Gewalt hat ein Geschlecht

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Wollen wir Männergewalt wirklich bekämpfen, müssen wir ihre Ursachen benennen. Das tun hier die Forscher und Juristen Prof. Dr. Christian Pfeiffer, 55, und Dr. Peter Wetzels, 40. Pfeiffer ist der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Wetzels sein Stellvertreter. Die beiden Forscher veröffentlichen ihre beunruhigenden Ergebnisse in EMMA zum ersten Mal.

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Nach den Vorfällen in Bad Reichenhall, in Meißen und in Bielefeld ist Gewaltkriminalität wieder einmal Thema. Dabei wird in der öffentlichen Debatte ein zentraler Aspekt fast nie erörtert: Alle drei Täter sind Männer. Es bleibt ausgeblendet, daß es weltweit fast nie Mädchen oder Frauen sind, die als Amokläufer wahllos Menschen töten, in einem Anfall von Haß ihre Lehrerin erstechen oder aus "verletzter Ehre" sieben Menschen einer Familie töten.
Tötungsdelikte werden in Deutschland zu etwa 90 Prozent von Männern begangen. Und auch bei anderen Gewalttaten, die mit Waffen begangen werden, wie Raubdelikte oder Körperverletzungen, zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Und noch etwas verdient Beachtung: Diese Gewalt von Männern hat sich seit Mitte der 80er Jahre in den alten Bundesländern fast verdoppelt: knapp jeder 50. junge Mann ist heute aktenkundig bei der Polizei und wird als
Täter verdächtigt – aber nur jede 1000. junge Frau. Bei beiden Geschlechtern steigt die Gewaltbereitschaft, wenn auch bei den Frauen ungleich weniger.
Diese Dominanz der Männergewalt wird auch durch eine Dunkelfeldbefragung bestätigt, die wir im Jahr 1998 durchgeführt haben. In neun verschiedenen Städten Deutschlands haben wir jeweils repräsentative Stichproben von zusammen über 16.000 Jugendlichen zu ihren Erfahrungen mit Gewalt befragt. 23 Prozent von ihnen waren danach im Jahr zuvor Opfer mindestens einer Gewalttat geworden. Auf die Frage nach dem Geschlecht berichteten nur 11 Prozent von Täterinnen. 6,5 Prozent waren Opfer gemischter Gruppen und 82,5 Prozent Opfer männlicher Täter.
Die Jugendlichen wurden von uns auch befragt, ob sie selbst in den letzten zwölf Monaten aktiv Gewalt gegen andere Menschen angewandt hatten. Ja, sagte rund jedes zehnte Mädchen – und knapp jeder dritte Junge. Hinzu kommt, daß die durchschnittliche Zahl der Gewalttaten pro Täter bei den Jungen erheblich höher liegt: So hatte nur jedes hundertste Mädchen, aber jeder zwanzigste Junge zehn und mehr Gewaltdelikte begangen.
Besondere Beachtung verdient, daß die selbst berichtete Gewalt unter jugendlichen Zuwanderern deutlich höher ausfällt als bei einheimischen deutschen Jugendlichen. Besonders klar wird das, wenn man die Raten der Mehrfachtäter mit zehn und mehr Gewaltdelikten betrachtet. Während bei den deutschen Gewalttätern die Rate der Jungen um das 3,5fache über jener der Mädchen liegt, übersteigt sie bei den Türken die der Mädchen um das 7,3fache.
Hinter dem Etikett der "ethnischen Herkunft", so unsere Schlußfolgerung, verbirgt sich – neben sozialen Benachteiligungen und schlechteren Zukunftschancen, von denen auch Mädchen betroffen sind – also auch ein traditionelles, von Dominanz und Gewalt geprägtes Männlichkeitskonzept.
Wie sind die dargestellten Unterschiede der Gewaltbelastung von Jungen und Mädchen zu erklären? Die Erfahrung, von den Eltern geschlagen worden zu sein, erhöht eindeutig die Wahrscheinlichkeit späteren Gewalthandelns. Junge Migranten machen derartige innerfamiliäre Gewalterfahrungen etwa doppelt so oft wie deutsche Jugendliche. Wenn Kinder zudem beobachten, daß ein Elternteil den anderen schlägt, so ist dies eine weitere Prägung. In der Regel handelt es sich in solchen Fällen um Gewalt eines Mannes gegenüber einer Frau. Mit dieser Erfahrung wird Kindern sowohl etwas über das Machtverhältnis der Geschlechter als auch über Gewalt als vermeintlich probates Mittel der Interessensdurchsetzung vermittelt.
Genau an diesem Punkt finden sich dann auch sehr auffallende Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen. Jeder zehnte deutsche Jugendliche mußte in den letzten zwölf Monaten solche Vorkommnisse bei seinen Eltern sehen – und jeder dritte türkische Jugendliche. Die Zahl der von den
Jugendlichen beobachteten innerfamiliären Gewalttaten ist also in türkischen Familien dreimal so hoch wie in deutschen.
Neben solchen familiären Erfahrungen ist die normative Ausrichtung wichtiger Bezugspersonen bedeutsam für die Geschlechtsrolle. In unserer Untersuchung legten wir den Befragten eine Fallgeschichte vor, in der zwei Jugendliche auf dem Schulhof in Streit geraten. Das Opfer wird so sehr geschlagen, daß die Nase blutet und beim Hinfallen zerreißt auch noch die Hose. Die Frage war: Wie schlimm würden die Menschen im sozialen Umfeld es finden, wenn die befragten Jugendlichen selbst in dieser Weise gewalttätig gehandelt hätten?
Es stellte sich heraus: Erstens halten aus der Sicht der befragten Jugendlichen  Erwachsene Jugendgewalt für schlimmer als die gleichaltrigen Freunde. Zweitens lehnen nach Auffassung sowohl der Jungen als auch der Mädchen männliche Bezugspersonen solche Gewaltformen weniger stark ab als weibliche. Drittens gilt für alle sozialen Bezugsgruppen, daß Mädchen für den Fall aktiver Gewalt viel stärker mit Ablehnung rechnen müssen als die Jungen.
In der Summe zeigt sich, daß wir bei der Debatte um Gewalt in Zukunft den Geschlechtsaspekt erheblich stärker gewichten müssen als das bisher geschehen ist. Dabei dürfen uns Regeln der "political correctness" nicht daran hindern, die Dinge beim Namen zu nennen. Bei der von uns nachgewiese-nen, besonders hohen Gewaltbelastung junger Ausländer geht es eben nicht um
nationale Herkunft. Das zeigen die niedrigen Gewaltraten der ausländischen Mädchen. Es geht um ein traditionelles Konzept männlicher Dominanz, von dem junge Ausländer besonders stark geprägt sind.
Christian Pfeiffer/Peter Wetzeles, EMMA 1/2000
Prof. Dr. Christian Pfeiffer, Jurist und Kriminologe, ist der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen; Dr. Peter Wetzels, Jurist und Psychologe, der stellvertretende Direktor. Sie veröffentlichen im Januar 2000 die Studie: "Jugend und Gewalt. Eine repräsentative Dunkelfeldanalyse in München und acht anderen deutschen Städten" (Nomos)

In EMMA u.a. zum Thema:

Amoklauf in Winnenden (3/2009)

Der Stoff, aus dem die Täter sind, Prof. Pfeiffer (4/2002)

Werden aus Erfurt wirklich Lehren gezogen? (4/2002)

Einsame Cowboys (5/2000)

Schule & Gewalt (5/2000)

Was ist ein richtiger Junge? (5/2000)

Gewaltzone Schule (2/2000)

Jagd auf Lehrerinnen (1/2000)

Wie Jungen zu Killern gemacht werden, Dave Grossman (1/2000)

Massaker in Montreal: Kein Zufall (2/1990)

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