Kuckucksväter: Auf zur Wahrheit!

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Es begann mit Gerede im Dorf. Zuerst dachte Walter T., das Geschwätz der Leute hinge mit Manuela zusammen, seiner Neuen. Sie war 25, er 52. Schon nach kurzer Zeit war sie zu ihm gezogen. Da hatte das Dorf in Niedersachsen natürlich jede Menge zu klatschen. Die gönnen mir mein junges Glück nicht, dachte Walter, und schob die Angriffe beiseite wie Krümel vom Tisch. Aber das Getratsche nahm kein Ende. Doch es ging gar nicht um Walters neue Frau, sondern um seine alte.

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Sieben Jahre zuvor hatten er und Sylvia T. sich scheiden lassen. Laura, die 14-jährige Tochter, war mit der Mutter in die Stadt gezogen. Und dann sagte seine Mutter: "Die Leute erzählen, Laura soll gar nicht deine Tochter sein." Das saß. Walter stellte seine Ex-Frau sofort zur Rede, die stritt alles ab. Die Zweifel aber waren gesetzt und nagten. Bis Walter heimlich einen Gentest machen ließ. Negativ: Er war tatsächlich nicht Lauras Vater.

Schätzungen besagen, dass jedes fünfte bis zehnte Neugeborene so ein Kuckucks­kind ist, allein in Deutschland wären das etwa 25.000 bis 40.000 pro Jahr. Das ­Online-Portal des Bayerischen Rundfunks spricht von zwei Kuckuckskindern in jeder Schulklasse. Doch eine in der "Ärztezeitung" 2005 veröffentlichte britische Studie hat nur eine "Kuckuckskinder"-Rate von 3,7 Prozent in Europa ausgemacht.

Seit Genlabors den Vaterschaftstest für jedermann anbieten, boomt das Geschäft mit dem Zweifel: Von mir oder nicht von mir? In Deutschland lassen jedes Jahr 40.000 Männer testen, ob ihre Söhne und Töchter wirklich von ihnen stammen. Jeder vierte Vater ist nicht der richtige. Fliegt das auf, ist mit einem Mal nichts mehr, wie es war. Familien werden in ihren Grundfesten erschüttert.

Für den selbstständigen Bauunternehmer Walter T. hat sich fast alles geändert. Aufträge wurden knapper und im Dorf war er der Gehörnte. Aber auch seine Ex-Frau läuft Spießruten seitdem. Sylvia T.s neuer Mann, mit dem die Frau ein weiteres Kind hat, hat sich sofort getrennt, denn: "Wer weiß, ob meine Tochter nicht auch von einem anderen ist?"

Wenn ein Kuckuckskind enttarnt wird, ist die Schuldfrage rasch geklärt: Es sind die Frauen, die lügen und betrügen. Sie schieben ihrem Mann ein Kind als das seine unter und bringen ihn um eigene Nachkommenschaft und obendrein in eine peinliche Situation, sie setzen ihn dem Gespött der Leute aus. Außerdem muss er auch noch dafür zahlen, dass er übers Ohr gehauen worden ist.
 
Als im Januar 2005 der Bundesgerichtshof entschied, dass heimlich durchgeführte Vaterschaftstests vor Gericht nicht verwertbar sind, ging ein Aufschrei durch die Medien und durch die organisierte Väterszene. Männer würden zu "Bürgern zweiter Klasse" gemacht, empörte sich der Schriftsteller und Bild-Kolumnist Rafael Seligmann. Väter würden zum "Freiwild betrügender Frauen", klagte er an. Väterverbände warnten vor dem "Schlampenschutzgesetz" und der Spiegel sah Väter in der Rolle der "puren Geldgeber".

Seit 1. April 2008 nun gilt ein neues Vaterschaftsrecht. Das Bundesverfassungsgericht (BVG) hat im Sommer 2007 den Gesetzgeber beauftragt, das damals bestehende Gesetz nachzubessern. Jeder Mann, so argumentierte das BVG, muss auf legalem Wege darüber Gewissheit erlangen können, ob er der biologische Vater seines Kindes ist oder nicht. Das ist im reformierten Gesetz geregelt. Jetzt haben Männer und Kinder ein gesetzlich verbrieftes Recht zu erfahren, ob sie genetisch miteinander verwandt sind. Und: Stellt ein Vater fest, dass er nicht der leibliche ist, kann er sich jetzt in Ruhe überlegen, ob er die Vaterschaft rechtlich anfechten will – und damit meist das Kind vollständig verliert - oder ob er weiter der rechtliche wie soziale Vater bleibt.

Mütter werden nun gezwungen, die biologische Vaterschaft offenzulegen, notfalls per Gerichtsbeschluss. Das passt manchen Frauen nicht. Es sind doch die Männer, sagen sie, die ihre Familien verlassen, wenn sie keine Lust mehr auf sie haben. Nach einer Trennung kümmern sich die Väter nur noch selten um ihre Kinder. Laut Erhebungen des Verbandes Alleinerziehender Männer und Frauen (VAMV) zahlen etwa 60 Prozent aller getrennten Väter zu wenig, nur unregelmäßig oder gar keinen Unterhalt für ihre Kinder. VAMV-Erfahrungen besagen auch, dass viele getrennte Väter schon nach einem Jahr keinen richtigen Kontakt mehr zu ihren Kindern haben.

Warum aber wenden sie sich so leichtfertig ab und geben etwas auf, das ihnen vorher lieb und teuer war? Nachdem Walter T. erfahren hatte, dass er von seiner Frau betrogen worden ist, strengte er ein Gerichtsverfahren an. "14 Jahre war ich für Laura da", sagt er. "14 Jahre lang habe ich für sie gezahlt. Da ist ein Mittelklassewagen zusammen gekommen." Und den will Walter T. nun zurück haben. Der Prozess läuft und es sieht nicht so aus, als würde Walter T. Recht bekommen. Walter T. sagt es ganz offen: "Jetzt geht es mir nur noch ums Geld." Dass die Beziehung zu Laura zerbrochen ist, scheint ihm egal zu sein. Er sagt: "Sie ist ja auch nicht meine Tochter. Also, was soll's?"

Es scheint ganz so, als spielen Gene und Geld eine größere Rolle als Liebe und Verantwortung für das Kind, das selber ja vollkommen unschuldig ist. Für die Kinder ist das in jedem Fall fatal. Sie verlieren von einem Tag zum anderen ihren Vater. Und der leibliche ist ja sowieso nicht da.

Kuckucksväter lassen Zweifel an ihrer Vaterschaft übrigens in der Regel erst dann zu, wenn sie sich in der Beziehung zu der Frau nicht mehr wohl fühlen. Solange mit der Liebe alles stimmt, verbannen Männer jeden Zweifel an der Vaterschaft in die hinterste Ecke ihrer Seele.

Dasselbe Motiv – das nach der heilen Welt – ist es auch, das die Mütter schweigen und lügen lässt. "Das Geheimnis, dass ein Kind nicht von dem Mann stammt, der es groß zieht, muss gewahrt bleiben, damit die bestehende Familie nicht auseinanderbricht", sagt die Berliner Psychotherapeutin Katrin Nickeleit: "Kuckucksmütter wollen ihrem Kind Schutz geben, sie wollen, dass es in 'geordneten Verhältnissen' aufwächst, mit Mutter und Vater, egal, ob es der leibliche ist oder nicht. Dafür wird auch eine Lebenslüge in Kauf genommen."

Wie im Fall von Nora B. Als ihr Sohn Jonathan 20 wurde und zum Studium von Köln nach Weimar zog, fasste sie sich ein Herz. Sie setzte sich in den Zug, um ihrem Sohn zu erzählen, dass nicht Jens sein leiblicher Vater sei, sondern ein anderer Mann. Einer, den er noch nie gesehen hat. Jonathan war erschüttert. Und Nora litt, weil sie fürchtete, ihren Sohn zu verlieren. "Aus Angst, er würde sich abwenden, habe ich all die Jahre geschwiegen", sagt sie heute.

Oder Emma L., eine Kuckuckstochter. Als sie ihren ersten Sohn zur Welt brachte, erfuhr sie durch einen Zufall, dass der Mann, den sie als ihren Vater kannte, gar nicht ihr leiblicher Vater war. Mit einem Mal begriff sie, warum ihre Mutter ihr immer hinterher spioniert hatte, als Emma noch zu Hause wohnte. Die Mutter hatte in Emmas Tagebüchern gelesen und ihren Papierkorb kontrolliert. Sie wollte immer genau wissen, mit wem Emma unterwegs war. Die Angst, dass etwas herauskommt, hat Emmas Mutter zur Agentin der eigenen Tochter werden lassen.

Ein fataler Kreislauf. Der Drang, das Kind zu schützen und sich selbst und den eingeschlagenen Lebensweg zu untermauern, treibt die meisten Mütter früher oder später in Situationen, die sie nicht mehr beherrschen. Eine vermeintlich kleine Lüge, aus Not, aus Scham, aus Furcht, wächst im Laufe der Jahre zu einem großen Problem heran.

Aber ist es tatsächlich so, dass Kuckucksmütter nur ans Kind denken? Spielen nicht auch die Furcht vor sozialer Ausgrenzung und die Angst vor dem Verlust des Mannes eine Rolle? Das Tabu, in der eigenen Familie offen über ein Kuckuckskind zu reden, scheint noch im krassen Gegensatz zur heutigen Zeit zu stehen. Denn noch nie scheiterten so viele Ehen wie in den vergangenen Jahren (jede dritte Ehe wird geschieden), noch nie gab es so viele Kinder, die mit verschiedenen Vätern und Müttern aufwachsen. Die Kluft zwischen biologischer und sozialer Vaterschaft war noch nie so groß wie heute. Und die wachsende Zahl von Zweitehen mit weiteren Kindern zeigt, dass es nicht in jedem Fall das Gen ist, das zusammenschweißt. Warum also ist es so schwer, darüber zu reden?

So manches Mal könnte die Wahrheit sogar heilsam sein. Als Emma begriff, dass sie von der eigenen Mutter belogen worden war und endlich auch verstand, warum die hinter ihr herschnüffelte wie hinter einer Feindin, sah sie ihre Kindheit und ihre Jugend plötzlich in einem anderen Licht. Mit einem Mal verstand sie das Gefühl, das sie all die Jahre über begleitete: Fremdheit. Nora L.: "Ich gehörte einfach nicht in diese Familie. Diese Familie, das waren meine Mutter, ihr Mann und meine beiden (Halb)Geschwister."

Kuckuckskinder sind die eigentlichen Leidtragenden in solchen Dramen. Viele begeben sich, wenn das Geheimnis gelüftet ist, selbst auf die Suche nach dem unbekannten biologischen Teil ihrer Existenz. Manche finden ihn, andere nicht, einige halten den Kontakt aufrecht, wenn er erst einmal geknüpft ist, nicht wenige brechen ihn bald nach einem Treffen wieder ab. Sie sagen: Ich wollte nur wissen, wer mein Vater ist. Das reicht mir. Und den meisten Vätern reicht es auch.

Von der Autorin erschien das Buch ­"Kuckuckskinder, Kuckuckseltern"
(9.90 Euro, Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf).

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