"Ich bin bereit zu sterben!"
Eines der Versprechen der Ennahda lautet, dass sie die Rechte der Frauen nicht antasten wollen. Gleichzeitig aber kündigte der aus dem Londoner Exil zurückgekehrte Parteichef Rachid Ghannouchi die Wiedereinführung der Polygamie an. Der Rest der Scharia wird nicht lange auf sich warten lassen, inklusive Schleierzwang. „Der Schleier ist das Symbol der Unterwerfung der Frauen. Ich werde ihn niemals tragen! Sie könnten mich umbringen, ich bin bereit zu sterben. Aber ich werde meine Freiheit bis zum Letzten verteidigen.“ Diese drastischen Worte sind von Lina Ben Mhenni, die im Herbst für den Friedensnobelpreis im Gespräch war. Die 28-Jährige ist mit ihrem Blog "A tunesian Girl" bekannt geworden. Und sie ist eine von hunderten, ja tausenden Tunesierinnen, die Widerstand ankündigen.
Stellvertretend für sie alle erhielt die "Association Tunisienne des Femmes Démocrates" jetzt den Simone-de-Beauvoir-Preis. Deren Präsidentin, Ahlem Belhadj nahm den mit 20.000 Euro dotierten Preis am 9. Januar in Paris entgegen. „Die Jury hatte bei der Preisvergabe einen Teil der Welt im Blick, wo es besonders dringlich ist, für Freiheit und Frauenrechte zu kämpfen, da sie entweder nicht existent oder bedroht sind“, so Jurypräsidentin Josyane Savigneau in der Begründung.
Die tunesische Frauenorganisation, die seit 1989 für die Gleichheit der Geschlechter und die Trennung von Staat und Religion kämpft, hatte während der „Arabischen Revolution“ gemeinsam mit 15 weiteren Frauenorganisationen einen Appell veröffentlicht. „Wir können es nicht fassen, dass reaktionäre Kräfte völlig ungestraft erklären, dass sie ein Kalifat gründen und die Polygamie einführen wollen!“, schrieben sie. „Unsere Rechte dürfen keine Verhandlungsmasse sein.“
Das war noch vor dem Wahlsieg der Islamisten. EMMA sprach mit der Psychologin Souad Rejeb, Mitstreiterin der „Association Tunisienne des Femmes democrates“, bei einem Kongress von Terre des Femmes in Berlin über das Wahlergebnis, die Rolle der islamistischen Partei Ennahda und den Kampf für Frauenrechte. Was sie zu sagen hat, ist alarmierend.
Souad Rejeb, wie haben Sie und ihre Mitstreiterinnen in Tunesien auf das Wahlergebnis reagiert?
Wir haben geweint. Weil wir wissen, dass der Wahlsieg der Islamisten eine enorme Bedrohung für uns ist. Denn wir wurden schon vor den Wahlen bedroht. Sofort nach der Revolution haben wir Demonstrationen für Frauenrechte veranstaltet, und schon da haben sie uns als Huren beschimpft. „Was habt ihr auf der Straße zu suchen? Geht nach Hause! Euer Platz ist in der Küche!“ Und auf Facebook haben die Islamisten eine unglaubliche Diffamations-Kampagne gegen uns gestartet. Sie haben die vollen Namen von vielen Feministinnen genannt und alle möglichen Informationen veröffentlicht: Wo sie studiert haben, ob und mit wie vielen Männern sie ausgehen. Und auch in den Moscheen haben sie gepredigt, dass Feministinnen Prostituierte seien. Und dass wir gegen den Islam seien. Aber diese Leute verwechseln den Laizismus, also die Trennung von Kirche und Staat, für die wir uns einsetzen, mit Religionsfeindlichkeit. Sie wissen auch, dass ihr Vorwurf nicht stimmt. Sie verleumden uns absichtlich, um Verwirrung zu stiften. Das ist Strategie.
Wie erklären Sie sich eigentlich den Wahlsieg der islamistischen Partei Ennahda?
Es gibt zwei Tunesien: Es gibt einerseits die progressiven, demokratischen Kräfte in den Städten und andererseits die arme und gläubige Bevölkerung auf dem Land, die sehr unter Ben Ali gelitten hat und die jetzt sehr leicht manipulierbar ist. Die Islamisten haben vor den Wahlen die Parole ausgegeben: „Wer nicht Ennahda wählt, kommt in die Hölle!“ Und der Teil der Bevölkerung, der nicht sehr gebildet, aber sehr gläubig ist, nimmt das für bare Münze. Diese Propaganda hat stark zum Sieg der Islamisten beigetragen. Ein anderer Grund ist, dass die islamistische Partei unter Ben Ali verfolgt wurde und ihre Aktivisten oft zu 20 oder 25 Jahren Haft verurteilt worden waren. Das hat ihnen einen Märtyrerstatus und damit eine gewisse Sympathie eingebracht.
Wer sitzt jetzt in der verfassungsgebenden Versammlung?
Es sind jetzt 218 Leute gewählt, die eine Verfassung erarbeiten sollen. Davon sind 90 von der islamistischen Partei. Das heißt: Die anderen 128 können also ein Gegengewicht sein. Aber das Problem ist, dass kaum eine bewusste Frau oder gar Feministin in die verfassungsgebende Versammlung gewählt wurde. Dabei haben großartige Frauen kandidiert: brillante, international bekannte Rechtsanwältinnen zum Beispiel – aber keine von ihnen sitzt in der Versammlung. Weil sie uns dermaßen diffamiert haben. Wenn man einem Tunesier heute den Namen unserer Organisation nennt, sagt er: „Um Gottes Willen! Die Femmes Démocrates“, das sind doch diese atheistischen Nutten, die mit jedem Mann ins Bett gehen!“ Sie haben systematisch unsere Reputation ruiniert. Es ist furchtbar. Was bedeutet das für die Frauenrechte? Im Fernsehen erklären die Ennahda-Leute, dass sie die Frauenrechte nicht antasten wollen. Aber das ist nicht wahr. Denn schon am zweiten oder dritten Tag nach den Wahlen haben sie angefangen, das Terrain zu sondieren. Und jetzt hört man überall Sätze wie: „Adoption ist Sünde.“ „Abtreibung ist schlecht.“ Oder: „Es gibt zu viele Frauen, die mit 40 noch nicht verheiratet sind. Bigamie wäre eine gute Lösung.“ Die Islamisten beanspruchen das Erziehungs- und das Kulturministerium. Wenn sie diese Ministerien bekommen, werden sie die Kinder in den Schulen einer Gehirnwäsche unterziehen, und das wäre eine Katastrophe. Wir müssen unbedingt verhindern, dass sie diese Ministerien bekommen! Und wenn sie die Macht über die Armee kriegen, dann ist es ganz vorbei.
Droht jetzt in Tunesien die gleiche Gefahr wie in Algerien oder dem Iran?
Natürlich. Ein bedeutender tunesischer Historiker hat schon eine Woche nach der Revolution gewarnt: „Freut euch nicht zu früh!“ Es ist wirklich paradox: Die jungen Leute sind für Freiheit, Gleichheit und Würde auf die Straße gegangen. Und jetzt haben die Rückwärtsgewandten die Revolution vereinnahmt.
Sehen Sie noch eine Chance?
Die Islamisten sind viele, aber sie haben noch nicht die Mehrheit. Und wir werden keinen Rückschritt in Sachen Frauenrechte hinnehmen, das ist sicher. Wir werden alles tun, um das zu verhindern. Wir sind 17 Frauenorganisationen, die sich zusammengetan haben und wir werden unsere Rechte verteidigen, bishin zum Hungerstreik. Wir sind auch mit algerischen und marokkanischen Feministinnen vernetzt, zum Beispiel im Netzwerk Aisha, und wir arbeiten auch mit den Kanadierinnen und Französinnen zusammen. Und es gibt eine Menge Männer, die uns unterstützen. Wir werden auf die Straße gehen, wir werden einfach alles tun, was wir tun müssen. Hoffen wir, dass wir es schaffen. Aber wir brauchen die Solidarität der westlichen Regierungen und ihre Unterstützung für unseren Kampf. Das ist sehr wichtig für uns. Alle Welt schaut jetzt auf Tunesien. Wenn wir scheitern, wird das Folgen für alle arabischen Länder haben.
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