Modell Moskau

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„Arbeit im Ausland! Lohn bis zu 2.000 Dollar!“ Mit solchen Anzeigen werden Russinnen ins Ausland gelockt und dann zur Prostitution gezwungen. Auch in der Schweiz. Vor drei Jahren beschloss Felice Bobbià, Leiter der Visa-Abteilung der Schweizer Botschaft in Moskau, das Problem anzugehen. In Zusammenarbeit mit der russischen Nichtregierungsorganisation ‚Angel Coalition‘, die sich gegen Frauenhandel einsetzt, organisierte die Schweizer Botschaft in Moskau im März 2002 eine Weiterbildung. Das Ziel: Sensibilisierung des Konsular-Personals.
Russinnen, die zwischen 18 und 25 alt sind und das erste Mal ein Visum beantragen, müssen seither zwingend zum persönlichen Interview erscheinen. Schöpfen die Beamten Verdacht, etwa weil die Frau nichts über ihr Ziel weiß, wird sie in den vom Warteraum abgetrennten Schalter gebeten. „Erhärtet sich unser Verdacht, verweigern wir das Visum, erklären warum und geben eine Broschüre von ‚Angel Coalition’ mit, die Klartext redet.“ Reisebüros, die Visa einholen können, müssen bei der Botschaft registriert sein. 20 von 350 akkreditierten Agenturen sind bereits von der Liste gestrichen worden, weil der starke Verdacht besteht, dass sie sich von Menschenhändlern haben einspannen lassen. Die Maßnahmen zeigen Wirkung: 220 Visagesuche von Frauen mussten im Jahr 2002 abgelehnt werden, 2003 waren es noch 77, 2004 nur 48. „Es hat sich bei den Menschenhändlern herumgesprochen, dass es bei der Schweizer Botschaft schwieriger geworden ist“, sagt Botschafter Bobbià.
Die Initiative wurde auch von Schweizer Vertretungen in anderen Ländern übernommen: Kiew und Bogotà sind dem Beispiel bereits gefolgt. Richtig freuen können sich die Verantwortlichen trotzdem nicht. Denn dieselben Frauen können an irgendeiner anderen Botschaft in Moskau ein Visum beantragen – und illegal über die Grüne Grenze in die Schweiz einreisen.
Doch es gibt Hoffnung: Andere Botschaften fangen an, in Moskau nachzuziehen. Die Vertretungen der Niederlande, Norwegens und Finnlands haben ihre Konsularbeamten bereits in Seminare geschickt. An der deutschen Botschaft ist geplant, die Mitarbeiter im Juni schulen zu lassen, seit Ende Mai liegen auch dort im Warteraum die Broschüren von ‚Angel Coalition‘ auf. In EU-Kreisen gilt Deutschland inzwischen als „vergleichsweise vorsichtig“ bei der Visa-Vergabepraxis.
Neben intensiver Lobbyarbeit, die dazu geführt hat, dass Menschenhandel auch in Russland als Verbrechen gilt, koordiniert ‚Angel Coalition‘ landesweite die Information an Schulen. Und die Engel kümmern sich auch um Rückkehrerinnen, denn für viele Frauen geht der Albtraum in der Heimat weiter. Oft wagen sie sich nicht, ihren Familien unter die Augen zu treten, sind psychisch und physisch lädiert. Die Koalition der Engel hat deshalb 2003 damit begonnen, Auffanghäuser aufzubauen, in denen die Frauen untergebracht und betreut werden können. Bisher gibt es russlandweit neun solche Häuser, die Schweiz plant, den Aufbau weiterer Häuser zu unterstützen. Vor allem abgeschobene Frauen verfügen in der Regel nur über ein Ticket bis Moskau, für die Weiterreise in die ferne Provinz fehlt oft das Geld. ‚Angel Coalition’ nimmt die Frauen in Empfang und finanziert die Weiterfahrt.
Zur Zeit arbeitet die Organisation am Aufbau einer länderübergreifenden Datenbank. Zu den gesammelten Informationen sollen neben den betroffenen Frauen auch NGOs und Behörden aus den Heimat- und Destinationsländern Zugriff haben. Schon jetzt werden Russinnen über die in Deutschland, Belgien und Holland geschaltete Gratis-Telefonnummer 00800/45 50 55 55 direkt mit einer Mitarbeiterin von ‚Angel Coalition‘ in Moskau verbunden und mit lokalen Hilfsorganisationen in Kontakt gebracht. Die Engel planen, Ihr Hilfsnetz über ganz Europa auszubreiten.

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Alexandra Stark, EMMA Juli/August 2005

www.angelcoalition.org
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