Schreiben war das Unverlierbare

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Die Frau hat Power, war mein erster Eindruck, als ich vor mehr als dreißig Jahren Hilde Domin zum ersten Mal bei einer Lesung und einem Glas Wein danach begegnete. Ein quirliges Wesen in den Sechzigern, eine faszinierende Mischung zwischen mädchenhaftem Irrwisch und souveräner Dame. Ein Eindruck, der sich im Verlauf der Jahrzehnte mit jedem Treffen festigte, wobei sich eine Eigenschaft immer stärker ausprägte: Hildes Domins Souveränität. Man muss sie erlebt haben, wie sie einen Kellner dazu bringen konnte, draußen – obwohl nur drinnen gedeckt war – zu servieren und zwar Frühstück, obwohl schon alles abgeräumt war.

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Woher erwuchs Hilde Domin diese Souveränität? Hören wir, was sie in ihren autobiografischen Aufzeichnungen selbst dazu sagt: "Irgendwann war ich zuhause und auch gut zuhause. Das war in Köln, in der Riehler Straße. Dort haben mich meine Eltern mit dem Vertrauen versorgt, dem Urvertrauen, das unzerstörbar scheint und aus dem ich die Kraft des Dennoch nehme."

1912 wurde Hilde Domin hier in eine bürgerliche Familie geboren, der Vater ist Rechtsanwalt, mit einem unbeugsamen Willen zur Gerechtigkeit. Die Mutter, als Sängerin ausgebildet, hatte, so die Autorin, "ein Temperament, das war des Bombenwerfens fähig". Dass sich das väterliche Erbteil bei der Autorin wiederfindet, ist bekannt, die Veranlagung mütterlicherseits ihr zuzutrauen.

Nach dem Abitur 1929 studiert Hilde Domin zunächst Jura, dann Nationalökonomie, Soziologie und Philosophie. Ihre wichtigsten Lehrer waren Karl Jaspers und Karl Mannheim. Studienorte sind Köln-Bonn, Berlin und Heidelberg, wo sie ihren späteren Mann, Erwin Walter Palm, Student der klassischen Archäologie, kennenlernt. Mit ihm geht sie 1932 in sein Arbeitsgebiet Rom.

Ein Jahr später, nach der NS-Machtergreifung, wird für die junge Frau aus einer jüdischen Familie, die bis dahin kaum einmal eine Synagoge besucht, aber Weihnachten gefeiert hatte, Italien zum Exil. 1935 promoviert sie in Florenz in Politikwissenschaften über einen Vorläufer Macchiavellis, verzichtet jedoch auf eine wissenschaftliche Laufbahn, um als "Assistent" ihres Mannes (wie sie selbstironisch sagte) dessen Studien zu unterstützen. Daneben gibt Hilde Domin Sprachunterricht und verdient Geld als Übersetzerin.

1939 wird der Aufenthalt im faschistischen Italien unmöglich, ein Jahr schlägt man sich, auch mit Hilfe der Eltern, die ebenfalls hierher geflohen sind, nach England durch; ab 1940 wird die Dominikanische Republik zum Dritten Asylland, 14 lange Jahre.

Hier, 39 Jahre nach ihrer Geburt, kommt Hilde Domin 1951 als Dichterin zur Welt. Es war nicht, oder doch nicht nur und wohl nicht einmal vor allem das Exil, das diese Metamorphose, diesen Beginn einer neuen Existenz, dieses "zweite Leben" wie Hilde Domin es nennt, initiierte. Mehr noch war es wohl der Verlust des Ersten Paradieses, waren es schmerzliche persönliche Erlebnisse. Als dann noch die Nachricht vom Tod der Mutter eintrifft, erwächst der Verlassenen, der doppelt Heimatlosen, die Kraft "zu sagen, was ich leide".

"Schreiben war Rettung", lesen wir. "Plötzlich hatte ich die Sprache, der ich so lange gedient hatte. Ich hatte Sprachen gewendet wie andere Kleider. Ich wußte, was ein Wort ist. Ich befreite mich durch Sprache. Hätte ich mich nicht befreit, ich lebte nicht mehr."

Von da an war für Hilde Domin die Sprache das "Unverlierbare, nachdem alles andere sich als verlierbar erwiesen hatte ... Die Sprache ist die äußerste Zuflucht." Hilde Domin hatte eine zweite Heimat gefunden: den Halt im Wort. "Nur eine Rose als Stütze" lautet der Titel ihres ersten Gedichts, das nach ihrer Rückkehr 1959 in Deutschland erschien. Heute sind ihre Gedichte in 15 Sprachen übersetzt.

Bereits in der ersten Gedichtsammlung von Hilde Domin begegnen wir einem starken, seiner selbstbewusstem Ich. Nie werde ich vergessen, wie Hilde Domin mir einmal sagte: "Wenn Sie so allein leben, müssen Sie besonders gut zu sich sein. Schauen Sie, wenn ich einmal allein sein muß, stelle ich mir jeden Morgen eine Rose auf den Frühstückstisch."

Dieses liebevolle, selbstgewisse Ich kann nun auch wieder Du und sogar Wir sagen, ohne sich selbst aufzugeben. Ein Ich, das den Mut hat zu einem zweiten Paradies. Den Mut zu einem sehr kostbar gewordenen Wir. "Zu zweit ist man beschützter", lesen wir in ihren Aufzeichnungen über das Exil. Doch gilt dies für das Leben schlechthin. Als Hilde Domin mit Erwin Palm nach Deutschland zurückkommt und der Bruder sie am Bahnhof abholt, notiert sie: "Was ich nie vergessen werde: wie ich im Auto plötzlich zwischen zwei Männern saß, die beide zu mir gehörten, die offene Flanke gegen die Welt geschützt."

Der Rückgewinn des Paradieses verleitet Hilde Domin aber keineswegs zum Rückzug in die Idylle. Vielmehr macht es sie stark für das Leid anderer, für den Blick auf weniger Beschützte. Aus dem Du, das in den ersten Gedichten den geliebten Mann meinte, wird ein Du, das sich an den Menschen richtet, aus dem Wir, das alle anderen ausschloss, wird eines, das alle umfasst.

"Meine einfachen Worte riechen nach Mensch", schreibt Hilde Domin in einem Brief an Pablo Neruda. "Ich kam als Rufer zurück" und "Ich bin ein politischer Mensch vom Scheitel bis zur Sohle" lesen wir in ihren autobiografischen Aufzeichnungen. Ihr ging der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen und nichts umzulügen, weil's gerade opportun wäre, nie aus. Ebenso wenig wie die Kraft, Widersprüche, die sich nicht auflösen lassen, auszuhalten. Hilde Domins Gedichte wissen und geben Bescheid, ihre Gedichte nehmen Stellung, engagieren sich, suchen sich Gehör zu verschaffen, kurz, sie tun alles, was Gedichte gemeinhin nicht tun dürfen und bleiben doch – Gedichte. In fünf Zeilen hört sich das so an:

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

Nicht müde werden ... Woher nimmt Hilde Domin die Kraft dazu? Ich denke, diese Kraft, der Frau und der Dichterin, wurzelt in der Liebe. "Ich trau mich zu lieben" ist eines der Motti zu dem Roman "Das Zweite Paradies", der Satz einer Schneiderin aus Madrid. Ein Satz, einfach und klar wie die Gedichte der Autorin, ein Satz, der es, wie die Gedichte, in sich hat.

Zunächst: Was heißt das – Lieben? Ich folge der Autorin und versage mir eine Aufzählung von Negativdefinitionen, die einem wahrlich leicht in den Sinn kommen. Nein, die Liebe der Hilde Domin ist keine Schwärmerei und Sentimentalität, sondern das Praktischste von der Welt, etwa dem "anderen die Füße kühlen", wie es im "Zweiten Paradies" so unvergesslich beschrieben wird. Liebe bei Hilde Domin ist der Ort, wo beides gewährt wird: Freiheit und Geborgenheit. Beides hat Hilde Domin in der Kindheit empfangen. Und sie gibt es ein Leben lang weiter.

Was nicht selbstverständlich ist. Denn der Satz beginnt ja mit: Ich trau mich. Also wäre das Lieben keine selbstverständliche Tätigkeit, also gehört Mut dazu. Wer liebt ist verletzbar. Trotz aller Angst vor Verletzungen, – und wie sehr können gerade Worte verletzen – den Menschen zugetan bleiben: das ist die Haltung Hilde Domins, eben ihr Mut zum Dennoch. Dennoch lieben.

Nicht nur das Leben, auch das Schreiben Hilde Domins hat hier seine Wurzel: "Es ist das gleiche Wasser, das den Menschen und der Kunst am Halse steht", schreibt sie in "Wozu Lyrik heute", ein Buch, dem, stammte es aus der Feder eines männlichen Theoretikers, sicher heute längst die Beachtung gezollt würde, die der Theoretikerin leider erst mit der zeitlichen Verzögerung zukommen wird, mit der die Öffentlichkeit in Deutschland noch immer auf Frauen reagiert, die beides vereinen: Gefühl und analytischen Verstand.

Seit Benns Marburger Vortrag über "Probleme der Lyrik" (1951) ist dies wohl die bedeutendste Analyse eines Lyrikers über Lyrik, wobei Hilde Domin insofern über Benn hinausgeht, als sie weit in den gesellschaftlichen Raum hineindenkt, ihre Poetik auf ein gesellschaftliches Fundament stellt. Es ist auch daran zu erinnern, dass Hilde Domin dieses mächtige Plädoyer für das Gedicht 1967 hielt, ein Jahr bevor Enzensberger dessen Tod verkündete.

Dialektisch geschult wertet sie den Flucht- und Refugiumscharakter, der jeglicher Beschäftigung mit Literatur damals vorgeworfen wurde, einfach um. "Rückzug" wird ihr zur Voraussetzung für bewusstes Handeln, Dichtung Ort und Modus der "bewußten Pause", ein Regenerationszentrum, wo der Einzelne wieder auftauchen kann aus der "einsamen Masse", um sich selbst erneut als freies Individuum zu erleben. Im Gedicht klingt das so:

Dies ist unsere Freiheit
die richtigen Namen nennen
furchtlos
mit der kleinen Stimme
einander rufend
mit der kleinen Stimme
das Verschlingende beim Namen nennen.

Der feste, federnde Stil ihrer Gedichte kennzeichnet auch ihre Prosa, ob wir nun den Roman "Das Zweite Paradies", die autobiografischen Aufzeichnungen oder ihre theoretischen Überlegungen lesen. Besonders für letztere jedoch ist ihre Fähigkeit, zwischen Abstraktion und Anschaulichkeit die Balance zu halten, von größtem Wert. Das Gedicht als "Ort der Freiheit", als "magischer Gebrauchsgegenstand", das Poetische als "unspezifische Genauigkeit", dies sind nur einige der geglückten Begriffsbildungen, die der Kanonisierung wert wären. Und weil Domin sich so vorbildlich auf die Kunst der Reflektion des eigenen Handwerks – oder wie sie es bescheidener ausdrückt, "sich selbst über die Schulter zu schauen" versteht, möchte ich sie auch an die Seite stellen von Ricarda Huch, Virginia Woolf und Hannah Arendt.

Mit ihnen teilt sie auch die "Schwierigkeiten, eine berufstätige Frau zu sein", so der Titel eines Essays von 1974. Zwanzig Thesen, die Hilde Domin mit leidenschaftlicher Klarheit und aphoristischer Zuspitzung formuliert, etwa: "Frauen sind die geeignete Bodenmannschaft für den Start begabter Männer: eine auch im Erotischen empfehlenswerte Kombination für die Frau mit unbequem hohem I.Q."

Auch hier wird deutlich: Ob in Essay, Roman oder Gedicht: Hilde Domin schreibt nicht nur vom Leben, das tun ja offener oder verdeckter alle Autoren, sie geht den dornigeren Weg: Sie lebt, was sie schreibt. Wenn sie, ob in ihrem Werk oder, wenn es nötig ist, sogar in Leserbriefen Partei ergreift für das, was sich nicht wehren kann, dann ist dies immer auch ein Entwurf für menschlicheres Handeln, friedfertiges miteinander umgehen. Und sie ist immer die Erste im Bemühen, ihren Worten die Tat an die Seite zu stellen. Daher haben ihre scheinbar so leichten Worte immer Gewicht. Das Gewicht gelebten Lebens.

"Sämtliche Gedichte", Nachwort Ruth Klüger; "Die Insel, der Kater und der Mond auf dem Rücken", für Kinder ab acht; Gesamtwerk: S. Fischer Verlag. Neu erschienen: Marion Tauschwitz "Dass ich sein kann, wie ich bin: Hilde Domin. Die Biografie" (Palmyra, 24.90 €).

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