder fünfte Junge), konsumiert jeder zweite Junge „öfter“ Pornografie. Knapp 40 Prozent der Schüler, die „fast täglich“ Pornos schauen, sind der Ansicht: „Ich kann dabei viel über Sexualität lernen.“ Jeder dritte hat „Dinge gesehen, die ich lieber nicht gesehen hätte“. Jeder vierte Vielgucker findet „nur noch Körper schön, die ich in Pornos sehe“. Und jeder siebte merkt, „dass ich immer mehr Pornos brauche“.

„Es ist enorm wichtig, über diese Dinge zu reden!“ sagt Sabine Maschke. Sie fordert Workshops und Fortbildungen für LehrerInnen, um „Programme zu entwickeln, die haltungsverändernd sind“. Die Schüler, denen ihr Pornokonsum ja selbst Probleme mache, und die Schülerinnen, die oftmals unter den Folgen leiden, dürften nicht auf sich allein gestellt bleiben. „Die brauchen Erwachsene, die eine Haltung haben und Antworten geben!“

Das Thema sexuelle Gewalt gehöre in die Lehrpläne. Die Hälfte der befragten SchülerInnen hatte beklagt, im Unterricht „noch nie“ über dieses Thema gesprochen zu haben. „Dabei gibt es gute Programme“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin. Aber die seien an den Schulen „nicht -implementiert. Dabei wünschen sich die Jugendlichen, mehr über das Thema zu -erfahren. Vor allem die Mädchen, weil sie stärker betroffen sind!

Ein Indiz dafür, dass die Erziehungswissenschaftlerin richtig liegt: Fast alle 2.719 befragten SchülerInnen haben den 40-seitigen Fragebogen bis zum Ende -beantwortet. Und eine Schülerin fügte hinzu: „Ich kenne einige Leute, die Pro-bleme in der Hinsicht sexuelle Gewalt -haben. Auch in unserer Klasse, deswegen hoffe ich, dass sie durch die Studie zur Vernunft kommen und sich helfen lassen.“ In diesem Sinne: Speak!

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