Die Straßen gehören heute den Männern

Foto: © Renaud Khanh
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Innerhalb weniger Tage hatte der Aufruf mehrere Tausend Unterschriften. Lanciert hatte ihn die vielgelesene Boulevardzeitung Le Parisien, gemeinsam mit Laurence und weiteren gefrusteten BürgerInnen des Viertels. In der Tat, das, was die beiden BürgerInnen-Initiativen, „SOS La Chapelle“ und „Demain La Chapelle“ da über ihr Viertel im Norden von Paris, unweit von Pigalle, berichteten, war wirklich schockierend. Vor allem, was die Lage der Frauen angeht: „Beschimpfungen in allen Sprachen: ‚Schlampe. Dreckige Hure. Ich fick dich …‘, Diebstähle, Taschendiebe, Betrunkene, überall Abfall, penetranter Uringeruch.“ Der Platz von La Chapelle und die Metrostation sowie die anliegenden Straßen seien nur noch Männern vorbehalten. „Keine einzige Frau in den Bistros, kein Kind mehr im Park. Manche von ihnen verlassen nicht mehr das Haus.“

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Der Aufruf erschien am 18. Mai 2017 im Parisien und seither tobt die Debatte. Ein wenig Ruhe war nur in den Sommerferien eingetreten. Jetzt zur „Rentrée“, wenn die Pariser zurückkommen in die Hauptstadt und die Kinder wieder zur Schule gehen, wird der Konflikt erneut aufflammen. Denn er schockiert nicht nur die AnwohnerInnen des Viertels, sondern das ganze Land.

Das Viertel ist schon lange ein Brennpunkt. An der Metrostation nordafrikanische Straßenverkäufer und indische Schwarzhändler (die „Boro, Boro“ rufen, für Marlboro); unter den Metrobögen wild zeltende schwarze Migranten, in den Fluren der Wohnhäuser Drogenhändler.

Das Viertel zwischen dem Gare du Nord (Züge nach England und Deutschland) und dem Gare de l’Est (in das Elsass und den Südwesten) ist eine von Misere und Prekarität geschüttelte Enklave, und es ist in den letzten zehn Jahren nicht besser geworden.

„Wir sind keine Rassisten!“, verteidigt sich schon im Voraus die 49-jährige Laurence, eine der Initiatorinnen der Petition. Die alleinerziehende Mutter einer Tochter erzählt, wie sie noch im Winter den Migranten zur Hilfe geeilt ist, die bei Minusgraden auf dem Bürgersteig schliefen. Aber „sie kann einfach nicht mehr“. Sie fühlt sich „fremd“ in ihrem eigenen Viertel, das inzwischen eine fast ausschließliche Männerwelt geworden ist.

Viele Nachbarn waren erleichtert über den öffentlichen Hilferuf und haben sich bei Laurence für ihren Mut bedankt, mit dem sie auf die dramatischen Verhältnisse im Viertel aufmerksam gemacht hat. Aber es gab nicht nur Zustimmung. Ultralinke beschuldigten sie, als „Frau aus einer privilegierten Klasse“ den Feminismus „für ihre rassistischen Ziele zu instrumentalisieren“.

Und wieder andere haben eine Woche nach der Veröffentlichung des Aufrufs eine Gegen-Demonstration organisiert: Etwa hundert Menschen gingen am 25. Mai gegen die „fremdenfeindliche Stigmatisierung“ und das „karikaturale Bild des Chapelle-Viertels“ auf die Straße. Die 33-jährige Caroline de Haas, Mitbegründerin der der sozialistischen Partei nahestehenden Frauenorganisation „Osez le feminisme“, schlug zur Lösung der Probleme im TV-Sender France 3 gar vor, doch „die Bürgersteige einfach zu verbreitern“. Dann käme es auch nicht mehr zu Grabschereien.
Der Spott ließ nicht lange auf sich warten. Schließlich wird auch auf den Champs-Élysées gegrabscht. „Dieser Vorschlag erinnert mich fatal an den der Kölner Bürgermeisterin nach der Silvesternacht 2015: Die Frauen sollten einfach ‚eine Armlänge Abstand zu den Männern halten‘“, höhnte Francine Sporenda, Feministin der Pionierinnen-Generation und fuhr fort: „Dass das Grabschen keine Frage der Breite des Bürgersteiges ist, sehen wir auch an dem für die sexuelle Gewalt gegen Frauen berüchtigtsten öffentlichen Ort: dem Tahrir-Platz in Kairo.“

Francine Sporenda wünscht sich, dass man von den Tatsachen redet, statt zwischen den ideologischen Extremen zu schwanken: hie die stramme Rechte, für die die sexuelle Gewalt nur ein Thema ist, wenn sie von Migranten kommt – und da die stramme Linke, für die Rassismus allemal schwerer wiegt als Sexismus. Francine: „Wenn Frauen, die einen Rock tragen, sich sagen lassen müssen: ‚Zieh dich anständig an, Schlampe!‘, dann kann ich als Feministin den Zusammenhang mit dem religiösen Fundamentalismus nicht leugnen.“

Die Affäre La Chapelle ist in Frankreich nicht die erste, in der die verzweifelte Lage der Frauen in volkstümlichen Vierteln hochkocht. Am 7. Dezember 2016 hatte der TV-Sender France 2 eine Reportage über den Pariser Vorort Saint-Denis ausgestrahlt. Mit einer versteckten Kamera waren Nadia Remadna und Aziza Sayah in eines der populären Pferdewetten-Bistros PMU gegangen – und zeigten die hundert Prozent männliche Kundschaft. Die beiden Frauen arabischer Herkunft sind Mitglieder der „Mütter-Brigade“, ein Verein, der die Söhne und Töchter daran hindern will, sich zu radikalisieren und womöglich sogar in den Djihad zu ziehen. Einer der Männer im PMU schleuderte den Frauen entgegen: „Macht, dass ihr wegkommt! In diesem Bistro verkehren keine Frauen! Das hier ist anders als in den Quartiers von Paris. Das ist wie im Dorf.“ Wie im Dorf meint: Wie auf dem Land in Marokko. Oder Algerien. Oder Tunesien …

Viele empörten sich. Aber der Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei, Benoît Hamon – der bei den Wahlen im Juni krachend verloren hat – erklärte in 2016: „Historisch gesehen verkehrten in den Arbeiterkneipen noch nie Frauen.“ Und Amar, der Chef des gezeigten PMU-Bistros, hat France 2 wegen „Manipulation“ verklagt. Sein Lokal sei für alle geöffnet, und wenn er ein islamischer Extremist sei, würde er ja wohl weder Wetten anbieten noch Alkohol servieren.

Schon Jahre zuvor, 2003, hatte die Bewegung „Ni Putes Ni Soumises“ (weder Huren noch Unterworfene) als erste die Öffentlichkeit alarmiert wegen der eingeschränkten Freiheit der Frauen und Mädchen in den Vorstädten und der sexuellen Gewalt. Sie kritisierten die Multi-Kulti-Kultur, die den Islamismus gewähren ließ, ja sogar rechtfertigte mit „kulturellen Differenzen“ (EMMA berichtete mehrfach, u. a. in den Ausgaben 3/03 und 4/03).

Sieben Monate zuvor war die 17-jährige Sohane Benziane von einer Gruppe junger Männer vergewaltigt und bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Ihre Schuld: Sie hatte sich geweigert, den Avancen eines der Jungen nachzugeben. „Ich war damals 24 Jahre alt und eine antirassistische Militante“, erinnert sich Loubna Méliane, eine der Initiatorinnen von „Ni Putes Ni Soumises“. „Aber da habe ich verstanden, dass wir auch für die Frauen kämpfen müssen, die in diesen Vierteln aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden.“

Loubna Méliane ist heute Abgeordnete der Sozialistischen Partei in der Region Île de France. Sie fährt fort: „Wir haben festgestellt, dass die Feministinnen zwar die sexuelle Gewalt kritisieren, die Frauen im Migrantenmilieu aber links liegen ließen. Dasselbe Problem bei der Politik, die sich auf das Migranten-Milieu in den Vorstädten konzentriert hatte – die Frauen aber vergaß. Alle Integrations-Initiativen zielten auf Männer: Sporthallen, Fußballclubs, Feriencamps unter Männern … Auch für die Politik war und ist der öffentliche Raum ein Männerraum, unbewusst, in dem Frauen nichts zu suchen haben.“ Und auch damals schon kritisierten linke SoziologInnen den „republikansichen Feminismus“ der Frauen von „Ni Putes Ni Soumises“ als „rassistisch“. Sie würden „den arabo-muslimischen Mann diabolisieren“.

Der Skandal von La Chapelle zeigt erneut die Kluft zwischen den Feministinnen und der französischen Linken. Sie können sich nicht einig werden: Muss man sich Fragen stellen in Bezug auf das „krankhafte Verhältnis“ der Araber zu den Frauen, dem Körper und dem Begehren“, wie es der Algerier Kamel -Daoud nach der Silvesternacht in Köln getan hat – oder spielt die Herkunft der Täter keine Rolle und sollte man sich hüten, den „weißen Mann zu verharmlosen“, wie das feministische Kollektiv „Les Effronté-e-s“ warnt?

Die Grafikerin Anaïs Bourdet hat die Internet-Plattform „Paye ta Shnek“ (Zeig deine Muschi) initiiert, auf der hunderte von Frauen über sexuelle Übergriffe berichten, in allen Vierteln von Paris, auch in den bürgerlichen. Sie findet: „All diese Männer müssen sich infrage stellen, nicht nur die Muslime.“

Und sie erinnert an Dominique Strauss-Kahn, der 2012 beinahe französischer Präsident geworden wäre, hätte ihn nicht das schwarze Zimmermädchen Nafissatou Diallo in New York der sexuellen Gewalt bezichtigt. Die Zahl seiner Opfer hatte seit Jahren epidemische Ausmaße – doch alle haben weggesehen, auch die Genossen (EMMA berichtete vielfach). Sie erinnert an die Petition der 40 Journalistinnen, ausgelöst von dem grünen Grabscher Denis Baupin, der allerdings keine Ausnahme ist (EMMA 3/16).

„Es kann mir niemand erzählen, dass die sexuelle Belästigung überall gleich sei. Das ist der Diskurs weißer linker Privilegierter“, empört sich Agnes. Die 28-jährige Regisseurin wohnt in einem Vorort und muss täglich La Chapelle durchqueren. „Das ist die Hölle!“, sagt sie. „Egal, was du anhast, egal, zu welcher Tageszeit; egal ob du einkaufen gehst oder joggen. Du bist immer dran.“

Interviewt zur Affäre La Chapelle stöhnt Elisabeth Badinter: „Gehen Sie mal im Rock durch dieses Viertel!“ Die Philosophin ist seit vielen Jahren eine der entschiedensten Verfechterinnen des Universalismus, der gleichen Rechte für alle, überall, und Gegnerin des Kulturrelativismus. Die deklarierte Feministin findet es „unanständig“, die Lage der Frauen in den Vororten gegen die in den bürgerlichen Vierteln auszuspielen. „Wenn ich höre, dass manche sagen, das einzige Problem seien die zu schmalen Bürgersteige, frage ich mich: Sollen wir denn etwa getrennte Bürgersteige für Frauen und Männer machen?“ spottet Badinter. „Sicher, es schockiert auch mich, wenn immer gleich Migranten für die Schuldigen gehalten werden. Das ist der reine Rassismus. Aber ich bin auch schockiert, wenn, wie nach Silvester in Köln, die Realität geleugnet wird unter dem Vorwand, sie zu benennen sei Rassismus oder Islamophobie. Ich bin weder mit der einen noch mit der anderen Position einverstanden.“

Silvester 2015 in Köln – das ist auch in Frankreich ein Schlüsselwort. Und natürlich konnte Marine Le Pen, die Chefin des rechtspopulistischen Front Nationale, nicht widerstehen. Sie zitierte Elisabeth Badinter sowie Simone de Beauvoir und versprach, „die Frauenrechte gegen den islamistischen Fundamentalismus“ zu verteidigen. „Was für eine gute Nachricht“, spottete die bekannte Autorin Caroline Fourest, Feministin und Anti-Islamistin. „Aber wir wollen doch nicht vergessen, dass der Front National die partriarchischste aller Parteien in Frankreich ist.“

Nicht länger reden, sondern handeln wollte Dominique Poggi. Die Soziologin und Feministin der ersten Stunde schaffte es in den letzten acht Jahren, die Kommunen einiger Brennpunktviertel von ihren „Erkundungsmärschen“ zu überzeugen. Das Konzept kommt aus Kanada, nach einer Serie von sexuellen Aggressionen und Morden in Toronto. Danach gehen Frauen am Abend in Gruppen durch die Viertel, die Parks und Sportplätze. Und sie reden mit den Passanten über ihre Sorge, nicht frei zu sein, und ihre Angst, wenn sie allein durch die Straßen gehen.

In Aubervilliers, einem der heißen Orte im „Gürtel von Paris“, trifft sich ein gutes Dutzend Frauen alle zwei Wochen demonstrativ in einem der Bistros. Sie wollen den Männern zeigen, dass auch sie das Recht haben, hier zur verkehren. „Das ist anstrengend. Aber es macht auch Spaß!“, sagt eine von ihnen. „Es gibt da so einen sich Jahr für Jahr verstärkenden Trend zur Selbstbeschränkung bei den Frauen“, klagt Dominique Poggi. „Dieses System der öffentlichen Dominanz der Männer verweist die Frauen nach Drinnen, ins Private. Der Platz der Männer ist draußen, ist die Welt.“

Selbstverständlich ist für eine Feministin wie Dominique Poggi das Problem der sexuellen Belästigung nicht beschränkt auf die Vororte, sondern leider allgegenwärtig, universell. Aber das rechtfertigt für sie nicht, die Eskalation in Vierteln wie La Chapelle zu verschweigen. „Man ermutigt heutzutage die Frauen, darüber zu reden, wenn sie Opfer sexueller Gewalt werden. Aber wenn sie das tun, wie mit dem Aufruf von ‚SOS La Chapelle‘ dreht man den Spieß rum“, klagt Poggi. „Dass Migranten die Täter sind, rechtfertigt nicht, es zu verschweigen. Wenn man es nicht sagt, werden andere, zum Beispiel die Rechtspopulisten, es instrumentalisieren.“

Und dann fügt Poggi noch etwas sehr Alarmierendes hinzu: „Ich habe in den letzten Jahren beobachtet“, sagt sie, „dass die Einschüchterung der muslimischen Mädchen schon längst übergegriffen hat: auf ihre Freundinnen, die nichtmuslimischen Mädchen.“   

Der Autor ist Ressortleiter des Pariser Wochen-magazins Le Point.

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