Alice Schwarzer schreibt

Sexualität und Identität: Ganz linker Sex

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Ich habe das Thema "Sexualität und Frauenkampf" angegeben, weil ich dachte, damit kann ich nicht schief liegen.

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Nachdem ich nun angefangen habe, mich wieder gezielter in die neueren Publikationen einzulesen, sehe ich, ich liege damit goldrichtig. Es ist sehr selten, dass Sexualwissenschaftler und Feministinnen sich im Gespräch begegnen. Ich bitte also die anwesenden Nichtexperten und -expertinnen um Verständnis dafür, dass ich diese so rare Gelegenheit nutze und mich tatsächlich vor allem an die Sexualwissenschaftler richte.

Ich will mich hier nicht aufhalten mit explizit reaktionären Haltungen und Konzepten, die in diesen progressiven Kreisen nicht oder kaum vertreten sind. Das heißt, nicht mit einer Auffassung von der männlichen und weiblichen Sexualität, die biologistisch begründet ist, also von der Annahme ausgeht, dass Frauen von Natur aus ,,anders" seien, dass sie auch in der Sexualität die Empfangenden, die Passiven seien und die Männer die Aktiven und die Gebenden. Das sind zwar Vorstellungen, die durchaus noch existieren - und vermutlich auch eine Renaissance erleben werden - die aber bei fortschrittlichen Sexualforschern nicht so vorherrschen.

Ich möchte diesen fortschrittlichen Sexualforschern in diesem Lande die Ehre geben, mich mit einem ihrer progressivsten Vertreter auseinander zusetzen. Exemplarisch. Es könnte auch ein anderer sein. Der von mir gewählte ist nicht schlimmer und in einigen Punkten sogar besser als die meisten, gerade darum habe ich ihn gewählt. Es handelt sich um Professor Volkmar Sigusch, zur Zeit noch erster Vorsitzender der "Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung", Leiter der Abteilung für Sexualwissenschaft an der Frankfurter Uni und Autor zahlreicher Publikationen.

Es ist mir bei der Vorarbeit zu diesem Vortrag gegangen, wie es mir immer wieder geht als Feministin. Das heißt, man denkt als Frau doch immer, es wäre etwas passiert. Schließlich reden wir nun seit 10, 15 Jahren und, sicher, die Männer haben das nicht so aufgenommen, wie wir uns das wünschen würden, aber es ist doch nicht ganz an ihnen vorbeigegangen. Als ich anfing, mich wieder in die neueren sexualwissenschaftlichen Texte einzuarbeiten, habe ich darum geglaubt, ich würde wohl sehr subtil argumentieren müssen was ich auch lieber tue, denn das ist für einen denkenden Menschen immer eine Herausforderung.

Gleich vorweg will ich gestehen, dass ich leider nicht viel zum Subtilen kommen werde, ganz im Gegenteil, dass es reichlich brachial zugehen wird - ganz einfach, weil es auf der anderen Seite auch ziemlich brachial zugeht. Es sieht nämlich so aus, dass es heute, 1985, gang und gäbe ist, dass auch und gerade fortschrittliche Sexualwissenschaftler so argumentieren, als hätten Feministinnen speziell oder auch Frauen allgemein in diesen letzten Jahren kein Wort gesagt - und das ist dann, 15 Jahre nach Beginn des neuen Feminismus, gar nicht mehr komisch.

Diese aufgeklärten Männer sprechen zwar nicht mehr von den Frauen, die angeblich so anders seien, nicht von der "weiblichen Natur" auf der einen und der "männlichen" auf der anderen Seite, nein siehe da, sie machen es noch viel besser: sie sprechen überhaupt nicht mehr von den Frauen! Sie reden von der Sexualität "an sich", von der Liebe "an sich": sie setzen Mann gleich Mensch. Die unterschiedliche Prägung, den anderen Alltag und Lebensverlauf, die oft sehr verschiedenen Sehnsüchte und Ängste von Frauen und Männern werden nicht mehr berücksichtigt, sie existieren ganz einfach nicht mehr.

Und wenn sie sehr bewusst Linke sind, da ist auch viel vom Kapitalismus die Rede und sehr viel von der "Verdinglichung der Sexualität", aber der Begriff "Patriarchat" - da kann man sich eine ganze Serie von Lupen anschaffen, den wird man nicht finden. Und das beim Thema Sexualität, in einem Bereich also, der wirklich die Geschlechter-Arena par excellence ist, wo es fundamental zum Tragen kommt, ob man Mann oder Frau ist.

So dass ich den Verdacht äußern möchte, dass meine fortschrittlichen Kollegen sich in ihrer Mehrheit - man möge mir die grobe Verallgemeinerung und die polemische Zuspitzung verzeihen - nur scheinbar und mit dürren Worten gegen die biologistische Argumentation wenden, aber satt zur Aufrechterhaltung der sexistischen Verhältnisse beitragen, indem sie eben nicht sagen, dass es gerade in der Sexualität permanent eine Rolle spielt, ob man nun Mann oder Frau ist und welchen Unterschied es macht.

Ich habe mir den Kollegen Sigusch für die Demonstration ausgewählt, denn ich finde es immer gut, wenn man sich einen würdigen Gegner vornimmt.

Ich möchte zunächst drei Postulate von Sigusch selbst zitieren, weil ich Sigusch nicht nur an meinen Ansprüchen messen möchte, sondern auch an seinen eigenen. Sigusch versucht scheinbar, sowohl der marxistischen Persönlichkeitstheorie das Sein bestimmt das Bewusstsein als auch den neueren Erkenntnissen der fortschrittlichen Sexualwissenschaft gerecht zu werden. Seine Prämissen:

Postulat 1: "Der Mensch ist von Natur gesellschaftlich und seine Sexualität ist es auch. Sexualität ist eine gesellschaftliche Kategorie, Menschensexualität schlechthin, reine Sexualität ist reine Gedankenschöpfung."

Postulat 2: "Zu interessieren hat uns der geschichtlichgesellschaftliche Charakter des Sexuellen."

Postulat 3: "Eine von Geschichts- und Gesellschaftstheorie getrennte Theorie der Sexualität des Menschen ist keine. Wer über Sexualität ernsthaft nachdenkt, hat die ganze Gattungsgeschichte des Menschen und mehr am Hals. (...) Eine Sexualtheorie außerhalb einer umfassenden Persönlichkeitstheorie kann es nicht geben."

Wie wahr!

Nur müsste es doch auch bei einem Sigusch inzwischen angekommen sein, dass es in unserer heutigen Gesellschaft nicht nur entscheidend ist für einen Menschen, welcher Klasse oder Rasse er angehört, sondern auch, welchem Geschlecht!

In den Bereichen Liebe, Sexualität, Vergewaltigung, Prostitution, ja sogar Homosexualität aber wendet Sigusch nicht nur seine eigenen Postulate nicht auf seine Forschung an, sondern ignoriert auch alles, was Frauen in den letzten Jahren und Jahrzehnten von ihrer Erfahrung mit - der eigenen und der männlichen - Sexualität mitgeteilt haben.

Ich meine, dass das nicht nur für die Hälfte der Menschheit, der ich angehöre, nicht nur für die Frauen, sondern dass es für das gesamte kritische Denken und Forschen fatal ist, wenn etwas so Elementares nicht berücksichtigt, überhaupt nicht zu Ende gedacht wird.

Zum Beispiel beim Thema Liebe. Sigusch schreibt in seinem Aufsatz "Das gemeine Lied der Liebe" (in "Vom Trieb und von der Liebe") den Satz: "Kapitalismus und Liebe gehören zusammen".

Ja, gewiss doch. Aber Patriarchat und Liebe gehören auch zusammen, mindestens genauso! Und das ignoriert er vollkommen. Im Jahre 1985! Er selbst macht hier im konkreten genau das, was er abstrakt kritisiert: er redet von der Liebe "an sich". Er berücksichtigt den gesellschaftlichen Charakter der Liebe und ihre entsprechende Funktion nicht. Um es mit Sigusch zu sagen: Wer über Liebe ernsthaft nachdenkt, hat die ganze Gattungsgeschichte des Menschen (inklusive der patriarchalischen Geschichte von Männern und Frauen) und mehr am Hals ...

Sigusch hat anscheinend noch nie gehört, dass Liebe für Frauen und Männer im Patriarchat jeweils fundamental unterschiedliche Inhalte und Konsequenzen haben kann, und dass das kein Zufall ist, sondern Politik: Sexualpolitik. Er schwärmt stattdessen lieber idealistisch von der Liebe, die "kleine Seelen groß" macht, "Leben und Tod in eins" ist oder auch "leicht und kindlich wie ein Abendwind über Ägadien".

Im Namen der Liebe gibt die Mehrheit von Frauen heute immer noch ihre eigene Existenz, ihre Identität auf. Das beginnt mit dem symbolischen Akt der Namensaufgabe ich bin sicher, Herr Sigusch würde sich nicht morgen Neumann nennen, nur weil ein Mensch seiner Zuneigung Neumann heißt. Aber Frauen geben ihren Namen auf (das beginnt sich erst in den letzten Jahren, dank dem Einfluss des Feminismus, zu ändern).

Ihre Existenz, ihre Eigenständigkeit, ihre Interessen. Das drückt sich, wie alles im Leben, auch im Ökonomischen aus, das ja das Fundament von dem allen ist. Im Namen der Liebe leisten Frauen diesen ungeheuren Berg von Gratisarbeit, der in unserer Gesellschaft wie in vergleichbaren Gesellschaften die gleiche Menge ausmacht wie die gesamte Erwerbsarbeit.

Im Namen der Liebe nehmen Frauen es hin (oder genauer: nahmen sie es bisher hin - auch das beginnt sich zu ändern, sogar mächtig), sich in der Erwerbsarbeit nicht nur zurückdrängen zu lassen, sondern sich auch selbst zurückzunehmen aus Rücksicht auf Männer und Kinder, aus Nächstenliebe für Kollegen ("Ich bin nicht so ein Ellbogen-Typ"). Im Namen der Liebe lassen Frauen sich schlagen und vergewaltigen. Im Namen der Liebe wurden und werden Frauen zum Teil noch zu den, was Beauvoir so treffend ein "relatives Wesen" genannt hat: ein Wesen, das nur in Relation, in bezug auf IHN existiert, seine Frau.

So wird wirkliche Liebe vernichtet oder gar nicht erst möglich. Auch Sigusch spricht von der ,, Vernichtung der Liebe". Der Mensch werde "von kleinauf erniedrigt, gedümpelt, entwertet, genötigt, isoliert, leer, voll Angst und ohne Würde". Denn: "Wer tagein, tagaus als Maschine drei Handgriffe machen, wer Jahr um Jahr als Maske nutzlose Waren an den Käufer bringen, wer ein Leben lang als Handlanger tote Akten gegen Menschen führen muss, der kann nicht einfach im Liebesund Geschlechtsleben das Gegenteil" sein.

Richtig. Und wer ein Leben lang als Hausfrau den Mann bedienen und im Bett zur Verfügung stehen oder auf dem Strich sein Geld verdienen musste - was ist mit dem, bzw. der?

Sigusch bedauert unter anderem in seinem Aufsatz über Liebe, dass die Menschen jetzt verstärkt alleine leben und unterstellt, aus freien Stücken würde niemand alleine leben, sein Beispiel: die alkoholabhängige Witwe (übrigens, zu Frauen fallen ihm immer nur die abschreckendsten Beispiele ein). Nun bedauern wir ja alle, dass nicht soviel Liebe auf der Welt ist, wie wir gern hätten - nur für uns Frauen sieht die Liebe eben anders aus als für die Männer, und darum fangen gerade wir an, diese Form von Liebe energisch aufzukündigen.

Jede zweite junge Frau will heute nicht mehr heiraten! Und sie weiß, warum. Ich muss dazu sagen, dass das Zusammenleben aus Liebe für Frauen meist eine verdammt anstrengende Sache ist, es bedeutet viel Arbeit, sehr viele gespülte Teller, sehr viele "Schätzchen, wie geht's denn heute Abend" - sehr viel Hand- und Herzarbeit, sehr viel Selbstaufgabe. Das ist sicherlich einer der Hauptgründe dafür, warum immer mehr Scheidungen eingereicht werden, denn die werden ja überwiegend und zunehmend von Frauen  eingereicht. Und warum immer zögernder geheiratet wird.

Ich möchte behaupten, dass es vor allem Frauen sind, die jetzt bewusst und gewollt alleine leben. Um in die Selbstbesinnung rein - und aus der Dienstmädchenrolle für Männer endlich einmal rauszukommen. Dass Männer dies beklagen, verstehe ich, denn sie hatten vom Zusammenleben aus Liebe bisher mehr Vor- als Nachteile.

Kommen wir zur Sexualität. Sigusch kritisiert die Schlüsse, die Mary Jane Sherfey in ihrem Mitte der 70er erschienenen Buch "Die Potenz der Frau" zieht. Das habe ich mit Zustimmung gelesen. Auch ich halte die angeblich biologisch begründete Omnipotenz und orgastische Überlegenheit der Frau für eine erneute Mystifizierung - diesmal nur unter umgekehrten Vorzeichen. Sigusch merkt an, dass dies sicherlich ein kulturelles Resultat sei, wenn Männer heute real weniger potent, also weniger orgasmusfähig seien als Frauen. Ich schließe mich da voll und ganz an.

Ich freue mich über seine kritische Aufmerksamkeit gegenüber dieser ansonsten sehr schätzenswerten Sexualforscherin an diesem Punkt. Ich würde mich noch mehr freuen, wenn ich in Zukunft diese Aufmerksamkeit in bezug auf die gesamte andere Hälfte der Menschheit - der der Autor ja nicht angehört, aber es ist ja doch der Anspruch eines gesellschaftskritischen Menschen, ab und zu mal über seine Bettkante rauszugucken - und zwar nicht nur in bezug auf die fragwürdigen, sondern auch in bezug auf die bemerkenswerten Aussagen von Frauen, finden würde.

Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass Mann und Frau im Bereich der sexuellen Potenz, der erotischen Energie, der erotischen Phantasie die gleichen Möglichkeiten haben könnten. Die Betonung liegt auf könnten. Denn die Sexualität ist nun mal nicht etwas, was so natürlich vom Himmel fällt, sondern Sexualität ist Produkt der Kultur und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Darin sind Sigusch und ich uns ja auch einig. Im Prinzip.

Mit dem kleinen Unterschied, dass der so gern marxistisch argumentierende Sexualforscher offensichtlich noch nie auch nur eine feministische Zeile gelesen hat (was an sich, aber besonders in der Fachdisziplin schon rein wissenschaftlich unverzeihlich ist!).

Mehr noch: er hat scheinbar noch gar nicht mitgekriegt, dass in unserer Gesellschaft nicht nur das Kapital, sondern auch das Patriarchat herrscht. Er scheint nicht zu wissen, dass auch und gerade in der Sexualität  Mann  nicht  gleich Mensch, sondern Mann oft gleich Unmensch ist (z.B. Vergewaltiger) und Mensch gleich Mann und Frau.

Es kann für uns Frauen trotz alledem auch in der Sexualität nicht darum gehen, immer nur an der Klagemauer zu stehen oder uns nur zu verweigern. Die Verweigerung war und ist ein sehr wichtiges Moment für Frauen, aber sie kann natürlich auch für uns kein Endziel sein. Das wäre doch zu trist, wir wollen ja nicht auch noch unsere eigene Lust opfern auf dem Altar des Patriarchats. Es ist aber eine Realität, dass die sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau objektive Machtbeziehungen sind. Dagegen kann man als Individuum anarbeiten, und es wird auch manchmal - sehr selten, aber immerhin - dieses und jenes erreicht. Aber dies ist eine verdammt harte Arbeit, und es wird da den Einzelnen nichts geschenkt.

Aber allgemeingesellschaftlich ist und bleibt die Sexualität das Terrain, wo die beiden Geschlechter sich corps-à-corps gegenüberstehen: der Hauptexerzierplatz für männliche Dominanz und weibliche Erniedrigung. Das sieht man ja auch in der jüngeren Entwicklung, der zunehmenden Brutalisierung durch Peep-Shows, Porno-Videos etc., wo es Männer erregend finden, dass Frauen buchstäblich in ihre Einzelteile zerlegt werden.

Der ganze Pornomarkt wird immer härter, da tobt der Geschlechterkrieg, also da geht es manchmal wirklich um Leben und Tod. Unter solchen Umständen von der Sexualität "an sich" mit der Blauäugigkeit eines Sigusch zu reden, ist für einen aufgeklärten Menschen ein Unding. Gezielt borniert pickt der "fortschrittliche" Sexualwissenschaftler sich Entwicklungen und Erkenntnisse aus der aktuellen Sensibilisierung in bezug auf die Geschlechterrollen heraus.

Wenn ich bei Sigusch einen Satz lese, wie: "Zunehmend weniger Menschen wissen, wessen Geschlechts sie sind" - dann stimmt etwas daran und gleichzeitig ist es zutiefst reaktionär. Es stimmt, dass, bewusst oder unbewusst, in Stärke oder Schwäche, freiwillig oder zwanghaft, zunehmend mehr Menschen sich weigern, sich dem Diktat der Geschlechtsrollenzuweisung zu beugen. Für diese Etikettierung als "weiblich" oder als "männlich" ist das biologische Geschlecht ja nur ein Vorwand.

Diesen Widerstand verdanken wir primär dem neuen Feminismus: Frauen haben - wieder einmal - angefangen, laut zu sagen: wir begnügen uns nicht mehr mit dem Teil, den man uns zugesteht, wir wollen ganze Menschen sein. Aber das geht nicht einfach, indem man den zwar nicht an geborenen, aber real existierenden und vom Patriarchat täglich neu erzwungenen Unterschied leugnet. Denn wir Frauen haben eine von Männern enorm unterschiedliche Lebensrealität. Wenn ich zum Beispiel abends durch die Straßen gehe, und es kommt mir im Dunkeln einer Nebenstraße ein Mann entgegen, weiß ich sehr gut, was ich für ein Geschlecht habe.

Es gibt Momente, da reiße ich das Maul auf wie ein Kerl, aber wenn ich abends auf der Straße bin, und es kommt mir ein echter entgegen, dann weiß ich, dass ich "nur" eine Frau im Patriarchat bin. Schnell und dezent wechsle ich die Straßenseite. Dabei versuche ich geflissentlich, nicht wie ein Opfer zu wirken, große Schritte zu machen, die Schultern nach vorn zu schieben. Diese permanente Angst und Anstrengung kennt kein Mann ... "Der Mensch ist von Natur gesellschaftlich." (Sigusch) Und die Frau ist es auch. Und ihre Sexualität ebenso.

Gerade in den Sexualwissenschaften muss eine wirklich radikale, an die Wurzeln gehende Forschung all das wissen - und sie könnte es auch wissen, denn wir Frauen haben in den Bereichen Sexualität und Gewalt sehr, sehr viel dazu gesagt, was es bedeutet, heute eine Frau zu sein. Welche Ängste wir haben müssen aufgrund der Realität, welchen Erniedrigungen und Beschmutzungen wir ausgesetzt sind. Welche Hoffnungen und Sehnsüchte uns dennoch bewegen.

Gerade im Bereich Sexualität von der Sexualität "des Menschen an sich", statt von der der Frauen und der der Männer zu sprechen, ist noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Das ist schlicht reaktionär und gehört in den Papierkorb. Es ist darum nur folgerichtig, dass zum Beispiel ein pseudo-progressiver Autor wie Sigusch sich zum Problem der Vergewaltigung ungehemmt patriarchalisch äußert.

In seinem Kapitel über Vergewaltigung ist sein quasi erster Satz "Frauen vergewaltigen Männer, was technisch komplizierter ist, aber es kommt vor". Das musste mal gesagt werden ...

Da wird also suggeriert, selbst Vergewaltigung, diese höchste Eskalation des Gewaltverhältnisses zwischen den Geschlechtern, sei etwas geschlechtsneutrales, sei etwas, das eben vorkommt zwischen Menschen. Da gibt es Frauen, die Männer vergewaltigen, und da gibt es eben auch Männer, die Frauen vergewaltigen.

Sigusch wörtlich zur Vergewaltigung: "Indem der Vergewaltiger die Devise wahrmacht, nach der der Mensch nur dann zählt, und nur so viel, sofern und inwieweit er benutzbar ist, variiert er das Generalmotto ,Nach uns die Sintflut'. Die Aufklärer müssen tief in die Fetischkiste greifen, um den Betroffenen weiszumachen, das alles habe nicht mit der allgemeinen Verdinglichung zu tun. Warum der kleine, bisher ebenso graue wie unbescholtene Angestellte rudelhaft zum Vergewaltiger übergegangen ist, wird dabei so klar beantwortet werden, wie es eine Kloßbrühe ist." - Ganz klar!

Nicht zufällig wird hier der sich als links verstehende Sexualforscher so unklar. Die Aufklärer in Sachen Vergewaltigung, die er hier kritisiert, sind übrigens Aufklärerinnen. Aber er scheint sie nie gelesen zu haben. Er begnügt sich damit, über diese so zentrale sexistische Problematik seine vulgär-marxistische Soße zu gießen. Ich sage sehr bewusst: vulgär-marxistisch. Weil: mit marxistischer Analyse hat dieses aufgesetzte Gerede von der Verdinglichung und vom Fetisch eben nur noch herzlich wenig zu tun. Marxistisch im besten Sinne wäre es, die Vergewaltigung als zwangsläufigen Ausdruck des Machtverhältnisses zwischen den Geschlechtern zu begreifen.

Zur Vergewaltigung haben Frauen in dem letzten Jahrzehnt viel, sehr viel geschrieben. Es genügt, dazu das Standardwerk des neuen Feminismus, "Gegen unseren Willen" von Susan Brownmiller zu lesen, um zumindest soviel von der Problematik zu verstehen, wie es Heiner Geißler zum Beispiel schon lange verstanden hat. Vergewaltigung hat selbstverständlich auch etwas mit der "Verdinglichung" des Menschen, bzw. der Frauen zu tun,es hat vor allem aber etwas mit dem Machtverhältnis zwischen Frauen und Männern zu tun. Vergewaltigung ist das Damoklesschwert, das Tag und Nacht über jeder Frau schwebt. Vergewaltigung ist Krieg von Männern gegen Frauen, individuell wie kollektiv.

Da kann eine Frau noch so viel Jiu-Jitsu-Kurse gemacht haben, die Karriere kann noch so steil sein, sie kann "bürgerlich" oder "proletarisch", schwarz oder weiß, sie kann zwei Jahre alt sein oder 82 Jahre die Vergewaltigung im Ehebett oder auf der Straße ist jederzeit möglich. Wir Frauen müssten jedem Manne dankbar sein, der es nicht tut: das ist ein netter Mann.

Ich selbst habe zwei zum Glück verhinderte Vergewaltigungsversuche hinter mir. Ich weiß, wie die meisten Frauen, dass jeder Vergewaltigungsversuch wie jede Vergewaltigung mit einer Todesdrohung verbunden ist, möglich aufgrund der anerzogenen häufigen körperlichen Überlegenheit von Männern und der Hemmungslosigkeit des Mächtigen gegenüber dem "schwachen" Geschlecht. Da ist das Gesicht, dem man einfach ansieht: dem kommt es nicht darauf an. Sexueller Notstand, armes Schwein, problematisches Verhältnis zu seiner Mutter - maximal drei Jahre, spätestens nach zweien kommt er raus. Wenn das Opfer es überhaupt wagt, ihn anzuzeigen. Das nennen wir Männerjustiz.

Ich komme zur Prostitution. Die Sigusch'sche Argumentation ist hier nur folgerichtig: In seinem Gesamttext über Prostitution (geschrieben, weil Sigusch in Frankfurt nach seiner Meinung über die Sperrbezirke gefragt wurde: Soll man das Bahnhofsviertel sperren? Soll man Peep-Shows schließen oder nicht?) bezieht er fast ausschließlich die Position des möglichen - Freiers.

Seine Argumentation ist, ganz kurz gesagt, sexuelle Prostitution sei nicht skandalöser als die allgemeine Prostitution im Kapitalismus. Die Freier seien in Wahrheit arme Schweine, von der freien Marktwirtschaft verführt, oder, wie die Türken, bigott "zur Enthaltsamkeit gezwungen". ("Wo geht es denn ehrlicher zu? Man löhnt ein paar Scheine und darf etwas tun, was sonst nicht möglich ist.") Und: wo sei schon der Unterschied zwischen der Arbeit einer Prostituierten und der einer Verkäuferin, oder der Situation einer Publizistin und der einer Ehefrau?

Nun, es ist wahr, dass es Feministinnen waren, die vor 15 Jahren als erste gesagt haben: auch der eheliche Beischlaf sei aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses der Ehefrau vom Manne oft Prostitution. Ein Satz, den wir aber gleichzeitig differenziert haben. Denn gerade im Zusammenhang mit der sexuellen Prostitution schiene mir als Feministin nichts unverantwortlicher als diese Art von Gleichsetzung. Das ist, als würde man sagen: das Leben im Manchester-Kapitalismus sei für eine/n Arbeiter/in eigentlich das gleiche wie das im Jahr 2000 - Kapitalismus.

Es ist so wahr wie banal, dass man sich als Mensch, als Frau und als Mann, auch in anderen Zusammenhängen zu prostituieren hat. Es ist selbstverständlich, dass es nicht um Verurteilung von Prostituierten gehen kann, sondern nur um Verurteilung von Prostitution, das heißt: der Verhältnisse, in denen Menschen sich über Menschen erheben, glauben, einen Menschen, seine Haut, seine Seele kaufen zu können.

Ich empfehle Sigusch und Genossen zum Beispiel die Lektüre von Kate Milletts "Das verkaufte Geschlecht", und ich empfehle ihnen Gespräche mit Frauen, die sich prostituieren oder sich prostituiert haben. Vielleicht ahnen sie dann, in welchem Maße hier Körper und Seele angefasst und zerstört sind. Es geht einfach nicht an, dass hier im Namen einer allzu glatten, für Männer nur allzu praktischen, schnoddrigen linken Analyse die Unerhörtheit der Prostitution einfach gleichgesetzt wird mit anderen Formen von l Ausbeutungsverhältnissen (Sigusch: "In den Peep-Shows geht es unmittelbarer und sauberer zu als in den Verlagen, Kranken-, Kauf-, Funkhäusern und anderen Betrieben, die ich ein wenig kenne.").

Klar, dass er auch noch der plumpesten Männer-Mär, der von der eigentlichen Überlegenheit der Prostituierten, ihrer Mystifizierung, aufsitzt, bzw. glaubt, wir würden ihr immer noch aufsitzen, nämlich der Mystifizierung der : Prostitution. Sigusch: "Dabei wissen wenige Frauen so gut wie Prostituierte, am ehesten noch Psychoanalytikerinnen, wie klein und lächerlich das männliche Geschlecht ist..."

Wenige wissen auch so gut, wie mächtig und ernstzunehmend das männliche Geschlecht ist! Reale Erfahrungen mit Freiern und Zuhältern lassen da früher oder später den so verständlichen Illusionen und dem barmherzigen Selbstbetrug keinen Raum mehr.

Ich fasse zusammen: Es geht nicht an für einen gesellschaftskritischen, aufklärerisch arbeitenden Menschen, die Hälfte der Menschheit auszublenden oder - noch schlimmer, weil schwerer durchschaubar - einfach zu subsumieren unter die Männer. Und das geht schon gar nicht in einem Bereich, in dem es fundamental in jedem Moment zum Tragen kommt, ob der Mensch ein Mann ist oder eine Frau. Wenn ein Sexualwissenschaftler das heute immer noch nicht weiß, muss er es lernen, und zwar ganz schnell. Denn sonst ist er in den Augen der Frauen nicht nur nicht ernstzunehmen - oder gar zu bekämpfen -, sondern er kann auch überhaupt nicht konsequent und gründlich forschen und therapieren.

Ich möchte diese Behauptung ganz kurz am Beispiel der Homosexualität verdeutlichen. Am Beispiel der männlichen Homosexualität. Denn wenn Sigusch von "Homosexualität" an sich spricht, meint er in Wahrheit immer nur die männliche.

Da scheint es übrigens einen Rückschritt in der Sexualwissenschaft zu geben. Wenn man die Texte aus den 20er Jahren liest, dann heißt es immer "homosexuelle Frauen und Männer". Aber in der heutigen Sexualforschung sind Frauen lesbisch, und dann gibt es die Homosexualität an sich das sind dann immer Männer. Hier wiederholt sich also das Grundmuster. Mann gleich Mensch.

Und dann gibt es da noch die Variante Frau, bzw. es gab sie. Jetzt taucht sie erst gar nicht mehr auf. Dabei soll hier mal kurz angemerkt werden, dass im Patriarchat - und das haben wir ja unstreitig, oder? - die männliche Homosexualität der Zusammenschluss zweier Herrschender ist (so relativ das auch manchmal sein mag), und die weibliche Homosexualität der Zusammenschluss zweier Beherrschter. Dies nur, um anzudeuten, dass es sich bei der weiblichen und der männlichen Homosexualität natürlich um etwas sehr unterschiedliches handelt! Auch, wenn es Gemeinsamkeiten gibt (vor allem im Heter(r)or) und diese nicht geleugnet, sondern selbstverständlich gemeinsam bekämpft werden sollen.

Was ich an den Sigusch-Texten über Homosexualität darüber hinaus vermisse, ist: die Kritik an der herrschenden Dominanz der Heterosexualität und die Analyse, wem diese "Normalität" nützt. Es steht nicht zufällig bei Sigusch ein Satz wie: "Homosexualität ist ohne Verfolgung nicht zu denken". Es steht eben nicht gleichzeitig da: Homosexualität ist ohne Zwangsheterosexualität nicht zu denken!

Sein Credo: "Die Diskriminierung der Homosexuellen muss enden." - Ja. Aber ist das alles? Geht es nicht auch und darüber hinaus um den Kampf gegen den Heter(r)or? Um die Analyse der politischen Funktion der Zwangsheterosexualität eben auch und gerade in bezug auf das Geschlechterverhältnis (wie ich selbst es in Ansätzen in "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen" versucht habe)?

Ich finde Siguschs Haltung gerade in der Frage der Homosexualität auffallend legitimatorisch und reformistisch. Ihm geht es letztendlich um Tolerierung von Homosexualität, mehr nicht. Ich halte es auch für keinen Zufall, dass Sigusch gerade hier so stecken bleibt im Denken und keinen wirklich radikalen Zugriff auf die Problematik hat. Er ist eben trotz alledem ein in der Wolle gefärbter Patriarch und denkt immanent.

Ich hoffe, das war nur - wieder einmal - der Anfang einer direkten kritischen aber vielleicht auch fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen Feministinnen und patriarchalischer Sexualwissenschaft. Lassen Sie mich Ihnen und dem hier anwesenden Vorsitzenden der Gesellschaft, Volkmar Sigusch, zum Abschluss sagen, dass ich mich freue und dafür danke, dass die Sexualwissenschaftliche Gesellschaft mir die Gelegenheit gegeben hat, ihr mal vors Schienbein zu treten.

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