Alice Schwarzer schreibt

Memmingen: Jetzt reicht´s!

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  1. Der Skandal ist nicht der Prozess, sondern das Gesetz, das einen solchen Prozess überhaupt möglich macht. Solange es dieses Gesetz gibt, kann jede Stadt Memmingen werden. Darum muss das Gesetz weg!
  2. Bei unserem Kampf um eine selbstbestimmte Sexualität und Mutterschaft stand die CDU/ CSU immer auf der anderen Seite, daraus hat sie nie einen Hehl gemacht. Ein konkretes Vorgehen gegen den § 218 können wir nur bei den anderen einklagen: bei der SPD und FDP (die noch 1974 für die Fristenlösung stimmten) und bei den Grünen (die die Abschaffung des § 218 immerhin im Parteiprogramm haben).
  3. Diejenigen, die soweit gehen, alle, die für das Recht auf eine selbstbestimmte Mutterschaft sind, zu diffamieren und anzugreifen, müssen in ihre Schranken gewiesen werden. Pfaffen und Politiker, die es wagen, abtreibende Frauen öffentlich als „Mörderinnen" zu bezeichnen, sollten dies nicht länger ungestraft tun können. Wann verklagen endlich wir die anderen?! Wegen Beleidigung und „Volksverhetzung"! Die Selbstgerechten, die Bigotten, die Frauenfeinde haben in diesen letzten Jahren wieder an Terrain gewonnen. Ein Prozess wie der in Memmingen wäre vor zehn, 15 Jahren undenkbar gewesen. Jetzt müssen wir befürchten, dass er zur Norm wird und wir bald überall Memmingen haben. Dass der § 218 wieder so scharf angewendet wird, ist neu. Dass man ihn dabei zwar auch gegen Frauen, vor allem aber gegen Ärzte richtet, ist kein Zufall. Denn die Frauen, das weiß jeder Richter, treiben ab, egal, was das Gesetz befiehlt. Doch wenn all die Millionen Frauen in unserem Land, die in ihrem Leben abgetrieben haben oder noch abtreiben werden, im Gefängnis säßen—ja wer sollte dann die geborenen Kinder großziehen und die Drecksarbeit für die Männer machen?

Keine Drohung dieser Welt kann Frauen, die nicht Mutter werden wollen oder können, dazu zwingen, es zu werden. Das wissen die Herren dieser Welt. Unter Hitler haben Frauen trotz drohender Todesstrafe abgetrieben. Und in katholischen Ländern treiben sie am meisten ab (weil sie hier auch am häufigsten ungewollt schwanger werden). Es geht beim § 218 also nicht — und ging noch nie — um die Verhinderung von Abtreibungen, sondern nur um ihre Manipulation: Wenn Frauen schon abtreiben, dann sollen sie es gefälligst demütig, schuldbewusst und in Lebensgefahr tun.

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Ärzte und Ärztinnen allerdings können eingeschüchtert werden. Wer riskiert schon gerne seine Existenz für das Wohl einer/s anderen? Darum stand in dem „Schauprozess" (Frankfurter Rundschau) von Memmingen auch zentral der Arzt am Pranger. Dies war ein „politischer Prozess" (das findet auch Hildegard Hamm-Brücher von der FDP). Hier wurde nicht die „Tat" an sich, sondern die Gesinnung, die dahinter steht, bestraft.

Ein Arzt, der es wichtig findet, die schonendste Methode, die Absaugmethode, anzuwenden. Ein Arzt, der klarmacht, dass frau für eine Abtreibung nicht dramatisch (und teuer!) tagelang ins Krankenhaus muss, sondern dass das auch ganz undramatisch in ein paar Stunden ambulant geregelt werden kann. Ein Arzt, der sich weigert, die Hilfesuchende durch alle Instanzen und bis in die ferngelegene Großstadt zu jagen. Ein Arzt, der sich nicht zum Richter über das Leben seiner Patientinnen macht, sondern den Frauen seine medizinischen Kenntnisse zur Verfügung stellt. Ein solcher Arzt darf nicht Schule machen! Da wird öffentlich vorgeführt, was mit so einem passiert... Seine Praxis musste Dr. Theissen schon lange schließen (seit Oktober letzten Jahres ist er täglich mit dem Prozess befasst). Für die Kosten musste er sein Haus verkaufen (von dem Geld auf dem Solidaritätskonto kann er gerade mal die Portokostenbegleichen). Schwangerschaftsabbrüche wird er nicht mehr machen (er plant eine Zukunft als Naturheilkundler). Aber all das genügt seinen Jägern noch nicht: Jetzt soll ihrem Opfer auch noch die Zukunft zerstört werden. Das Strafmaß von zweieinhalb Jahren erlaubt keine Bewährung. Dr. Theissen soll ins Gefängnis, und nur eine (politisch sehr unwahrscheinliche) Revisionsverhandlung mit einem (noch unwahrscheinlicheren) Freispruch oder milderen Urteil könnte ihn noch retten. Voraussetzung: Eine unabhängige, mutige Justiz und keine Vatikan- und Staatsbüttel!

Die wenigen Ärztinnen, die wie Dr. Theissen denken — und gar noch handeln! — werden zutiefst eingeschüchtert sein. Die Mehrheit setzt sich eh zusammen aus Opportunisten, die im Traum nicht daran denken, für Frauen etwas zu riskieren, und aus Herrenmenschen, für die Frauen schon immer zu den Untermenschen gehörten. Dr. Theissen konnte in aller Legalität verurteilt werden, weil er die bei ihm Hilfe suchenden Frauen nicht gezwungen hat, einen weiteren Arzt und eine Beratungsstelle aufzusuchen und den Abbruch in einem Krankenhaus zu machen. Er hat, nach eingehenden Gesprächen, den Willen der Frauen zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Damit hat er gegen das herrschende Gesetz verstoßen. Auch seine Patientinnen wurden bestraft. 139 mussten hohe Geldstrafen zahlen, 79 als Zeuginnen erscheinen. Ihre Lage war zum Teil dramatisch, so wie es eben immer ist. Dennoch hat das Gericht sich nicht entblödet zu sagen, der Frauenarzt habe seine Patientinnen „wie Schlachtvieh" behandelt. Und es versäumte auch nicht, Dr. Theissen über das Urteil hinaus zu diffamieren. Er sei „labil und unstet" und „habe sich lieber mit Frauen unterhalten", statt mit deren Ehemännern „von Mann zu Mann" (!) zu reden. Eine Memme, dieser Theissen, ein Waschweib also noch dazu! „Spiegel-Reporter Mauz zögerte nicht, das Urteil von Memmingen als „Krieg" zu bezeichnen, Bürgerkrieg! Dieses Urteil trennt die Menschen in der Bundesrepublik voneinander. Es scheidet Menschen von Unmenschen. Konsequent weitergedacht heißt das: Die legale rechtliche Basis, auf dem dieses Unrechtsurteil möglich war, ist Kriegsrecht.

Jede und jeder, die/der nur halbwegs glaubwürdig sein will in diesem Kampf um die Selbstbestimmung und Würde der Frauen, muss darum spätestens jetzt gegen dieses Gesetz kämpfen! Nach 18 Jahren Basis-Protest, einer demokratisch erstrittenen „Fristenlösung" und dem verfassungsrechtlichen Schlag gegen diese ersten drei Monate freier Entscheidung gibt es politisch und rechtlich nur noch einen Weg, um den § 218 anzugreifen: die Verfassungsklage (Normenkontrollklage). Wir haben es schon oft geschrieben: Diese Verfassungsklage, die zu prüfen hätte, ob der § 218 nicht gegen die im Grundgesetz verankerte Freiheit und Würde der Frau verstößt, kann nur von einer Landesregierung oder der Parlamentsmehrheit eingereicht werden. SPD und Grüne äußerten sich „empört" über das Memminger Urteil. Worauf warten sie? Warum tun sie nicht endlich etwas? Und zwar das einzige, was sie überhaupt noch tun können: die Verfassungsklage einreichen! Nicht wenige Frauen haben sich in den letzten Jahren einschüchtern lassen. Wir können nur hoffen, dass die Frauenfeinde mit dem Spektakel von Memmingen zu weit gegangen sind: Jetzt reicht es endgültig! Auch, dass jemand wie der Papst Rücksicht auf seine „religiösen Gefühle" fordert. Ausgerechnet er, der mehr Abtreibungen auf dem Gewissen hat, als jeder andere Mensch auf der Welt: Schließlich ist er es, der die Verhütung als „Sünde" verteufelt und dadurch ungewollte Schwangerschaften verursacht. Rücksicht auf seine „religiösen Gefühle" fordert! Die Zeiten sind jetzt vorbei. Die Kirche ist politische Institution, die zutiefst frauenfeindlich war und ist. Als solche ist sie unser politischer Gegner. Und jede Partei, die in dieser existentiellen Frage nicht etwas für uns tut, ist das auch.

Am Abend des Theissen-Urteils war ich im Fernsehen in einer — progressiven — Livesendung eingeladen. Die Moderatorin sagte, kurz bevor wir auf Sendung gingen, zu mir: Wir haben nun doch nur drei Minuten. Zum Thema Memmingen ist ja auch nicht mehr viel zu sagen. Das ist heute abgefeiert worden. Ich stelle Ihnen also dazu nur eine kurze Frage, und dann reden wir über was anderes."

Die Kollegin irrt. Jetzt geht es erst richtig los.

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Alice Schwarzer (Hrsg.): „Weg mit dem §218!" (EMMA-Verlag).

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